Tornados: »Ich möchte nicht dabei sein, wenn so etwas passiert«
Ein ganzer Schwarm an Tornados hat im Dezember in den USA eine Verwüstung gigantischen Ausmaßes angerichtet. Sechs Bundesstaaten waren betroffen. Allein in Kentucky sind mindestens 70 Menschen ums Leben gekommen. Was weiß man bisher über die Stärke der Tornados? War eine ungewöhnliche Wetterlage die Ursache? Und könnte es uns in Deutschland genauso treffen? Ein Gespräch mit dem Meteorologen Thomas Sävert.
Herr Sävert, Sie haben schon unzählige Tornados und deren unglaubliche Zerstörungskraft gesehen. Was dachten Sie, als Sie die aktuellen Bilder aus den USA erblickt haben?
Thomas Sävert: Ich war zunächst erstaunt über die Größe des erfassten Bereichs, der ist wirklich enorm – auch wenn man jetzt noch keine genauen Angaben dazu hat. Auf jeden Fall hat wohl einer der Tornados dieses Ausbruchs eine sehr weite Strecke zurückgelegt und auch in großer Breite extreme Schäden angerichtet. Grundsätzlich bin ich im ersten Moment vorsichtig, was Einschätzungen betrifft, aber bereits bei den ersten Bildern war klar, dass hier mindestens die Stärke F4 auf der Fujita-Skala erreicht wurde.
Das sind Windgeschwindigkeiten jenseits von 300 Kilometern pro Stunde.
Richtig. Genaues muss man vor Ort untersuchen. Hierzu sind Teams vom US-Wetterdienst in die Gebiete geschickt worden, denn es besteht an mehreren Stellen der Verdacht, dass ein heftiger Tornado zeitweise auch die Stärke F5 erreichte. Das wäre dann wirklich extrem.
»Die Häuser stürzen dann nicht nur ein, sondern werden komplett verfrachtet«
Dies entspräche der höchsten Schadensklasse, die von Windspitzen von weit über 400 Sachen ausgelöst werden. Wissen Ihre Kollegen in den USA mittlerweile, wie viele Tornados es waren?
Es gab einen ganzen Schwarm an Tornados, wie viele es genau waren, ist unklar. Der amerikanische Wetterdienst spricht aktuell von 64 solcher Wirbelstürme, aber das sind vorläufige Zahlen. Sicher ist nur: Nicht alle waren so extrem wie der in Kentucky. Die schrecklichen Bilder stammen aus Mayfield im Westen des Bundesstaats, wo ein Amazon-Lager und eine Kerzenfabrik teilweise zerstört wurden. Das sieht wirklich schlimm und mindestens nach einem F4-Schaden aus. Bei einem F5 wären die Trümmer wahrscheinlich stärker abgetragen worden. Dafür habe ich Bilder von anderen Stellen, wo die Verwüstungen in Richtung F5 gehen. Die Häuser stürzen dann nicht nur ein, sondern werden komplett verfrachtet. Übrig bleibt nur das Fundament. Die Amerikaner nennen das »Blown-away«. Zudem werden Bäume bei diesen Kräften komplett entrindet.
War dieses Ereignis das, was man ein Worst-Case-Szenario nennt: ein schlimmer Ausbruch mitten in der Nacht?
Die Dunkelheit war ein weiteres Problem, in der Nacht kann man schlechter vor Tornados warnen. Einzig bei dem großen Tornado, der längere Strecken durch Kentucky zurückgelegt hat, gab es Vorwarnungen. Viele Menschen konnten sich dadurch in Sicherheit bringen, sonst wären die Opferzahlen noch höher. Trotzdem sind wohl mehr als 100 Tote zu beklagen.
Das ist tragisch, aber haben sich die Zahlen durch die Vorhersagen gebessert?
Früher gab es mitunter viele hunderte Tote bei solchen Ausbrüchen. Solche extremen Fälle gibt es heute nicht mehr so häufig. Da hat sich viel getan, die Todeszahlen sind deutlich zurückgegangen – durch verbesserte Vorhersagen und Vorwarnungen. Außerdem werden Radio- und Fernsehprogramme sofort unterbrochen.
Wie kann man Tornados in der Dunkelheit aufspüren?
