Fortpflanzung: Traumatische Triebe
Sex kann eine durchaus verletzende Angelegenheit sein. Wenn die im Pazifik lebenden Meeresschnecken der Art Siphopteron quadrispinosum zur Sache kommen, sieht das mehr nach Kampf als nach Paarung aus: Die nur einen halben Zentimeter großen Zwitter nutzen ihren Penis als Waffe, und das männliche Sexualorgan hat ein Anhängsel, dessen Spitze wie eine Injektionsnadel geformt ist. Diese Spitze rammen die Tiere vor und während der Paarung in den Körper ihres Partners. Der für die Übertragung des Spermas zuständige Teil des Penis ist außerdem mit allerlei martialischen Haken und Stacheln ausgerüstet, die sich während des Akts in die weibliche Geschlechtsöffnung krallen. Das alles klingt nicht gesund – und ist es wohl auch nicht. Mal verletzen sich die beiden Schneckenpartner gegenseitig, in anderen Fällen spielt einer die männliche und einer die weibliche Rolle, und nur Letzterer trägt die Wunden davon. Ohne Verletzte geht die Sache jedenfalls nicht aus.
Solche Fortpflanzungsrituale, bei denen einer der Beteiligten zu Schaden kommt, galten im Tierreich lange als bizarre Ausnahmeerscheinungen. Doch sie sind offenbar viel weiter verbreitet als bisher angenommen. Mit einer akribischen Literaturrecherche haben sich Rolanda Lange von der Universität Tübingen und ihre Kollegen einen ersten Überblick über die Anhänger von verletzungsträchtigem Sex verschafft – und waren überrascht.
"Ich hätte selbst nicht gedacht, dass dieses Verhalten bei so vielen ganz unterschiedlichen Tiergruppen vorkommt", sagt die Zoologin. Offenbar hat die Evolution die traumatische Paarung mindestens 36-mal unabhängig voneinander erfunden. Sogar unter den Wirbeltieren finden sich entsprechende Beispiele. Da gibt es zum Beispiel Salamander, die ihrer Partnerin beim Akt in den Hals beißen. Und manche Entenmännchen zwingen Weibchen brutal zur Paarung und führen ihnen dabei explosionsartig ihren korkenzieherförmigen Penis ein. Kein Wunder, dass das alles nicht ohne Verletzungen abgeht. Am besten untersucht sind traumatische Paarungen bisher allerdings bei wirbellosen Tieren. "Es gibt da durchaus auch Fälle, in denen das Männchen zu Schaden kommt", berichtet Lange. So bricht bei manchen Spinnen nach der Paarung der Penis ab und bleibt in der Geschlechtsöffnung des Weibchens stecken. Das soll offenbar verhindern, dass sich die Partnerin noch mit weiteren Rivalen einlässt. In den meisten Fällen aber treffen die Verletzungen bei traumatischen Paarungen die Weibchen.
Männliche Strategien, weiblicher Schaden
Aber warum überhaupt dieses brutale Vorgehen? Aus biologischer Sicht scheint es eigentlich keine gute Idee zu sein, seine Partnerin zu verletzen. Schließlich ist damit auch ein Risiko für den gemeinsamen Nachwuchs verbunden. Der brachiale Sex muss also ebenso einige Vorteile haben, sonst hätte die Evolution längst neue Wege beschritten. "In einigen Fällen geht es den Männchen offenbar einfach nur darum, beim Sex eine stabile Stellung hinzubekommen", meint die Tübinger Biologin. Das kann zum Beispiel bei Ameisen wichtig sein, die sich im Flug paaren. Oder bei Meeresschnecken, die mit kräftiger Brandung zu kämpfen haben. Ohne die Möglichkeit, den Körper mit Haken oder anderen verletzungsträchtigen Hilfsmitteln am Weibchen zu befestigen, würde der Akt unter solchen Umständen zu einer sehr wackeligen Angelegenheit.
