Naturkatastrophen: Trifft der nächste Tsunami China?
Die Westseite des pazifischen Feuerrings ist Tsunamiland. Entlang eines Bogens von Tiefseegräben, der von Indonesien bis vor die Küste von Alaska reicht, erzeugen schwere Erdbeben immer wieder gigantische Wellen; die großen Tsunamis von 2004 vor Sumatra und 2011 vor Japan mit insgesamt etwa 250 000 Todesopfern bezeugen die Gewalt an solchen als Subduktionszonen bezeichneten Grenzen zwischen Erdplatten. Doch mitten in dieser geologischen Konfliktlinie und genau gegenüber der chinesischen Südostküste liegt ein rätselhaft bebenarmer Tiefseebogen: der Manilagraben.
In dem bis zu fünf Kilometer tiefen Meeresgebiet vor der Insel Luzon schiebt sich die Eurasische Platte mit einer Geschwindigkeit von acht Zentimetern pro Jahr unter die Philippinen. Die Plattengrenze scheint in den letzten paar hundert Jahren jedoch verdächtig ruhig geblieben zu sein: Seit die Portugiesen in den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts Luzon kolonisierten, ist in den Aufzeichnungen kein Erdbeben an dieser Plattengrenze vermerkt, das stark genug für einen gewaltigen Tsunami gewesen wäre.
Wie groß ist die Gefahr?
Ein starkes Beben der Magnitude 9 und höher hätte am Manilagraben mindestens ebenso dramatische Konsequenzen wie jene vor Sumatra und Japan. Rund um das Südchinesische Meer liegen die Küsten der Philippinen, Taiwans, Chinas, Kambodschas und Vietnams. Allein im Perlflussdelta, direkt gegenüber dem Manilagraben, leben mehr als 100 Millionen Menschen. Doch weil die Informationen über vergangene Tsunamis nur lückenhaft sind, kann derzeit niemand einschätzen, wie groß die Gefahr wirklich ist.
Zwar gibt es aus chinesischen Quellen Berichte über Flutwellen an den Küsten, die meisten dieser Ereignisse gehen allerdings vermutlich auf Sturmfluten durch die in der Region häufig vorkommenden Taifune zurück. Oft ist die Darstellung der Ereignisse für eine Unterscheidung nicht eindeutig genug. Und auch die als solche identifizierbaren Tsunamis lassen Fragen offen. So könnten für einige lokale Tsunamis ebenso untermeerische Erdrutsche die Ursache gewesen sein.
Inzwischen deuten aber immer mehr Indizien darauf hin, dass es in historischer Zeit sehr große Tsunamis im Südchinesischen Meer gab. Dabei berichteten chinesische Fachleute schon vor einiger Zeit von mehreren Zentimeter dicken Sedimentablagerungen in einem Binnensee auf der östlichsten der Spratly-Inseln, die etwa im 11. Jahrhundert angeschwemmt wurden. Auch auf der Insel Dongdao, Teil der Paracel-Inseln mitten im Südchinesischen Meer, fanden Fachleute 2013 Gerölle und Korallenbruchstücke weit im Landesinneren, die aus ihrer Sicht nur durch eine massive Welle dorthin gelangt sein können. Das dramatischste Zeugnis eines solchen Ereignisses liefert ein jüngerer Fund, der vor einiger Zeit mehrere tausend Kilometer weiter nördlich ans Licht kam, und zwar bei Ausgrabungen auf der Insel Na'nao, direkt westlich von Taiwan vor der chinesischen Küste gelegen.
Katastrophe vor 1000 Jahren?
Etwa im Jahr 1076 vernichteten gigantische Wellen dort eine blühende chinesische Siedlung der Song-Dynastie, berichtete im Dezember 2018 ein chinesisches Ausgrabungsteam im »Chinese Science Bulletin«. Wie Münz- und Keramikfunde zeigen, trieben die Bewohner der Insel Handel entlang der Seidenstraße und gelangten so zu Wohlstand. Doch das endete abrupt in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts.