Eigentlich sind selbst solche »Brummer«, wie wir sie jetzt erlebt haben, für das Radar viel zu klein. Die Auflösung ist zu schlecht. Doch man sieht auf den Bildern die Rotation dieser Gewitterzellen, zeitweise konnte man regelrecht erkennen, wie sich das ganze System einkringelt – Hakenecho nennen wir so etwas. Wirklich extrem war aber, dass die Trümmer, die durch die Luft gewirbelt wurden, auf den Radarbildern als Trümmerwolke zu sehen waren. Das gibt es nur bei starken Tornados, die große Schäden anrichten.
Die Trümmer sind neun Kilometer hochgewirbelt worden – fast bis an den Rand der Troposphäre. Haben Sie so etwas schon einmal erlebt?
Mit speziellen Radargeräten kann man so etwas verfolgen, aber das wurde früher nicht gemacht. Insofern ist es schwer, einen Vergleich zu ziehen. Ich habe es in dieser Form allerdings noch nicht gesehen.
Die meisten Tornados treten in den USA von März bis Juni auf. Hat Sie der Ausbruch so spät im Jahr und mitten im Dezember überrascht?
Nicht wirklich. Die Hauptzeit, in der Tornados auftreten, ist von März bis Mitte Juni, richtig – vor allem in der so genannten »Tornado Alley« im Mittleren Westen. Doch wir sind hier in einer anderen Gegend. Die Region um Illinois und Kentucky ist üblicherweise erst später im Jahr betroffen, das gilt auch für den Südosten der USA. Zu dieser Jahreszeit treten dort seltener solche Ausbrüche auf. Über das Ereignis an sich war ich also nicht überrascht; über das Ausmaß und die Zahl der aufgetretenen Tornados aber schon.
»Ich habe es in dieser Form noch nicht gesehen«
In einigen Teilen der USA war es im Dezember viel zu warm, fast sommerlich. War diese Wetterlage für den Ausbruch verantwortlich?
Die Wetterlage war extrem. Es gab starke Höhenwinde, dabei strömte sehr feuchtwarme Luft vom Golf von Mexiko nach Norden, gleichzeitig wehte in der Höhe arktische Kaltluft von den Rocky Mountains heran. Dadurch entwickelten sich langlebige und starke Gewitter, so genannte Superzellen, mit einem beständig rotierenden Aufwind und einer starken Windscherung mit der Höhe, also einer Änderung der Windrichtung. Eine dieser Superzellen ist einmal quer von Südwest nach Nordost gezogen und hat nicht nur Schäden durch Tornados verursacht, sondern auch durch Sturm und Hagel.
Ist diese Konstellation typisch für La-Niña-Jahre?
Während des Wetterphänomens La Niña kann so etwas häufiger vorkommen. Doch wir können dieses eine Ereignis nicht darauf zurückführen – genauso wenig wie auf den Klimawandel.
Tornado-Detektive sind bereits in den zerstörten Regionen unterwegs, um die Schäden zu begutachten. Was inspizieren sie dort? Und was erhoffen sie sich davon? Man sieht ja, dass alles kaputt ist.
Dass alles kaputt ist, sieht man auf den ersten Blick, das stimmt. Aber nicht, wie stark das Ereignis genau war und wodurch etwas zerstört wurde. Vor Ort schauen die Experten, welche Schäden im Detail aufgetreten sind. Sie analysieren, ob diese nur durch den Tornado verursacht wurden oder ob auch Fallböen beteiligt waren. Das ist auch für künftige Ereignisse wichtig. Das wird sich allerdings noch Wochen bis Monate hinziehen.
Klären Sie uns bitte auf: Wie kann man vor Ort in diesem ganzen Durcheinander erkennen, ob ein Tornado die Stärke F3, F4 oder F5 hatte?
Es gibt einen genauen Katalog darüber, welche Schäden bei welcher Stärke auftreten. Letzten Endes ist die Tornadoskala keine Skala der Windgeschwindigkeiten, sondern eine der Schäden. Das heißt, man schaut vor Ort, welche Zerstörungen aufgetreten sind, und schließt dann auf die Stärke des Tornados. Denn Messwerte hat man in der Regel ja nicht, höchstens durch mobile Radargeräte. Das läuft hier in Deutschland nicht anders: Man fährt hin und schaut sich an, ob eine Schneise vorhanden ist, ob Gegenstände gegen die Zugrichtung verfrachtet wurden oder in welche Richtung die Bäume gefällt sind. Ein Kreismuster ist eindeutig, das muss dann ein Tornado gewesen sein – und auch die Verfrachtung über Kilometer hinweg ist ein klares Indiz. Das macht eine normale Böe nicht. Die Entrindung ist ein typisches Anzeichen für einen Tornado der Stärke F4. Durch den Sandstrahleffekt schmirgeln Kleinsttrümmer die Rinde förmlich ab.
