Traumatische Geburt: »Wir haben großes Glück, dass unser Kind überlebt hat«
Ein Kind zu bekommen, ist für Eltern ein ganz besonderer Moment. Den Augenblick, wenn sie ihr Neugeborenes das erste Mal im Arm halten, beschreiben viele Mütter und Väter als einen der schönsten in ihrem Leben. Doch die Stunden zuvor sehen in den meisten Fällen ganz anders aus. Denn Wunschvorstellung und Realität einer Geburt liegen oft weit auseinander. Viele Eltern erhoffen sich eine natürliche Geburt mit wenig medizinischer Intervention. Sie wünschen sich womöglich, mit Atemübungen, Entspannungstechniken, der Lieblingsmusik oder einem warmen Bad den Geburtsprozess gut bewältigen zu können, und sind überrascht, wie stark die Schmerzen und wie groß die Erschöpfung sein kann, dass so schnell Komplikationen auftreten können – und wie viel Zeit vergeht, bis das Kind endlich da ist.
Manche Eltern empfinden die Geburt ihres Kindes sogar als traumatische Erfahrung, etwa dann, wenn Eingriffe vorgenommen werden, denen sie nicht zugestimmt haben, die Geburt lebensbedrohlich für Kind und Mutter war oder wenn die Schwangere Gewalt unter der Geburt erlebt. Dann geht es nicht mehr nur darum, dass Wunsch und Realität auseinandergehen, sondern auch darum, wie mit den Eltern in möglicherweise schwierigen Situationen während der Geburt umgegangen wurde.
Studien zeigen, dass je nach Land, in dem die Untersuchung erfolgte, 20 bis rund 68 Prozent aller Gebärenden die Geburt ihres Kindes als traumatisch empfinden. Eine solche Erfahrung kann sich auch langfristig negativ auswirken, etwa auf die Beziehung zu dem Baby, dem Partner, auf das Stillverhalten oder die Entscheidung, weitere Kinder zu bekommen. Eine traumatische Geburt kann außerdem eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) oder eine postpartale Depressionen bei der Mutter zur Folge haben. Beispielsweise ergab eine im Fachmagazin »Women & Health« veröffentlichte Studie, dass für jede dritte von 550 befragten Müttern die Geburt ihres Kindes traumatisch war. Das Risiko, an einer postpartalen Depression zu erkranken, stieg für diese Mütter um das Vier- bis Fünffache, wie die Autorinnen, beide von der Abteilung für Geburtshilfe der Karatay-Universität in der Türkei, in der Publikation schreiben.
Während früher meist nur die körperliche Gesundheit von Mutter und Kind im Fokus stand und »schlimme« Erfahrungen als Teil des normalen Mutterwerdens und -seins abgetan wurden, gibt es mittlerweile eine wachsende Sensibilisierung für die psychische Gesundheit im Zusammenhang mit der Geburt. Doch noch zu oft wird übersehen: Väter können ebenfalls unter dem Geschehenen leiden. Bisher stehen hierzu jedoch relativ wenige belastbare Studien zur Verfügung, was daran liegen könnte, dass Männer seltener als Frauen über traumatische Geburtserfahrungen sprechen. Wohl auch aus der Ansicht heraus, dass sie im Vergleich zur Mutter das »leichtere Los« hatten. Eine in »PLOS ONE« veröffentlichte Studie hat eine relativ kleine Gruppe von Eltern befragt, die eine Geburt erlebten, bei der die Mutter beinahe gestorben wäre. Dabei waren neben den Müttern auch die Väter von den lebensbedrohlichen Erfahrungen tief betroffen, wie die Forschenden der University of Oxford schreiben. Die Eltern litten noch Monate und Jahre nach dem Notfall an Depressionen, Flashbacks und Posttraumatischen Belastungsstörungen.
Was die Geburt für Väter traumatisch macht
»Es gibt lebensbedrohliche Situationen unter der Geburt, in denen auch der Mann sich sehr ausgeliefert fühlt«, sagt die Psychologin und Traumatherapeutin Tanja Sahib. Sie betreut in einer Beratungsstelle in Berlin-Pankow Mütter und Väter nach traumatischen Geburten und hat ein Buch darüber geschrieben, wie Frauen belastende Geburtserfahrungen bewältigen können. »Es ist vorbei – ich weiß es nur noch nicht«, heißt es. In einem Kapitel wendet sich die Psychologin auch an die Väter. »Der Zwiespalt zwischen dem, was erwartet wurde, und dem, was dann passiert, ist anfangs kaum zu überwinden«, schreibt sie.
