Treibhausgase: Die unterschätzte Rolle der Geier
Geier gehören nicht gerade zu den Sympathieträgern der Vogelwelt. Das liegt vor allem daran, dass sich die Tiere ausschließlich von Aas ernähren – schon in früheren Zeiten galten sie deshalb als Vorboten des Todes. Doch in Wirklichkeit sind Geier die fliegenden Reinigungskräfte der Natur. Und neue Forschungsergebnisse stützen diese Sicht. Die Vögel sorgen nämlich für einen geringeren Ausstoß von Treibhausgasen.
Dank ihres exzellenten Sehvermögens und ihrer hohen Flugreichweite sind die 22 weltweit vorkommenden Geierarten oft die ersten Aasfresser, die einen Kadaver entdecken und verspeisen. Dieses Verhalten ist sowohl für die Ökosysteme als auch für den Menschen lebenswichtig: So fördern die Vögel den Nährstoffkreislauf und vermindern die Zahl an Krankheitserregern, die sonst von toten auf lebende Tiere überspringen könnten.
Verwesende Tierkörper setzen Treibhausgase frei, darunter Kohlenstoffdioxid und Methan. Der größte Teil dieser Emissionen entweicht allerdings erst gar nicht in die Umwelt, wenn sich Geier über die Überreste hermachen, wie die beiden Biodiversitätsforscher Pablo Plaza und Sergio Lambertucci von der argentinischen Universidad Nacional del Comahue im Fachmagazin »Ecosystem Services« darlegen. Sie berechneten, dass ein Geier je nach Spezies zwischen 0,2 und einem Kilogramm Kadaver pro Tag frisst. Jedes Kilogramm eines verwesenden Tiers setzt etwa 0,86 Kilogramm in CO2-Äquivalenten frei. Bei ihrer Schätzung gehen die beiden Wissenschaftler davon aus, dass Kadaver, wenn sie nicht von Geiern gefressen werden, einfach verwesen.
Allerdings sammeln Menschen oft Tierleichen auf, vergraben sie oder führen sie der Kompostierung zu, was zu mehr Emissionen führt als die natürliche Zersetzung. Wenn also stattdessen Geier diese Arbeit übernehmen, dürften weniger Emissionen entstehen. Die mögliche Einsparung klingt nicht gerade üppig, aber geht man von geschätzten 134 bis 140 Millionen Geiern weltweit aus, ergibt sich ein beachtliches Einsparpotenzial: mehrere Zehnmillionen Tonnen an Treibhausgasemissionen pro Jahr.
Wo die meisten Geier leben
Dieses natürliche Filtersystem ist jedoch nicht gleichmäßig über die Welt verteilt. Geier kommen vor allem in Nord- und Südamerika vor, sagt Biologe Pablo Plaza. Lediglich drei Arten, die es nur auf den beiden amerikanischen Kontinenten gibt – der Raben-, Truthahn- und Gelbkopfgeier –, erbringen 96 Prozent der Emissionsminderungen weltweit, fanden Plaza und Lambertucci heraus. Insgesamt verhindern die Geier in Nord- und Südamerika den Ausstoß von jährlich etwa zwölf Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten. Legt man Schätzungen der US-Umweltschutzbehörde zu Grunde, entspricht dies der Einsparung von 2,6 Millionen Autos pro Jahr.
Außerhalb von Nord- und Südamerika sieht die Lage völlig anders aus. »Der Rückgang der Geierpopulationen in vielen Regionen der Welt, etwa in Afrika und Asien, hat gleichzeitig zu einem Verlust geführt, was Geier in einem Ökosystem leisten«, sagt Plaza. Der Bengalgeier, früher eine der stärksten Geierpopulationen in Indien, ist in den vergangenen Jahrzehnten stark dezimiert worden. Die Spezies ist vom Aussterben bedroht. Zwischen 1992 und 2007 sank die Population um 99,9 Prozent. Von einst Millionen Tieren existieren nur noch wenige tausend Exemplare. Die meisten Vögel verendeten an einer Vergiftung mit dem Medikament Diclofenac, das die Geier beim Fressen toter Rinder aufgenommen haben. Allein in Indien entweichen nun jedes Jahr mindestens 2,9 Millionen Tonnen Treibhausgasemissionen mehr in die Atmosphäre, weil die Geierpopulation zusammengebrochen ist.
Ökosysteme mit und ohne Geier
Wie wertvoll die Geier für die Ökosysteme sind, könnte sich in Zeiten von Klimakatastrophen zeigen. Carolina Baruzzi von der University of Florida, die nicht an der neuen Studie beteiligt war, hat untersucht, was geschieht, wenn sich die Aasfresser nach einem Massensterben von Wildtieren über die Tierleichen hermachen. »Ohne Geier«, sagt sie, »zersetzen sich die Kadaver langsamer, was eine Reihe von Problemen verursachen kann« – darunter erhöhte Treibhausgasemissionen und Krankheiten, die sich verbreiten. Baruzzis Arbeit hat gezeigt, dass der Unterschied zwischen Ökosystemen mit und ohne Geier nicht unerheblich ist. Waren Geier in der Nähe, »dann waren [die Kadaver] in der Regel nach zwei Wochen verschwunden«, sagt Baruzzi. »Dort, wo wir keine Geier hatten, blieben sie länger als anderthalb oder zwei Monate liegen – das ist wirklich bemerkenswert.«
Geier besser unter Schutz zu stellen, ist sicher keine Generallösung gegen den Klimawandel. Doch nach Ansicht von Grant Domke vom United States Forest Service sind die Tiere ein Faktor von vielen, die helfen können. »Ich denke, es geht vor allem darum, der Idee eines Portfolioansatzes zur Emissionsreduzierung nachzugehen«, sagt Domke. Mit seinem Team berichtet er über die Kohlenstoffwerte der US-Wälder. Seine Arbeit resultiert aus der Verpflichtung der Vereinigten Staaten, das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen einzuhalten. Domke verweist auf Studien über großflächige Waldbrände: Die Feuer wirken sich negativ auf die CO2-Bilanz aus. Doch das negative Ausmaß großer Waldbrände entspreche der positiven Klimaleistung der Geier. »Alles muss auf den Tisch«, sagt er, »und je mehr wir verstehen, welchen Beitrag Pflanzen und Tieren zum Gesamtbild leisten, desto besser.«
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