Grabungen nahe der Süd- und Ostküste der Insel offenbarten die Spuren einer Katastrophe. Korallen und Felstrümmer fanden sich mehrere hundert Meter im Inneren der Insel, und eine dicke Schicht aus Meersand ruht im Boden unter dem gesamten Gebiet, vermischt mit den Resten von Meerestieren und unzähligen Keramikscherben, Siedlungsresten und sogar Steinsarkophagen. Nichts davon, berichtet das Team, ist unversehrt: Die menschlichen Hinterlassenschaften, so die Schlussfolgerung, wurden von der gleichen Welle zertrümmert, die auch zentnerschwere Gesteinsbrocken weit hinter die Küste trug.
Viele Indizien deuten auf ein großes Beben im Manilagraben als Ursache, der sich einige hundert Kilometer südöstlich von Na'nao bis an die Westküste Taiwans erstreckt. Heutzutage hätte eine solche Welle an der chinesischen Küste noch dramatischere Konsequenzen. Gegenüber der Tiefseerinne liegt unter anderem der Großraum Hongkong, dessen Infrastruktur für ganz China und die Weltwirtschaft entscheidend ist. Entlang dieser Küstenlinie stehen – und entstehen – gleich mehrere Kernkraftwerke, die als durch Tsunamis gefährdet gelten. Auch andere Länder wären betroffen: Auf Luzon, der Insel direkt östlich des Grabens, leben mehr als 20 Millionen Menschen in bedrohten Regionen. Am Westrand des Meers liegt die lang gestreckte Ostküste Vietnams samt seinen Bevölkerungszentren ebenfalls im Bereich eines potenziellen Tsunamis.
Obwohl wirklich schwere Erdbeben an der Tiefseerinne nicht sicher nachweisbar sind, ist diese Kollisionszone im Südchinesischen Meer unzweifelhaft seismisch recht aktiv. Immer wieder zuckt das Gestein an der Plattengrenze. Bei etwa zehn Prozent liege die Wahrscheinlichkeit, dass innerhalb der nächsten 100 Jahre ein Tsunami vom Manilagraben die chinesische Küste trifft, berechnete 2007 eine Arbeitsgruppe der chinesischen Akademie der Wissenschaften. Da war der letzte Warnschuss kaum ein Jahr her: Zwei dicht aufeinander folgende Erdbeben am Südende des Manilagrabens erzeugten im Jahr 2006 einen etwa 40 Zentimeter hohen, lokal begrenzten Tsunami. Simulationen zeigen aber, dass diese Subduktionszone zu mehr fähig ist. Zu viel mehr.
Ein acht Meter hoher Tsunami
Um bis zu 38 Meter, berechnete 2009 ein Team um Kusnowidjaja Megawati von der Nanyang Technology University von Singapur, sei die Philippinische Platte seit dem Beginn der Bebenaufzeichnungen in Luzon zusammengedrückt worden. Das Worst-Case-Szenario, bei dem die Subduktionszone auf voller Länge bricht und ein Megabeben der Magnitude 9,3 verursacht, beschrieben Zhi-Yuan Ren und Hua Liu von der Shanghai Jiao Tong University im Jahr 2015 in »Procedia Engineering«. Dabei bewegt sich der Meeresboden auf über 1000 Kilometer Länge um diese 38 Meter und erzeugt einen gewaltigen Wasserberg, der durch das Südchinesische Meer rollt. An der Südküste von Taiwan und in Manila, wo die Welle zuerst ankommt, wäre sie über fünf Meter hoch, in Hongkong sogar etwa acht und in Vietnam noch über sechs Meter.
Wegen derartiger Szenarien, und nicht zuletzt auch aufgeschreckt durch die Katastrophen von 2004 und 2011, haben sich die Anrainerstaaten des Südchinesischen Meers zusammengetan und 2018 ein gemeinsames Tsunamiwarnzentrum gegründet. Daten von Wasserstandsmeldern und Erdbebenstationen werden in Echtzeit an die Zentrale in Peking übermittelt, die daraus eine Gefahreneinschätzung erstellt und an die neun Mitgliedsstaaten weiterleitet.
Die besonderen Bedingungen des Beobachtungsgebiets machen diese Einschätzung allerdings schwierig. Denn das Südchinesische Meer ist ein bloßer Tümpel im Vergleich zum Pazifik, an dessen Westrand es liegt. Tatsächlich sind große Teile dieses Meeresgebiets geologisch kein Teil des Ozeans, sondern quasi ertrunkener Kontinent und im Durchschnitt nur etwas mehr als 1000 Meter tief. Lediglich das zentrale Becken und der Manilagraben erreichen mit bis zu rund 5000 Meter Tiefe etwas mehr als die durchschnittliche Tiefe der großen Ozeane.
Die geringere Wassertiefe in weiten Teilen des Meers dämpft Tsunamiwellen – wie genau, ist aber noch unbekannt. Auch die kurzen Strecken über das Meeresgebiet haben Auswirkungen. So kam 2016 eine Arbeitsgruppe um Adam Switzer, ebenfalls von der Nanyang Technology University in Singapur, in »JGR Solid Earth«zu dem Ergebnis, dass lokal unterschiedlich starke Hebungen und Senkungen entlang der gebrochenen Verwerfung erhebliche Auswirkungen auf die Wellenhöhe an einzelnen Küstenbereichen haben. Das Südchinesische Meer ist zu klein, als dass sich diese Effekte komplett verlaufen würden. Das jedoch nehmen Tsunamimodelle normalerweise an. Deswegen könnten, so die These des Teams, die Wellen an manchen Küstenabschnitten niedriger ausfallen, an anderen womöglich aber deutlich höher.
Wie gefährlich ist der Manilagraben wirklich?
Nicht zuletzt basiert das Worst-Case-Szenario auf der Annahme, dass die gesamte Verwerfung von Taiwan bis an die Westküste der Philippinen in einem Stück bricht – dass sich also die gesamte Länge der Verwerfung über hunderte Kilometer in einem einzigen Ruck verschiebt. Das aber ist keineswegs gesagt. Wahrscheinlicher ist, dass nur ein Teil der Störungszone bebt, wie das in vielen anderen Regionen der Welt der Fall ist. Entsprechend kleiner wären die Wellen und damit die Schäden.
Das Verhalten der Verwerfung einzuschätzen, ist aus gleich zwei Gründen schwierig. Zum einen erlauben die lückenhaften historischen Daten bisher keine gesicherten Aussagen darüber, wie viel Zeit im Durchschnitt zwischen zwei wirklich großen Beben vergeht. Zum anderen gibt es keine andere vergleichbar aufgebaute Subduktionszone, die die Experten für eine Vorhersage als Vergleich heranziehen könnten. Der Manilagraben verdankt seine geschwungene Form dem Umstand, dass Nord- und Südende der Plattengrenze an Störungszonen praktisch angenagelt sind – während in der Mitte die Insel Luzon mit etwa neun Zentimetern pro Jahr nach Westen drängt. Ob so eine eingedellte Subduktionszone tatsächlich Erdbeben vergleichbar jenen vor Sumatra oder Japan produziert, scheint unklar zu sein.
Doch auch deutlich kleinere Wellen haben durch den ansteigender Meeresspiegel infolge des Klimawandels, durch absinkendes Land insbesondere unter großen Ballungszentren und durch die flache Topografie vieler Küsten in der Region das Potenzial, schwere Zerstörungen anzurichten. Zusätzlich wächst die Bevölkerung in flutgefährdeten Küstengebieten überproportional – in China zum Beispiel doppelt so schnell wie im Landesdurchschnitt.
Während die Küsten der Region Sturmfluten gewohnt sind, ist unklar, wie sich ein Tsunami auswirken würde. Das neu eingerichtete Tsunamizentrum gibt den Anrainerstaaten zwar eine frühe Warnung; wie effektiv diese ist, hängt allerdings von den lokalen Gegebenheiten ab. So vermeldeten offizielle Stellen bei den beiden Tsunamis in Indonesien 2018 zwar rechtzeitig die Gefahr; Fehlentscheidungen der lokalen Behörden und Probleme bei der Kommunikation führten aber dazu, dass trotzdem hunderte Menschen starben. Und auch wenn die Warnungen funktionieren – durch die immensen Schäden in einer der bevölkerungsreichten und wirtschaftlich wichtigsten Regionen der Welt hätte ein großer Tsunami im Südchinesischen Meer nicht nur für die beteiligten Staaten schwere Konsequenzen, sondern würde seine Schockwellen um die ganze Welt senden.
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