Trächtigkeit im Tierreich: Viele Wege führen zur Geburt
Die Tragezeit eines Pandaweibchens ist fast so wenig vorhersagbar wie ein Lottogewinn. Ein Elefantenbaby entwickelt sich nahezu zwei Jahre lang im Leib seiner Mutter. Sumpfwallabys hören nie auf, tragend zu sein. Und das Neunbinden-Gürteltier bringt fast nur Vierlinge zur Welt: Im Tierreich gibt es die schillerndsten Varianten der Vermehrung, eine sagenhafte Vielfalt hat sich im Lauf der Evolution herausgebildet.
Für all das musste die Evolution erst eine neue Methode entwickeln, um Nachwuchs auf die Welt zu bringen: weg vom Eierlegen, hin zur Lebendgeburt. Die Viviparie, so der Fachbegriff, ist kein Gegenentwurf, sondern vielmehr eine Erweiterung der Eiablage. Auch bei der Lebendgeburt entsteht das neue Wesen ja zunächst aus einem Ei. Der Unterschied liegt in der Frage: Werden die Eier vom Weibchen gelegt, damit das Jungtier außerhalb des Körpers heranreift? Oder werden sie im Leib behalten?
Wann die Entwicklung zur Lebendgeburt begann, ist unklar. Den bislang frühesten Nachweis fanden Forschende im Fossil eines fischähnlichen Wirbeltiers, das vor rund 380 Millionen Jahren lebte und einen Embryo im Leib trug. Damit tauchte die Viviparie lange vor dem Ursprung der Säugetiere auf, also vor mehr als 230 Millionen Jahren. Das heißt: Lebend zu gebären ist zwar typisch für Säuger, aber kein Alleinstellungsmerkmal. Die Lebendgeburt hat sich unabhängig in verschiedenen Tiergruppen entwickelt. Es gibt sie bei Riesenschlangen und Haien, aber auch bei wirbellosen Schnecken. Zudem bringen nicht alle Säuger lebende Jungen zur Welt. Schnabeltiere und Ameisenigel legen Eier und sind damit dem evolutiven Weg ihrer Wirbeltierklasse nicht gefolgt.
»Wenn sich eine Strategie in so vielen unterschiedlichen Spezies festsetzt, muss sie einen mächtigen evolutiven Vorteil bedeuten«Mathias Glaubrecht, Evolutionsexperte
Nur: Wieso ist die Lebendgeburt überhaupt entstanden? Wieso blieb die Evolution nicht beim Eierlegen? »Wenn sich eine Strategie in so vielen unterschiedlichen Spezies festsetzt, muss sie einen mächtigen evolutiven Vorteil bedeuten«, sagt Matthias Glaubrecht, Evolutionsexperte und Professor an der Universität Hamburg. Glaubrecht erforscht vor allem lebendgebärende Schnecken, um den Mechanismus der Viviparie zu verstehen.
Ein Junges auszutragen ist für das Muttertier Kraft raubend, es kann weniger schnell fliehen oder weniger schnell jagen. Worin also liegt der Vorteil? »Im Körper kann der Nachwuchs ungestört heranreifen, auch über eine sehr lange Zeit«, sagt Glaubrecht. »Er kann ein großes Hirn entwickeln und ein Abbild seiner Elterntiere werden, so dass Nestflüchter nur Stunden nach der Geburt im Stande sind, ihren Müttern zu folgen.«
Mehrere Gelbkörper für einen Elefanten
Besonders lang tragen Elefanten ihre Jungen aus: Sie behalten ihre Jungtiere rund 22 Monate im Leib. Dass sie ihren Nachwuchs so lange austragen können, liegt an einer hormonellen Besonderheit, die bislang bei keinem anderen Säugetier gefunden wurde.
Die Tierärztin Imke Lüders vom Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) entdeckte 2012, dass Elefanten während ihrer Tragezeit mehrere Gelbkörper ausbilden, obwohl sie nur ein Junges im Leib haben. Gelbkörper entwickeln sich nach dem Eisprung aus jenem Follikel, in dem die Eizelle im Eierstock herangereift ist. Sie produzieren Progesteron, ein Hormon, das die Trächtigkeit aufrechterhält. Bei allen anderen Säugern entspricht die Anzahl der Gelbkörper der ihrer befruchteten Eizellen – nicht aber bei den Elefanten.
Dafür sind neugeborene Elefanten auch besonders reif, erklärt Thomas Hildebrandt, ein Kollege von Lüders, der an der Entdeckung des zweiten Gelbkörpers beteiligt war. Er leitet am IZW die Abteilung für Reproduktionsmanagement und ist einer der führenden Experten der Reproduktionsmedizin. Neugeborene Elefanten können praktisch alles, was auch ein ausgewachsener Elefant kann: Sie beherrschen von Geburt an die Technik, ihren Rüssel einzusetzen, ein hochkomplexes Werkzeug. Ganz anders als menschliche Babys, die ihre Hände erst noch trainieren müssen.
Da Elefanten rund 16 Stunden am Tag fressen, wandern sie täglich zwischen 10 und 30 Kilometer, manchmal auch 100. Sie könnten sich keine inkompetenten Babys leisten, sagt Hildebrandt. Interessanterweise werden die Jungen stets zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens geboren: »Wenn nicht, dann ist irgendwas schiefgegangen. In Zoos kann das anders sein, weil vielleicht die Mutter gestresst ist.« Nach der Geburt sind die Jungtiere etwa zwei Stunden lang blind, bis zum Sonnenaufgang. Danach sind ihre Augen funktionstüchtig. Und alles andere auch.
Pandas und die »cryptic female choice«
Der Große Panda hingegen hat sich auf das Gegenteil spezialisiert: Er bringt hilflose Frühchen zur Welt, die gerade mal so viel wiegen wie eine Tafel Schokolade. Pandababys können die ersten sechs Wochen nicht sehen und zwei Monate lang nicht hören. Selbst ihre Ausscheidungen werden sie nur los, wenn die Mutter ihnen den Bauch massiert. Pandas tragen ihre Jungen nur etwa einen Monat lang aus. Dieser Countdown startet allerdings erst, wenn sich die befruchtete Eizelle in der Gebärmutter eingenistet hat. Und das kann dauern.
Jedes Weibchen hat eine individuelle Tragezeit zwischen 90 und 120 Tagen, in Ausnahmefällen erreicht sie sogar 300 Tage. Man weiß also nie, wann die Geburt losgeht. Einer der Gründe dafür ist die so genannte Keimruhe, die es auch bei anderen Säugetieren gibt, etwa bei Rehen. In der Keimruhe bleibt ein befruchtetes Ei so lange inaktiv, bis der Moment für die Einnistung günstig ist.
Bei Pandas kommt ein zweiter Faktor hinzu. Hildebrandt nennt den englischen Fachbegriff »cryptic female choice«, zu Deutsch in etwa: verheimlichte Partnerwahl. Die Tiere haben demnach die Wahl, ob sich die Investition in ein Baby lohnt. Das hängt von ihrer Lebensgrundlage ab, dem Bambus. Wenn diese Pflanzen blühen, sterben sie ab. Der Niedergang betrifft gleich ganze Wälder, aber es ist ungewiss, wann er einsetzt. Pandas müssen dann gigantische Distanzen überwinden, um neue Wälder zu finden, und belasten sich in dieser Zeit lieber nicht mit einem Jungtier. Hat sich aber eine Eizelle erst einmal eingenistet, gibt es kein Zurück: Dann kommt einen Monat später ein winziger Panda zur Welt.
Von Hebammen und Höllenschmerzen
Haben Menschen die Geburtshilfe erfunden? Keineswegs. Bonobos lassen sich ebenfalls von Hebammen helfen. 2018 entdeckte ein italienisch-französisches Forschungstrio, dass sich an einem Geburtsvorgang mehrere Weibchen beteiligen. Dabei sind Bonobos durchaus in der Lage, allein zu gebären.
Dies war zwar die erste Studie ihrer Art, auch wurden nur drei Geburten beobachtet, überdies bei Bonobos in Gefangenschaft. Doch die Ähnlichkeiten zwischen menschlicher und tierischer Geburtshilfe waren unübersehbar. Mehrere Weibchen scharten sich um das Muttertier, schirmten es ab, wedelten ihm Luft zu oder verscheuchten Fliegen. Als das Junge im Geburtskanal auftauchte, streckten sie ihre Hände aus und hielten sie unter das Geschlecht der werdenden Mutter. Vor allem zwei Weibchen schienen versierte Hebammen zu sein. Sie griffen nach dem Kopf des Jungtiers und halfen ihm auf die Welt.
Eine ähnliche Beobachtung machte zwei Jahre später ein chinesisches Forschungsteam in freier Wildbahn und bei einer anderen Primatenart, der Schwarzen Stumpfnase. Diese Spezies bringt ihre Jungtiere meist nachts zur Welt. Doch das Team erlebte 2020 eine Tagesgeburt, die sich über fünf Stunden hinzog. Dabei leistete ein Weibchen Beistand. Es zog das Neugeborene heraus, nahm es auf den Arm, durchtrennte mit seinen Zähnen die Nabelschnur. Und auch der Vater assistierte. Er hielt Wache, kraulte die Gebärende und brachte ihr Futter, als alles überstanden war. Dass sich Papas bei der Geburt nützlich machen können, ist also auch keine Entdeckung der Menschheit.
Sogar Geburtsschmerzen teilen wir mit anderen Arten. Tüpfelhyänen müssen ihre Welpen durch eine enge, penisähnliche Klitorisröhre pressen. Nicht immer geht das gut, manchmal bleibt der Nachwuchs stecken und stirbt. Auch für Hyänenmütter kann die Geburt lebensgefährlich sein. Doch das komme nur bei Tieren vor, die in Gefangenschaft leben, sagt die US-amerikanische Hyänenexpertin Kay Holekamp. Bei ihnen sei der Muskeltonus erschlafft. In der Wildnis sterben Hyänenmütter in der Regel nicht, wenngleich sie vermutlich starke Schmerzen beim Gebären haben, sagt Holekamp: »Ich gehe davon aus, dass diese Prozedur durch einen derart engen Kanal höllisch weh tun muss.«
Geklonte Vierlinge und rennende Reiskörner
Einen weiteren Sonderweg geht das Neunbinden-Gürteltier: Es bringt fast nur Vierlinge zur Welt dank einer Genmutation, die im Lauf seiner Stammesgeschichte auftauchte und ein befruchtetes Ei in vier genetisch identische Embryonen teilte. Die eineiigen Jungtiere wiederum vererbten die Anlage zur Vierlingsgeburt weiter, bis sich die Mutation bei allen Neunbinden-Gürteltieren durchgesetzt hatte. Damit hatte sich die Weitergabe der Gene auf einen Schlag vervierfacht. Doch dieser Vorteil ging auf Kosten der genetischen Vielfalt. Die Vierlinge sind stets Klone. Das macht die Art anfällig, auch kann sie sich weniger gut an Veränderungen in der Umwelt anpassen.
Apropos anpassen: Zwischen Eierlegen und Viviparie passt noch eine dritte Strategie, eine Kombination. Beuteltiere gebären zwar lebende Junge, doch die reifen außerhalb des Körpers in einem Tragebeutel heran, fast wie in einem mobilen Nest. Zu den Beuteltieren gehören Kängurus, Wallabys und Koalas ebenso wie die Tasmanischen Teufel oder die amerikanischen Opossums.
Der Tasmanische Teufel etwa bringt Junge auf die Welt, die kaum größer sind als ein Reiskorn. Dafür gleiten gleich 20 bis 30 Winzlinge aus dem Geburtskanal und liefern sich ein Wettrennen zum Beutel, der nur vier Zitzen bereithält. Wer zuerst eintrifft, beißt sich fest und kann in großer Ruhe heranwachsen. Für Reiskorn Nummer fünf und die anderen Nachzügler endet der Spurt hingegen tödlich, für sie sind keine Zitzen mehr da.
Im Reich der Supermoms
Beuteltiere kompensieren den Nachteil der Lebendgeburt – weniger Junge – mit einer Verdopplung ihrer Geschlechtsorgane. Die Weibchen besitzen zwei Vaginas, zwei Gebärmütter und einen dritten Kanal nur für die Geburt, während die Männchen oft einen zweifachen Penis haben. Die Embryonen allerdings reifen nur in einer der Gebärmütter heran. Mit einer Ausnahme: Sumpfwallabys können parallel in beiden Gebärmüttern trächtig sein.
Sumpfwallabys sind kleinwüchsige Kängurus, die sich mit ihren Artgenossen nicht vertragen. Deshalb müssen die wenigen Momente, in denen Männchen und Weibchen zusammenkommen, optimal genutzt werden. Weibliche Sumpfwallabys sind ununterbrochen trächtig. Was sie da treiben, nennt sich Superfötation. Noch bevor ihr Jungtier auf die Welt kommt, werden sie erneut trächtig. Das frisch befruchtete Ei nistet sich im noch freien Uterus ein, während in dem anderen ein Fötus auf seine Geburt wartet. Die Superfötation der Sumpfwallabys ist nur möglich, weil ihr Östrogenzyklus kürzer anhält als ihre Trächtigkeit, so dass es noch vor der Geburt zu einem erneuten Eisprung kommen kann.
Doch diese Strategie birgt Risiken. Beim Deckakt fluten Keime den weiblichen Organismus und wandern durch den Gebärmutterhalskanal direkt an den Föten vorbei, die über kein Immunsystem verfügen. Warum infizieren sie sich nicht? Das ist eine noch ungelöste Frage, sagt Thomas Hildebrandt, der auch zu diesen Tieren geforscht hat: »Aber es ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Evolution nicht an der besten Lösung interessiert ist, sondern an einem möglichst robusten und flexiblen Kompromiss.«
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