Trypophobie: Igitt, Löcher!
Julia war etwa elf Jahre alt, als es zum ersten Mal passierte. Nach der Schule kam sie in die Wohnung ihres Vaters in Malmö, Schweden, setzte sich aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein. Am Bildschirm erschien ein Cartoon-Mann mit einem enormen Kopf. Auf seinem Kinn hatte er riesige Risse. Julia ekelte der Anblick so sehr, dass sie sich fast übergeben musste. Sie schloss ihre Augen und wechselte schnell den Kanal.
Seither sieht sie etwa alle drei oder vier Monate etwas, was sie einfach nicht ertragen kann. Manchmal sind es Risse, ein andermal Muster von Löchern und Punkten oder Szenen aus Unterwasser-Fernsehfilmen, die zum Beispiel Gruppen von Seepocken zeigen. Einmal telefonierte sie gerade, als sie etwas so Schreckliches sah, dass sie ihr Handy quer durch den Raum warf. Niemand, den sie kannte, schien diese seltsame Reaktion zu haben. Was war mit ihr los?
Eines Tages, sie war mittlerweile Anfang 20 und lebte in London, kam ihr damaliger Freund nach der Arbeit durch die Haustür. »Julia!«, rief er. »Ich weiß jetzt, was du hast!«
Für die Abneigung gegen Loch- oder Rissbildungen, die mit Gefühlen von Angst und Ekel einhergeht, gibt es einen Namen: Trypophobie. Das Phänomen ist relativ neu; erstmals tauchte der Begriff 2013 in der Fachliteratur auf. Psychologen erkennen eine Reihe von spezifischen Ängsten an, die das Leben von Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Trypophobie zählt aktuell noch nicht dazu. Derzeit ist nicht einmal klar, ob es sich um eine echte Phobie handelt. Als solche bezeichnet man psychische Störungen, bei denen Menschen auf einen bestimmten Auslöser mit übermäßiger Angst reagieren. Manche Phobien, zum Beispiel die Furcht vor Spinnen, gehen sowohl mit Ekel als auch mit Angst einher. Trypophobie basiert aber allein auf Ekel, vermuten manche Forscher.
Die Abneigung auslösen kann alles Mögliche: eine Weihnachtskugel oder das Bild eines Wespennestes, frei gelegte Ziegelsteine in einer Wand, Blasen im Kuchenteig oder die Art und Weise, wie Wasser nach einer Dusche über die nackte Schulter perlt. Neben Objekten im realen Leben empfinden viele Betroffene Bilder als besonders problematisch. Fotos von Lotossamenkapseln werden oft als Trigger genannt. Die sehen fast aus wie ein Duschkopf mit extragroßen Löchern, aus denen ovale Samen hervorlugen. Das »Lotos boob«-Meme – ein gefälschtes Foto, bei dem die Struktur einer Samenkapsel auf eine nackte weibliche Brust montiert wurde – sorgte 2003 für Aufsehen, nachdem es mit der erfundenen Geschichte über eine Parasiteninfektion per E-Mail verbreitet wurde.
Zu Trypophobie gibt es bisher nur wenige Forschungsarbeiten. Eine davon könnte erklären, warum dieses Meme so hohe Wellen geschlagen hat: Sie bestätigte, dass Löcher auf der Haut stärkeren Ekel auslösen als solche auf leblosen Objekten wie Felsen. Der Effekt ist noch drastischer, wenn Bilder von Löchern über die von Gesichtern gelegt werden.
Ohne das Internet hätte das »Lotos boob«-Bild erst gar nicht so viele Menschen erreicht. Über das World Wide Web können sich auch psychogene Störungen – Leiden, die körperliche oder verhaltensbedingte Symptome haben, ihren Ursprung aber in der Psyche haben – wie ein Virus auf dem gesamten Globus ausbreiten. Psychogene Massenerkrankungen sind zwar nichts Neues: Von der Straßburger Tanzwut von 1518 bis zu den zuckenden Teenagermädchen 2011 in New York, immer wieder treten solche eigentümlichen Störungen auf. Doch über das Internet sind Milliarden von uns potenziellen Auslösern ausgesetzt, egal wo wir uns befinden. Und jeder mit einem internetfähigen Gerät wird zum möglichen Verbreiter.
World Wide Web: Helfer oder Verstärker?
Im Netz finden sich aber auch Menschen in Onlinecommunitys zusammen, die allesamt mit ähnlichen Beschwerden kämpfen. Es existieren zum Beispiel Gruppen von Personen, die unter rätselhaften Syndromen wie der Morgellons-Krankheit (eine eingebildete Hautveränderung) leiden. Trypophobie-Betroffene tauschen sich ebenfalls in solchen Netzwerken aus. Unklar ist allerdings, wie das Internet zur Entwicklung des Phänomens beigetragen hat: Erzeugt es Betroffene – ist Trypophobie also ein Produkt der digitalen Welt? Oder breitet sich vor allem das Wissen um die Löcherangst über das Internet aus? Auf diese Fragen gibt es keine einfache Antwort.
In London griff Julias Freund zu seinem Laptop und tippte etwas in eine Suchmaschine. Er wählte ein Video aus den Ergebnissen aus und klickte auf Play. Julia hielt gerade mal zehn Sekunden durch, bevor sie in Tränen ausbrach und aus dem Raum lief. Der Clip war einer von vielen Trypophobie-»Tests«, die man im Netz findet. Es handelt sich in der Regel um eine Reihe von Trigger-Bildern – vom Lotosblütensamen bis zum Abwaschschwämmchen (am Ende des Textes finden Sie einige solcher Aufnahmen).
Selbst Löcher auf leblosen Objekten wie Felsen lösen bei manchem Ekel aus
Nachdem Julia sich wieder beruhigt hatte, wurde ihr klar, was dieser Moment bedeutete. »Ich war überrascht, aber irgendwie glücklich«, sagt sie. »Es fühlte sich tröstlich an, dass es offenbar auch anderen Leuten so geht wie mir.«
Es gab nur einen Haken. Julia konnte online nicht ohne Weiteres nach Informationen zu ihrem Leiden suchen. Das Erste, was man nach der Eingabe von »Trypophobie« sieht, sind nämlich für Betroffene Ekel erregende Bilder. Deshalb übernahm ihr Freund diese Aufgabe und las ihr alles vor, was er zu dem Phänomen finden konnte. So entdeckte Julia eine der beiden großen Facebook-Gruppen für Menschen mit Trypophobie und schloss sich ihr an.
Das Leiden schleicht sich in den Alltag ein
Beim Überfliegen der Beiträge in Trypophobieforen zeigt sich schnell, wie sehr sich die Störung in alle Lebensbereiche der Betroffenen einschleicht. Manche leben in ständiger Angst, durch scheinbar harmlose Bilder oder Objekte aus der Bahn geworfen zu werden. Online und offline konfrontieren Menschen sie gern absichtlich mit für sie unerträglichen Fotos – um zu sehen, wie das Gegenüber darauf reagiert. Ein perfider Spaß. »Es wird nie lustig sein, mich mit Darstellungen von kleinen Löchern und Ähnlichem zu überraschen«, schreibt ein Nutzer in der Facebook-Gruppe. »Mich absichtlich in Panik zu versetzen, ist einfach nur grausam.«
Denken Sie an das letzte Mal, als Sie zutiefst angewidert waren. Was auch immer dieses Gefühl ausgelöst hat, etwas eint uns im Ekel: Das Gesicht, das Sie gemacht haben (und das Sie wahrscheinlich jetzt machen, während Sie sich an das Ereignis erinnern), ist das gleiche wie meines, als ich einmal barfuß in warmes Erbrochenes meiner Katze trat. Die Augenbrauen ziehen sich zusammen, die Lider verengen sich, und um die Nase entstehen kleine Fältchen. Die Oberlippe kräuselt sich – ein einzigartiges Merkmal von sichtbarem Ekel – durch Kontraktion eines Gesichtsmuskels namens Musculus levator labii superioris.
Forscher vermuten, wir hätten ein Gefühl von Ekel entwickelt, um Schadstoffe zu vermeiden. Die unsichtbare Gefahr lauert überall: in verdorbener Nahrung oder in giftigen Pflanzen, in Körperausscheidungen und in Leichen. Konfrontiert mit Dingen, die wir mit Krankheit oder Verfall assoziieren, verziehen wir instinktiv das Gesicht – als wollten wir verhindern, dass Keime durch Mund, Nase und Augen in unseren Körper gelangen. Wir würgen, sagen »igitt« und weichen zurück, um uns vor Krankheitserregern zu schützen. Diese Reaktion wird heute als wichtiger Bestandteil des so genannten »Verhaltensimmunsystems« angesehen. Darunter versteht man Denkprozesse und Handlungen, die dazu dienen, Parasiten und Infektionskrankheiten zu vermeiden.
Tom Kupfer, Emotionsforscher an der Freien Universität Amsterdam, nimmt an, dass Trypophobie eng an solche Krankheitsvermeidungsreaktionen gekoppelt ist. Er sieht das Syndrom als evolutionäre Anpassung, die es uns erleichtert, Parasiten zu meiden, die auf unserer Haut leben – Schmarotzer wie Kopfläuse oder Sandflöhe. So wie die typische Ekelreaktion uns von Dingen fernhält, die uns unter Umständen krank machen, könnten uns Hautreaktionen wie Juckreiz und Gänsehaut vor Parasiten schützen. Die Tierchen müssen gar nicht erst auf der Haut herumkrabbeln, damit wir das Kribbeln spüren. »Es scheint so, als reichten Bilder (von Parasiten) aus, um hautschützende Reaktionen auszulösen«, erklärt Kupfer, der den Effekt mit weiteren Wissenschaftlern untersucht hat.
Während Menschen ohne Trypophobie vor allem auf krankheitsbezogene Bilder mit Ekel reagieren (zum Beispiel Zecken, die sich am Ohr eines Hundes festgesaugt haben), haben Fotos von harmlosen Dingen wie Bimssteinen auf jene mit Trypophobie denselben Effekt. Kupfer glaubt, dass Betroffene in solchen Gegenständen Parasiten oder Infektionen sehen und deshalb mit Ekel reagieren, so wie jemand, der Angst vor Schlangen hat, erschrickt, wenn er aus dem Augenwinkel einen Gartenschlauch sieht.
Darüber, wie man mit potenziell verstörenden Bildern umgehen soll, gibt es selbst unter Betroffenen unterschiedliche Meinungen. Manche Internetforen verbieten derartige Darstellungen, andere sind voll damit. In einer der beiden wichtigsten Trypophobie-Facebook-Gruppen erklärt ein Nutzer seine eigene Hassliebe zu möglichen Auslösern. Er beschreibt seinen Drang, sich den Triggern immer wieder auszusetzen – weil er hofft, sich irgendwann zu »desensibilisieren«. Ein anderer schreibt: »Ich fühle mich zu solchen Bildern fast schon hingezogen. Mein Gehirn erwartet wohl, dass es irgendwann aufhören wird, mich zu stören, wenn ich sie genug betrachte.«
Ekel erregen, um ihn zu überwinden?
In den Trypophobie-Gruppen wird diese Art der »Konfrontationstherapie« heiß diskutiert. Schließlich helfen ähnliche Verfahren Menschen oft dabei, ihre Phobien, Posttraumatischen Belastungsstörungen oder Zwangsstörungen in den Griff zu bekommen. Ob sich der therapeutische Gewöhnungseffekt auch bei der Löcherangst einstellt, ist wissenschaftlich noch nicht eingehend untersucht. Einige Betroffene suchen deshalb in einem anderen Internettrend Trost: der so genannten »autonomous sensory meridian response«, kurz ASMR. Entsprechende Videos, die dem Zuschauer ein »Gehirnkribbeln« vermitteln sollen, sind zum Beispiel auf Youtube sehr erfolgreich. 13 Millionen Clips findet man auf der Plattform zu dem Thema. Das klassische ASMR-Repertoire umfasst Menschen, die essen, flüstern, sich die Haare bürsten, Papier falten, sowie die Malvideos eines amerikanischen Künstlers namens Bob Ross. ASMR-Anhänger behaupten, die Videos würden sie entspannen und sogar schlaffördernd wirken.
Julia surft kaum im Internet – aus Angst, über etwas Ekel Erregendes zu stolpern. »Ich brauche danach oft lange, um mich zu erholen«, sagt sie. Selbst offline ist sie vorsichtig. Sie liebt zwar Fernsehen und Filme, vermeidet aber alles, was möglicherweise Unterwasserszenen zeigt – für den Fall, dass darin Seepocken oder Tiere mit Mustern von lochähnlichen Punkten vorkommen. Aus dem gleichen Grund schwimmt sie nicht im Meer. Beim Familienurlaub in Ägypten blieb sie auf dem Boot, während ihre Geschwister schnorchelten. Einen Freund bat sie einmal, seinen Pullover zu wechseln, weil das Kleidungsstück ein Lochmuster hatte und sie es nicht ansehen konnte.
Betroffene leben in ständiger Angst vor scheinbar harmlosen Bildern oder Objekten
Julia studiert visuelle Kommunikation und hat eine atemberaubende Bildersammlung. Fotos von Wolkenkratzern, Oberlichtern, Treppenhäusern; sie kann sogar Einkaufswagen und Schirme schön wirken lassen. Manche Aufnahmen zeigen Löcher; die sind jedoch regelmäßig und sauber, wie das Innere einer Waschmaschine oder runde Fenster an der Vorderseite eines Gebäudes. Ich sage ihr, dass diese Bilder sehr geordnet aussehen. »Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht«, antwortet sie. »Ich liebe die Struktur auf den Bildern. Vielleicht geht es um Kontrolle.«
Auf die Frage, ob sie sich je wegen ihrer Trypophobie behandeln ließ, entgegnet sie überrascht: »Gibt es denn eine Therapie?« Tatsächlich haben Betroffene bisher nur wenige Optionen. Manche beruhigen sich, indem sie ASMR-Videos ansehen, oder betrachten viele entsprechende Bilder, um sich unempfindlicher zu machen. Denn Angebote für professionelle Unterstützung fehlen noch. Da Trypophobie bisher nicht als psychische Störung anerkannt ist, gibt es keine darauf zugeschnittenen Psychotherapien. Bis auf Weiteres wird Julia also so weitermachen wie bisher – und ständig versuchen, das zu vermeiden, was sie nicht ertragen kann.
Von »Gehirn&Geist« übersetzte und bearbeitete Fassung von Giles, C.: »Why do holes horrify me?« In: Mosaic (https://mosaicscience.com/story/trypophobia-why-clusters-holes-horrify-fear-disgust/) / CC BY 4.0 (https://creative commons.org/licenses/by/4.0/legalcode). Mosaic ist eine Publikation der Wellcome-Stiftung (https://wellcome.ac.uk).
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