»Wir haben großes Glück, dass unser Kind überlebt hat«
Constantin Goltsche über die Geburt seines zweiten Kindes im Juli 2021:
»Meine Frau hatte schreckliche Schmerzen, sie schrie so laut, auch zwischen den Wehen. Die Hebamme im Geburtshaus war sich sicher, dass etwas nicht stimmt, und hat uns für einen Kaiserschnitt in die Klinik verlegt. Leider haben die Hebammen im Kreißsaal nicht mit der Hebamme aus dem Geburtshaus gesprochen. Erst vier Stunden später bekam meine Frau den Kaiserschnitt. Während der OP haben die Ärzte gesehen, dass die Gebärmutter meiner Frau gerissen war. Nur die Fruchtblase hat das Kind am Leben gehalten. Wir haben großes Glück, dass unser Kind überlebt hat. Ich habe erst ein Jahr später gemerkt, dass ich seit dieser Geburt viel ängstlicher bin, mir viel mehr Sorgen um meine Kinder mache.«
Hilflos dabei zu sein, wenn die Partnerin unter sehr starken Schmerzen leidet, mit ihr grob umgegangen wird, sie viel Blut verliert oder Mutter oder Kind womöglich in Lebensgefahr schweben, kann bei Männern eine Posttraumatische Belastungsstörungen auslösen, wie eine Veröffentlichung aus 2021 in »Frontiers in Psychology« zeigt. Für die Studie wurden rund 300 Väter zum Erlebnis der Geburt ihres Kindes und zu möglichen Anzeichen einer PTBS befragt. Dabei gaben 58 Prozent der Väter an, dass sie bei der Geburt glaubten, ihre Partnerin oder das Baby würden schwer verletzt, 52 Prozent befürchteten sogar, die Mutter oder das Kind würden währenddessen sterben. Diese Männer beschrieben nachfolgend Symptome wie wiederkehrende Flashbacks, Panikattacken, Albträume oder eine erhöhte Reizbarkeit. Die Mehrheit der Väter mit PTBS-Anzeichen berichtete, dass diese innerhalb der ersten sechs Monate nach der Geburt auftraten (59 Prozent). Bei 45 Prozent hielten die Symptome drei Monate oder länger an. Rund elf Prozent der Befragten gaben jedoch an, dass diese bereits vor der Geburt einsetzten, was darauf hindeutet, dass bei ihnen schon zuvor eine PTBS oder ähnliche Symptome vorlagen.
Per Definition geht eine PTBS auf ein außergewöhnlich belastendes Ereignis zurück. In Deutschland machen zwei von drei Menschen im Lauf ihres Lebens mindestens eine Erfahrung dieser Art; in den USA sogar vier von fünf. Ob eine PTBS entsteht, hängt zum einen von der seelischen Widerstandskraft der Betroffenen ab. Zum anderen sind manche Traumata besonders schwer zu verarbeiten, beispielsweise wenn es sich nicht um höhere Gewalt wie einen Unfall oder eine Naturkatastrophe handelt, sondern ein anderer Mensch absichtlich Gewalt auf die Person ausübte und sie sich dem hilflos ausgeliefert fühlte.
Gewalt unter der Geburt
Manche Eltern berichten davon, dass die Mutter Gewalt während der Geburt erlebt hat. Kritikerinnen der klinischen Geburtshilfe erklären dies unter anderem mit der Personalsituation auf den Geburtsstationen sowie mit der Überlastung von Hebammen und Ärztinnen und Ärzten. Eine Studie im Auftrag des Bundesgesundheitsministerium zeigt, dass zwar rund 70 Prozent der befragten Hebammen eine Eins-zu-eins-Betreuung von Gebärenden für angemessen halten, sich jedoch im Schnitt während einer normalen Schicht eine Hebamme um drei Frauen gleichzeitig kümmern muss.
Hebammenorganisationen und Elternvereine weisen schon länger darauf hin, dass Frauen während des Geburtsprozesses körperliche Gewalt wie Festhalten, schmerzhafte Untersuchungen und Eingriffe ohne Zustimmung erfahren. Einer dieser Eingriffe, die die Geburt eines Kindes beschleunigen sollen, ist das Kristeller-Manöver. Es wird von Frauen aber als äußerst schmerzhaft empfunden. Hierbei übt ein Arzt mit seinen Händen oder seinem Unterarm synchron zu den Wehen immer wieder einen massiven Druck auf den Bauch der Gebärenden aus. Erfunden hat ihn der Berliner Geburtshelfer Samuel Kristeller – und zwar 1867, in einer Zeit, als der Kaiserschnitt noch sehr selten durchgeführt wurde. Aktuelle Lehrbücher empfehlen das Kristellern nicht mehr, da es, vor allem bei unsachgemäßer Anwendung, unter anderem zu einem Gebärmutterriss, Blutungen und sogar Verletzungen des Kindes führen kann. Obwohl es wenig wissenschaftliche Evidenz zur Wirksamkeit der Methode gibt und sie in manchen Ländern sogar verboten ist, wird sie in Deutschland noch heute durchgeführt, wie der Chefarzt für Geburtshilfe Franz Kainer in einem Artikel für die Zeitschrift »Hebamme« schreibt. Statistiken dazu, bei wie vielen Geburten in Deutschland das Kristellern angewendet wird, gebe es jedoch nicht, »da kein Perinatalprogramm die Anwendung dokumentiert«.
»Ich habe durch den Druck auf den Bauch erbrochen. Der Oberarzt schrie mich an, ich solle mich nicht so anstellen«Mutter, die Gewalt unter der Geburt erlebte
Manche Schwangere erleben neben körperlicher aber auch psychische Gewalt während der Geburt, etwa Beleidigungen, Vernachlässigung und Lächerlichmachen. Am so genannten Roses Revolution Day am 25. November – einem Aktionstag gegen Gewalt in der Geburtshilfe – legen Mütter dort eine Rose nieder, wo sie bei der Geburt respektlos behandelt worden sind, und fügen einige Zeilen über ihre gewaltvolle Entbindungserfahrung bei. Eine Frau schreibt beispielsweise: »Dann kam's: Kristellern. Der Oberarzt schmiss sich auf meinen Bauch. Ich sollte pressen, wusste aber nicht wie. Ich habe durch den Druck auf den Bauch erbrochen. Der Oberarzt schrie mich an, ich solle mich nicht so anstellen und pressen. Aber wie denn ohne Luft?« Viele ähnliche Berichte und Fotos der niedergelegten Rosen werden am Aktionstag in den sozialen Netzwerken geteilt.
Gewalt unter der Geburt hat ein Team von Forschenden um die Psychologin Lea Beck-Hiestermann an der Psychologischen Hochschule Berlin in einer Studie untersucht, die allerdings bislang nicht veröffentlicht ist. Dabei gaben 1079 Mütter in einer Onlinebefragung Auskunft über entsprechende Erfahrungen. Mehr als die Hälfte der Frauen berichteten, mindestens eine Form eines physischen, psychischen oder verbalen Übergriffs erlebt zu haben. Wenn Frauen solch ein gewaltvolles Verhalten erleben, kann das auch für ihre Begleitperson traumatisch sein.
»Ich habe meine Frau im Stich gelassen«
Paul Stengel über die Geburt seiner Tochter vor zweieinhalb Jahren:
»Meine Frau wusste genau, welche Eingriffe sie bei der Geburt nicht wollte. Sie hatte eine Liste geschrieben, die ich durchsetzen sollte. Das, was die Geburt dann so schlimm und traumatisch gemacht hat, ist, dass alles eingetreten ist, was meine Frau nicht wollte. Alle möglichen Interventionen wurden gemacht. Ich war völlig überfordert. Mir fehlte der Mut und die Courage, im Kreißsaal zu sagen: Halt, hier ist stopp. Schon bei der ersten Muttermunduntersuchung, die meine Frau nicht wollte, hätte ich etwas sagen müssen. Am Ende hat die Ärztin auf den Bauch meiner Frau gedrückt. Dieses übergriffige Verhalten ist das, was bei meiner Frau auch heute noch immer wieder hochkommt. Ich habe das Gefühl, dass ich sie im Stich gelassen habe.«
Auswirkungen auf die ganze Familie
Eine traumatische Geburt kann sich auf die gesamte Familie auswirken, vor allem auf die Paarbeziehung. Den Vätern kommt eine besondere Rolle dabei zu, die Frau nach einer traumatischen Geburt zu unterstützen. Manche traumatisierte Frauen hätten das Bedürfnis, immer wieder über die Geburt zu sprechen, weiß Traumatherapeutin Tanja Sahib. Ein Satz, der Frauen nach einer belastenden Geburt immer hilft, ist: »Ja, das war schlimm, was uns passiert ist.« Es gehe also nicht darum, möglichst viel zu sagen, sondern ums Zuhören, so die Psychologin.
Eberhard Schäfer berät im Berliner Väterzentrum Väter und Paare. Seiner Erfahrung nach kommen Männer selten in die Beratung, weil sie eine traumatische Geburt erlebt haben. Aber wenn es Probleme in der Partnerschaft gibt, eine Trennung im Raum steht oder schon vollzogen worden ist, dann fragt der Therapeut Väter oder Paare häufig: Wie ist Ihr Kind denn zur Welt gekommen? »Oft erzählen die Väter oder Paare dann von schwierigen Geburtsverläufen, die sie verängstigt haben und immer noch belasten«, berichtet Eberhard Schäfer. Auch kennt er Väter, die die Erlebnisse niedergeschlagen und dadurch depressive Verstimmungen verdrängt haben.
»Ich war nur noch erschöpft«
David Meyerhorst* über die Geburt seines ersten Kindes im Juli 2021 (* Name von der Redaktion geändert):
»Weil meine Freundin hohen Blutdruck hatte, musste sie drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin ins Krankenhaus. Sie hatte sich so sehr eine natürliche Geburt gewünscht. Doch nach wenigen Tagen war klar: Es wird ein Kaiserschnitt. Der Kaiserschnitt war traumatisch für sie. Auch ich mag gar nicht an die Geburt denken. Wie sie dalag, an den ausgestreckten Armen fixiert, es ruckelte, als sie das Baby holten. Meine Freundin entwickelte nach der Geburt eine postpartale Depression. Ich war ganz verliebt in das Baby, während meine Freundin das nicht fühlen konnte. Ich habe versucht, das auszugleichen, war extrafürsorglich, habe mich um Baby und Mutter gekümmert, den Haushalt gemacht, gearbeitet. Doch ich war irgendwann nur noch erschöpft. Es gab Momente, da saß ich da und war mir nicht sicher, ob ich aufstehen kann.«
Was Vätern hilft
Viele Hebammen fragen Mütter in der Nachbetreuung, wie es ihnen geht, wie sie die Geburt erlebt haben, um mögliche Hilfsangebote zu vermitteln. In vielen Städten gibt es inzwischen Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen für Mütter nach traumatischen Geburten. Doch für Väter gibt es nur wenige solcher Angebote.
Benjamin Dittrich hat Deutschlands erste Selbsthilfegruppe für Väter nach belastenden Geburten gegründet. Er litt selbst unter den Folgen der traumatischen Geburt seines Kindes. Einmal im Monat treffen sich Väter online und tauschen sich über die Geburt ihrer Kinder aus. Es fehle an Bewusstsein dafür, auch in der Öffentlichkeit, meint Benjamin Dittrich. »Für viele Männer ist es hilfreich zu wissen: Auch Väter können nach schwierigen Geburten ein Trauma oder Depressionen entwickeln.« Viele Männer seien zu hart mit sich, fragten sich, was nicht mit ihnen stimmte. »Als Vater eine traumatische Geburt zu erleben, ist aber nicht nichts«, sagt er. In der Gruppe gebe es einen geschützten Ort, um darüber zu reden und verstanden zu werden. Auch Eberhard Schäfer aus dem Berliner Väterzentrum empfiehlt Vätern, über das Erlebte zu sprechen – mit der Partnerin, der Hebamme, einem Freund oder am besten mit Fachleuten in Beratungseinrichtungen. »Reden hilft!«, sagt er.
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