Bei anderen Arten scheinen die Männchen dagegen eine raffinierte chemische Manipulation zu versuchen. "Bestimmte Substanzen in ihrer Samenflüssigkeit sollen die Partnerin dazu anregen, mehr oder größere Nachkommen zu produzieren", erklärt Rolanda Lange. Das belastet allerdings den Organismus der werdenden Mütter und kann sogar ihre Lebenserwartung verkürzen. Also haben die Weibchen im Lauf ihrer Evolution chemische Gegenmittel entwickelt und in ihrem Genitaltrakt in Stellung gebracht. Diese Abwehrwaffen aber lassen sich möglicherweise durch traumatische Paarung umgehen: Der Trick besteht einfach darin, die manipulativen Flüssigkeiten nicht in die gut verteidigte Geschlechtsöffnung, sondern in irgendeine andere Stelle des Körpers zu injizieren. "Diese Strategie könnte hinter dem Verhalten von Siphopteron quadrispinosum stecken", meint Rolanda Lange. Mit der Injektionsnadel an ihrem Penisanhang verabreichen die Meeresschnecken ihren Partnern jedenfalls ein Prostatasekret, das die Produktion von Nachkommen anregen könnte.
Vater werden ist doch schwer
In wieder anderen Fällen scheinen die Männchen mit brachialen Praktiken ihre Vaterschaft sichern zu wollen. Wenn sich die Weibchen schon mit mehreren Kandidaten paaren, sollte aus Sicht des erfolgreichen Partners zumindest das eigene Sperma den Wettlauf um die Befruchtung gewinnen. Und nicht etwa das der Konkurrenz. Eine traumatische Paarung kann dabei sehr nützlich sein, zeigen Untersuchungen am Vierfleckigen Bohnenkäfer Callosobruchus maculatus: Der Penis dieser Insekten ist mit Stacheln besetzt, die allerdings je nach Population unterschiedlich lang und zahlreich sind. Cosima Hotzy von der Universität im schwedischen Uppsala und ihre Kollegen haben untersucht, wie sich diese unterschiedliche Ausrüstung auf das Sexualleben der Tiere auswirkt. Mit langen Stacheln halten die Männchen ihre Paarungsstellung demnach nicht ausdauernder als mit kurzen – als Anker sind die Hilfsmittel also wohl nicht gedacht. Dafür verschaffen die langen Stacheln dem Sperma ihres Trägers aber bessere Befruchtungschancen. Auch dieser Effekt kommt möglicherweise durch bestimmte Substanzen in der Samenflüssigkeit zu Stande. Und je länger die Injektionswerkzeuge sind, umso größere Mengen des manipulativen Cocktails können sie wohl in den Körper des Weibchens injizieren.
Ein ähnliches Kalkül steckt auch hinter dem Einsatz der Liebespfeile, die sich Weinbergschnecken bei der Paarung gegenseitig in den Körper rammen. Wissenschaftler wie Ron Chase von der McGill University im kanadischen Montreal und Joris Koene von der Freien Universität Amsterdam haben jahrelang nach der Funktion dieser seltsamen, spitzen Kalkwaffen gesucht. Inzwischen ist klar, dass die kriechenden Zwitter ihrem Partner damit eine Art Spritze verpassen. Sie injizieren ihm ein hormonhaltiges Sekret, das den Spermien den Weg zu den Eiern erleichtert. Die Substanz verengt den Gang zu einem Organ namens Bursa copulatrix, in dem die Schnecken fremdes Sperma verdauen. Statt in diesem körpereigenen Abfallbehälter landet das Sperma des Liebespfeilschützen dann in der Samentasche des Partners, in der es bis zur Befruchtung aufbewahrt wird.