Sie gehören der Tornadoliste an, einer Gruppe von Meteorologen, die solche Analysen auch hier zu Lande vornimmt. Haben Sie häufig mit solchen Fällen zu tun?
Wir haben einen ähnlichen Fall im Juni 2010 untersucht. Damals zog am Pfingstmontag eine Superzelle über Ostdeutschland, die eine Strecke von mehr als 100 Kilometern zurücklegte und mehrere Tornados auslöste. Am Ende hat sich herausgestellt: Es gab ein Sammelsurium aus mehreren Tornados, aus Gewitterböen und anderen Wetterereignissen. So etwas lässt sich letzten Endes auch vor Ort kaum noch klären, dazu muss man zusätzlich Luftbilder auswerten. So etwas ist immer eine Sisyphusarbeit. Passiert es im Dunkeln, fehlen auch noch Augenzeugenberichte. Die Sicht ist bei feuchtwarmer Luft ohnehin schlecht, das macht es umso gefährlicher.
So genannte »Stormchaser« versuchen diese Beobachtungslücke zu schließen, indem sie nahe an Gewittertürme heranfahren und sie filmen. Waren in Kentucky Stormchaser unterwegs?
Es waren einige unterwegs, Aufnahmen davon sind im Netz. Aber ganz ehrlich: Man sollte es in diesem Fall lieber lassen. Bei einer solchen Wetterlage durch die Dunkelheit zu fahren, davon kann ich nur abraten. Allein der Trümmerflug ist lebensgefährlich, selbst bei schwachen Tornados.
Mittlerweile hat sich herumgesprochen, dass es Tornados auch in Deutschland gibt. Wie viele treten im Durchschnitt auf?
30 bis 60 davon gibt es jedes Jahr in Deutschland. Die guten Beobachtungen reichen aber nur 20 Jahre zurück. Dazu kommt eine dreistellige Zahl von Verdachtsfällen, die nicht geklärt sind. Verglichen mit Texas, das etwa doppelt so groß ist wie Deutschland, liegen wir ungefähr in derselben Größenordnung. Im langjährigen Mittel gibt es in dem US-Bundesstaat 115 Tornados pro Jahr.
»Es ist noch nicht ins Bewusstsein der Menschen gedrungen, dass Deutschland ein Tornadoland ist«
Und auch ähnlich starke Tornados wie in den Südstaaten der USA?
Im Prinzip ja. Die Verteilung von F1 bis F5 ist im Vergleich ziemlich ähnlich.
Das wird viele Menschen überraschen.
Es ist noch nicht ins Bewusstsein der Menschen gedrungen, dass Deutschland ein Tornadoland ist. Wir hatten schon einige starke Exemplare in Deutschland. 1979 wütete ein F4 in Brandenburg, da sind tonnenschwere Mähdrescher durch die Luft gewirbelt worden. 1968 ist ein F4 durch Pforzheim gezogen. Damals wurde ein Autohaus getroffen, vom Ausstellungsgebäude aus Stahlbeton stand nur noch das Grippe – die Autos waren weg. Ich möchte nicht dabei sein, wenn so was passiert.
Der schlimmste anzunehmende Fall wäre, wenn ein solcher Sturm durch eine Großstadt zöge – hier wie in den USA.
Sollte ein solch starker Tornado durch eine Großstadt ziehen, wird es eine schlimme Katastrophe geben – egal ob in Berlin oder Dallas. Im Jahr 2004 zog ein F2 durch Duisburg, Oberhausen und Essen. Es gab viele Verletzte und 100 Millionen Euro Schaden. Wäre der nur eine Stufe stärker gewesen, hätte man mit vielen Toten rechnen müssen.
Sind die deutschen Behörden auf ein solches Szenario vorbereitet?
Nein. Einzelne Feuerwehren und Rettungskräfte spielen solche Szenarien während Übungen durch. Aber wirklich vorbereitet sind wir auf solche Katastrophen nicht.
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