Naturschutz: Arche Truppenübungsplatz
Was haben Ziegenmelker, Wolf und Große Höckerschrecke gemeinsam? Sie alle sind seltene Tierarten, die auf deutschen Truppenübungsplätzen wichtige Rückzugsgebiete finden. Der Ziegenmelker liebt Sandböden und trockene Heiden – Lebensräume, die es in Deutschland großflächig fast nur noch auf militärischem Übungsgelände gibt.
Der zur Familie der Nachtschwalben gehörende Zugvogel ruht tagsüber perfekt getarnt auf einem Ast oder am Boden. Erst mit Einbruch der Dunkelheit macht er Jagd auf Nachtfalter und andere Fluginsekten. Er ist damit das gefiederte Gegenstück zu den Fledermäusen, die ebenfalls Militärflächen zu schätzen wissen – insbesondere dort, wo verlassene Bunkeranlagen perfekte Quartiere abgeben.
Die Große Höckerschrecke dagegen ist tagaktiv und steht nicht auf dem Speisezettel der nächtlichen Jäger. Die auffällig schwarz gebänderte Heuschrecke war früher in weiten Teilen Süddeutschlands verbreitet. Heute findet man sie hier zu Lande nur noch auf den nährstoffarmen, blütenreichen Wiesen des Truppenübungsplatzes Heuberg auf der Schwäbischen Alb. Und auch der Wolf hat profitiert. Ohne militärischen Schutz wäre er wohl nicht so schnell wieder in Deutschland heimisch geworden.
Landschaftliche Vielfalt dank Militär
Seit 1989 wurden europaweit rund 1,5 Millionen Hektar Militärflächen stillgelegt – das entspricht in etwa der Fläche Schleswig-Holsteins. Allein in Deutschland waren es seit der Wiedervereinigung mehr als 320 000 Hektar. Viele von ihnen sind herausragende Lebensräume für zahlreiche seltene Tiere und Pflanzen. Mancherorts fühlt sich die Natur sogar gerade dort besonders wohl, wo Bundeswehr und NATO-Partner zu Übungszwecken Panzer rollen lassen und Granaten detonieren. »Die Bedeutung militärischer Übungsplätze für die Artenvielfalt ist enorm«, bestätigt der Biologe Götz Ellwanger vom Bundesamt für Naturschutz.
Und das liege vor allem an drei Faktoren: Truppenübungsplätze sind erstens relativ große Flächen, die wenig durch Straßen oder Bahnlinien zerschnitten und frei von Siedlungen und intensiver Landwirtschaft sind. Sie sind kaum durch Dünger und Pestizide belastet und von der Flurbereinigung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschont geblieben. Die meisten Truppenübungsplätze sind zweitens seit vielen Jahrzehnten, manche sogar seit über einem Jahrhundert in militärischer Nutzung. Die Natur kann sich über lange Zeiträume kontinuierlich und weitgehend ungestört entwickeln.
Der militärische Übungsbetrieb trägt drittens zur landschaftlichen Vielfalt bei. Für Schießübungen werden größere Flächen baumfrei gehalten, was Offenlandarten wie Wildbienen oder Heidelerchen zugutekommt. An manchen Stellen brechen Militärfahrzeuge den Boden auf oder verdichten den Untergrund, so dass dort kleine Tümpel entstehen, in denen sich Wasserinsekten und Amphibien wie Gelbbauchunken und Kreuzkröten ansiedeln.
Sicherer Hort für Familie Wolf
Wie attraktiv Truppenübungsplätze für Wildtiere sind, hat auch der Wolf schnell erkannt. Die ersten deutschen Wolfswelpen seit der Ausrottung der Art im 19. Jahrhundert wurden im Jahr 2000 auf dem sächsischen Truppenübungsplatz Oberlausitz geboren. Die Rückkehr des Wolfs in weitere Regionen Deutschlands erfolgte nicht etwa über die durchaus vorhandenen Naturschutzgebiete, sondern vor allem über Truppenübungsplätze als ökologische Trittsteine. Das belegt eine im Februar 2019 veröffentlichte Studie von Wildbiologen um die Wolfsexpertin Ilka Reinhardt. Die Forscherinnen und Forscher zeigen, dass die ersten Wolfsreviere in neu besiedelten Regionen immer zuerst auf Truppenübungsplätzen lagen.
Die Daten belegen auch, dass Truppenübungsplätze den Wölfen Schutz vor Wilderei bieten. Von den zwölf im Zeitraum zwischen 2000 und 2015 gewilderten Wölfen starben sechs in ungeschützten Bereichen, sechs in Naturschutzgebieten und kein einziger auf Truppenübungsplätzen. Das könnte daran liegen, dass die Jagd auf Truppenübungsplätzen großflächig durch den Bundesforst organisiert wird, während in Naturschutzgebieten (mit Ausnahme der Nationalparks) die Reviergrößen ähnlich wie im übrigen Land oft nicht größer als 75 bis 150 Hektar sind.
Das kann nach Angabe der Wolfsexperten dazu führen, dass ein einziges Wolfsrudel sein Territorium mit mehr als 100 Jägern teilen muss. Obwohl die meisten Jäger den Schutzstatus des Wolfs respektierten, steige so die Gefahr von Wilderei. Die Wildbiologen rechnen zudem mit einer beträchtlichen Dunkelziffer erschossener Wölfe und empfehlen, auf stillgelegten Truppenübungsplätzen das großräumige Jagdregime aufrechtzuerhalten.
Ein Wolfsrudel gegen 100 Jäger
Die größten Naturschutzgebiete in Deutschland liegen an den Küsten von Nord- und Ostsee und im Gebirge wie dem Ammergebirge und den Allgäuer Hochalpen. Nur wenige Schutzgebiete im Inland, etwa die Nationalparke Müritz, Bayerischer Wald oder die Lüneburger Heide, umfassen eine Schutzgebietsfläche von mehr als 20 000 Hektar. Da können die größten Truppenübungsplätze locker mithalten, etwa Bergen in Niedersachsen (28 700 Hektar), Lieberose in Brandenburg (25 750 Hektar, stillgelegt) oder Grafenwöhr in der bayerischen Oberpfalz (22 800 Hektar).
Grafenwöhr wird von US-amerikanischen Truppen genutzt, und manche bezeichnen den Übungsplatz schon als »bayerische Serengeti«, weil auf der ausgedehnten Grassteppe im Zentrum des Übungsplatzes rund 7000 Rothirsche umherstreifen. Das vom Bundesforst in Kooperation mit dem Institut für Wildbiologie der Universität Göttingen entwickelte Geländemanagement schließt eine fast ganzjährige Jagdruhe auf der 9000 Hektar großen Grasfläche ein. Dadurch hält sich das Rotwild mit Vorliebe im offenen Grasland auf und frisst dort aufkommende Sträucher und Bäume. Eine Win-win-Situation, denn so wird nicht nur das Grasland offen gehalten, sondern auch der Jungwuchs in den Wäldern geschont.
In den 30 Jahren seit dem Ende des Kalten Kriegs wurden in Deutschland viele Truppenübungsplätze aus der militärischen Nutzung genommen. Zusammen mit weiteren Flächen etwa in Bergbaufolgelandschaften oder am Grünen Band, der ehemaligen innerdeutschen Grenze, bilden sie das so genannte Nationale Naturerbe. Das Nationale Naturerbe ist keine Schutzgebietskategorie, sondern ein Sammelbegriff für besonders wertvolle Naturflächen aus dem Eigentum des Bundes, bei denen auf Privatisierung verzichtet wurde und die stattdessen dem Naturschutz unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurden.
Militärische Nutzung ist gut für die Natur
Seit der Wende konnten so 156 000 Hektar unter Schutz gestellt werden, davon 117 000 Hektar ehemalige Militärflächen. Rund die Hälfte dieser Flächen wird von der gemeinnützigen Naturerbe-Tochter der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) verwaltet; um den Rest kümmern sich der Bundesforst, verschiedene Naturschutzorganisationen, Stiftungen oder die Bundesländer. Die Eigentümer der Naturerbeflächen sind auch für deren Erhaltung und Pflege verantwortlich; in Abstimmung mit dem Bundesamt für Naturschutz (BfN) entwickeln sie die erforderlichen Maßnahmen.
Der Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung sieht weitere 30 000 Hektar naturschutzfachlich wertvoller Flächen zur Übertragung in das Nationale Naturerbe vor, hierunter voraussichtlich auch 10 000 Hektar ehemalige Militärflächen. Sonst scheint sich das Zeitfenster für die Überführung von Militärflächen in Naturschutzgebiete angesichts der aktuellen weltpolitischen Lage langsam zu schließen. So war der hauptsächlich von britischen Truppen genutzte Truppenübungsplatz Senne bei Paderborn schon als neuer Nationalpark im Gespräch, bevor im Sommer 2018 entschieden wurde, die militärische Nutzung zu verlängern.
»Solange Militärflächen beübt werden, gelten sie als für den Naturschutz gesichert. Problematisch wird es erst, wenn sich das Militär zurückzieht und es konkurrierende Nachnutzungen gibt«Katharina Kuhlmey
Für die Natur in der Senne sei das aber nicht von Nachteil, meint Katharina Kuhlmey von der thüringischen Naturstiftung David: »Solange Militärflächen beübt werden, gelten sie als für den Naturschutz gesichert. Problematisch wird es erst, wenn sich das Militär zurückzieht und es konkurrierende Nachnutzungen gibt.« Die Naturstiftung David mit Sitz in Erfurt führt seit rund 20 Jahren eine Datenbank zu allen naturschutzrelevanten Militärflächen in Deutschland und ist selbst Eigentümerin des ehemaligen Truppenübungsplatzes Rödel in Sachsen-Anhalt, der seit dem Jahr 2008 zum Nationalen Naturerbe Deutschlands zählt.
Die Herausforderungen auf ehemaligen Militärflächen sind vielfältig. Es gilt einen guten Mittelweg aus Erhaltung und Pflege nährstoffarmer, offener Landschaften und der natürlichen Sukzession zu finden. Mit natürlicher Sukzession beschreiben Ökologen das, was passiert, wenn der Mensch sich ganz heraushält. Auf lange Sicht würde so zumeist ein Wald entstehen.
Besonders bedrohte Lebensräume sind aber gerade Offenlandschaften wie Heiden, Binnendünen oder Magerrasen. Diese speziellen Lebensräume stehen als Teil des europäischen Schutzgebietsnetzwerks Natura 2000 unter Naturschutz, und es besteht die Verpflichtung, sie zu erhalten und zu pflegen. Würde man sie der natürlichen Sukzession überlassen, würden sie binnen weniger Jahre durch Sträucher und Bäume überwachsen und so mitsamt den dort lebenden spezialisierten Arten verloren gehen. Dazu gehören viele bedrohte Vogelarten wie Wiedehopf, Raubwürger oder Brachpieper.
Wilder Wald und artenreiches Offenland
In manchen Fällen können Pflegemaßnahmen wie Entbuschung, Beweidung und Mahd durch die Ernte von Holz oder Heidekraut gegenfinanziert werden. Das ist aber eher die Ausnahme als die Regel. Neben Steuern und Versicherungen müssen Personal und Maschinen bezahlt werden. Große Teile der stillgelegten Truppenübungsplätze sind zudem immer noch mit Munitionsresten belastet. Die müssen erst einmal entfernt werden, bevor man die Flächen überhaupt betreten kann. Das wird, aus Kostengründen und um Störungen zu vermeiden, oft nur an ausgewählten Wegen oder im Bereich von Zäunen gemacht. So sorgt das explosive Erbe automatisch dafür, dass sich die Natur in den munitionsbelasteten Bereichen weiter ungestört entwickeln kann.
Für Tiere und Pflanzen mag eine militärische Sperrzone von Vorteil sein, für naturverbundene Bürger ist das Betretungsverbot nicht unbedingt eine gute Nachricht. Schließlich will man gerne teilhaben und die vielfältige Natur mit eigenen Sinnen genießen. In dieser Hinsicht sind stillgelegte Truppenübungsplätze wie etwa die Döberitzer Heide direkt vor den Toren Berlins oder Münsingen auf der Schwäbischen Alb besser dran. Dort hat man die Munitionsreste zumindest teilweise beseitigt, so dass die Besucher in den ausgewiesenen Bereichen gefahrlos auf Entdeckungstour gehen können.
Katharina Kuhlmey betont die gute Zusammenarbeit mit dem Bund und den Naturschutzverbänden untereinander: »Um das Nationale Naturerbe zu sichern, ziehen alle an einem Strang, und man sieht echte Fortschritte.« Einen ihrer Lieblingsplätze findet die Geografin unweit ihres Büros in Erfurt auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Hohe Schrecke. In dem naturnahen Wald leben Wildkatzen, Schwarzstörche, Hirschkäfer und diverse Fledermausarten. »Es ist einfach wunderbar zu sehen, wenn man da draußen ist, wie vielfältig sich diese ehemals militärisch genutzten Flächen entwickeln.«
Lebensraum durch Kahlschlag und Brände
Für ihre Schießübungen brauchen die Soldaten große Bereiche mit freier Sicht wie Heiden, Wiesen oder Sandflächen. Dazu wird meist im Zentrum aktiver Übungsplätze eine Fläche durch Mahd, Beweidung oder Feuer nahezu frei von Gehölzen gehalten. Gerade diese Offenlandbereiche sind in unserer von Wäldern und Landwirtschaft geprägten Landschaft sonst Mangelware. Entsprechend viele seltene Arten siedeln sich an.
Strukturvielfalt ergibt sich auch durch erst einmal zerstörerisch anmutende Ereignisse wie Granatenexplosionen oder Brände. Neue ökologische Nischen entstehen, etwa für Wildbienen, die offene, sonnenbeschienene Lebensräume brauchen, oder für den Schwarzen Kiefernprachtkäfer, dessen Larven sich nur in frisch verbrannten Bäumen wohl fühlen. Um eine verkohlte Kinderstube für ihren Nachwuchs zu finden, tragen diese Käfer am Hinterleib spezielle Infrarotsensoren, mit denen sie aus mehreren Kilometern Entfernung Waldbrände aufspüren können.
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