Gerade die Zwitter des Tierreichs scheinen besonders häufig ein Faible für brachiale Sexpraktiken zu haben. Die verschiedensten Plattwürmer, Ringelwürmer und Schnecken zeugen ihre Nachkommen auf diese Weise. Auch sie tragen als Weibchen zwar das Verletzungsrisiko, dafür nutzen sie in ihrer männlichen Rolle aber ebenso die Vorteile von traumatischen Paarungen. Und die scheinen zu überwiegen – zumal die Tiere häufig versuchen, im Paarungsspiel so oft wie möglich als Männchen aufzutreten.
Plattwürmer der Art Pseudoceros bifurcus liefern sich zum Beispiel minutenlange Gefechte, in denen sie sich gegenseitig mit dem Penis zu stechen versuchen. Wer dabei den ersten Treffer setzt, überträgt sofort sein Sperma und flüchtet dann. Selbst gestochen zu werden und damit die Weibchenrolle zu übernehmen, versuchen die Tiere dagegen zu vermeiden. "Oft scheint in solchen Fällen eine einzige Kopulation zu reichen, um über längere Zeit sämtliche Eier zu befruchten", erklärt Rolanda Lange. Demnach ist männliches Verhalten die deutlich bessere Option.
Bei Arten mit getrennten Geschlechtern scheinen auf den ersten Blick dagegen sämtliche Nachteile der traumatischen Paarung auf den Weibchen zu lasten. Doch das stimmt gar nicht unbedingt. Denn zum einen ist sie auch für Männchen nicht ungefährlich. So verankern sich Wanzen-Casanovas mit ihren Penisstacheln manchmal so fest an ihren Weibchen, dass sie nicht mehr loskommen und sterben. Zum anderen bietet das Konzept durchaus selbst für Weibchen Vorteile. Eine Paarung mit einem besonders rabiaten Partner könnte theoretisch zu Söhnen führen, die ähnlich zu Werke gehen – und sich damit ihrerseits besonders erfolgreich fortpflanzen können. Nach dieser "Sexy-Söhne-Hypothese" hätte das Weibchen also das Evolutionsziel erreicht und seinen eigenen Genen gute Zukunftschancen verschafft.
Die Rückkehr der Sanftheit
In einigen Fällen profitieren die Weibchen allerdings auf viel direkterem Weg von den gewalttätigen Aktionen ihrer Partner. Zum Beispiel beim Vierfleckigen Bohnenkäfer, dessen Sperma sehr viel Flüssigkeit enthält. "Bei diesen Insekten paaren sich die Weibchen häufiger, wenn sie Probleme mit dem Flüssigkeitshaushalt haben", erklärt Lange. Wenn Sex vor dem Verdursten rettet, nehmen sie Wunden in Kauf. Und ansonsten haben sie immer noch die Möglichkeit, den Partner wegzustoßen. Das verkürzt den Akt und verringert damit die Verletzungsgefahr.
Die Weibchen sind ihren rabiaten Partnern also keineswegs hilflos ausgeliefert. Vielmehr liefern sich die Geschlechter eine Art evolutionäres Wettrüsten: Die einen entwickeln immer raffiniertere Waffen, die anderen immer ausgeklügeltere Abwehrmethoden. "Oft findet man bei den Weibchen zum Beispiel verdicktes Bindegewebe im Fortpflanzungstrakt oder an der typischen Einstichstelle", sagt Rolanda Lange. Bei etlichen Bettwanzenarten haben sich die Weibchen sogar ein neues Sexualorgan zugelegt, um die Infektionsgefahr zu verringern: Unterhalb der Einstichstelle tragen sie eine Art Beutel mit sich herum, der mit Abwehrzellen des Immunsystems gefüllt ist.
Noch einen Schritt weiter sind die Weibchen eines Insekts namens Xenos vesparum gegangen, die ihr Leben als Parasit im Körper von Wespen verbringen. Sie haben spezielle Gänge außerhalb des Geschlechtstrakts entwickelt, durch die das Sperma völlig verletzungsfrei zu den Eizellen gelangt. In manchen Fällen hat die Evolution den brachialen Sex also später wieder abgeschafft – frei nach dem Motto "make love, not war".
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben