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Ukraine-Russland-Krise: Ukrainische Wissenschaftler fürchten um Leben und Zukunft

Russland hat die Ukraine angegriffen. Wissenschaftler sorgen sich um Forschungs- und Reisefreiheit. Zu Recht. Das zeigen die Erfahrungen der Revolution von 2014.
Ukrainische Soldaten patrouillieren entlang der Frontlinie außerhalb von Switlodarsk während des schweren Beschusses durch separatistische Kräfte am 19. Februar 2022.

Update 24. Februar 2022: Das russische Militär hat begonnen, Luftwaffenstützpunkte in der Ukraine zu bombardieren. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief den Kriegszustand aus.

Während sich die Ukraine auf eine Invasion Russlands vorbereitete, hatten mehrere ukrainische Wissenschaftler gegenüber dem Magazin »Nature« erklärt, dass sie Maßnahmen ergreifen, um sich und ihre Arbeit zu schützen. Die Lage eskaliert acht Jahre nach einer Revolution, die die Ukraine dazu veranlasste, die Beziehungen zu Russland – auch im Bereich der Forschung – abzubrechen und engere Verbindungen zur Europäischen Union zu knüpfen. Ein neuer Konflikt könne die Ukraine in Aufruhr versetzen, fürchten Forscherinnen und Forscher. Und die Fortschritte, die man seit der Revolution in der Wissenschaft gemacht hat, könnten vergebens gewesen sein.

»Momentan sitze ich an einem warmen Ort und das Internet ist verfügbar. Ich weiß nicht, ob das morgen noch der Fall sein wird«, sagte Irina Jegorchenko, Mathematikerin am Institut für Mathematik in Kiew, das nahe der ukrainischen Grenze zu Belarus liegt, vor Veröffentlichung dieses Artikels.

Mittlerweile hat Russland militärische Ziele in der Ukraine angegriffen, dies geschah in der Nacht zum 24. Februar 2022 deutscher Zeit. Nach Angaben ukrainischer Grenzschützer wird die Ukraine auch an der Grenze zu Belarus attackiert. Der ukrainische Sicherheitsrat wiederum hatte erst am Tag zuvor die Ausrufung des landesweiten Ausnahmezustands angekündigt. In den Wochen zuvor hatte Russland an der Grenze zur Ukraine und in Belarus massiv militärisch aufgerüstet und so Spannungen gesteigert, die seit Jahren andauern. Anfang 2014 wurde der damalige russisch geprägte ukrainische Staatschef nach Protesten und zivilen Unruhen abgesetzt und das Land wählte eine pro-europäische Regierung. Im selben Jahr marschierte Russland in die Ukraine ein und beschlagnahmte die Halbinsel Krim.

Forschungseinrichtungen auf der Krim, die zuvor von der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine geleitet wurden, wurden unter russische Kontrolle gestellt. Die Kämpfe in den ostukrainischen Regionen Luhansk und Donezk dauern an. Der Konflikt führte dazu, dass 18 Universitäten aus Luhansk und Donezk in andere Teile des Landes verlegt wurden, wobei viele Forscher ihre Wohnungen und Labors verloren. Die meisten wissenschaftlichen Mitarbeiter einer vertriebenen Universität – der Nationalen Universität Vasyl' Stus Donetsk, die sich jetzt in Vinnytsia befindet – sind Menschen, die gezwungen waren, das Land zu verlassen, und die ihren Besitz, ihren Lebensunterhalt und ihre familiären Bindungen verloren haben, sagt Roman Fedorovich Hryniuk, der Rektor der Einrichtung.

Infolge des Konflikts brachen viele ukrainische Forscher ihre Verbindungen zu Russland ab und knüpften neue Beziehungen zu ihren Kollegen in Europa, den Vereinigten Staaten und China. »Es war schmerzhaft, etablierte Beziehungen zu verlieren und neue aufzubauen, aber es gab uns einen neuen Blickwinkel«, sagt Illya Khadzhynov, Vizerektor für wissenschaftliche Arbeit an der Universität. Im Jahr 2015 trat die Ukraine dem Flaggschiff-Forschungsförderungsprogramm der EU bei, wodurch ihre Wissenschaftler die gleichen Rechte zur Beantragung von Fördermitteln haben wie EU-Mitglieder.

»Wir wissen, dass wir weniger Mittel für die Forschung haben werden, weniger Möglichkeiten zu reisen und keine Chance auf interne Konferenzen in der Ukraine«Irina Jegorchenko, Mathematikerin

Putin hat Luhansk und Donezk als unabhängige »Volksrepubliken« anerkannt

Kurz vor der ersten Veröffentlichung dieses Artikels befanden sich etwa 13 0000 russische Soldaten an der Grenze zur Ukraine und in Weißrussland, was von westlichen Kommentatoren als ein Akt der Aggression angesehen wurde. Der russische Präsident Wladimir Putin hat die beiden Regionen Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine als unabhängige »Volksrepubliken« anerkannt. Der Kremlchef unterzeichnete am 20. Februar 2022 nach einem Antrag der Separatisten ein entsprechendes Dekret. Zudem hat Putin angeordnet, Truppen in die Ostukraine zu senden.

»Es herrscht Kriegsgefahr. Ich habe das Gefühl, dass ich morgen oder in zwei Tagen sterben könnte, aber ich kann nichts dagegen tun«, sagt Jegorchenko. Sie halte es zwar für sinnlos, sich vorzubereiten, dennoch hält die Mathematikerin elektronische Geräte wie Smartphones und Powerbanks aufgeladen und steht in ständigem Kontakt mit ihrer Familie. »Das machen alle Wissenschaftler«, fügt sie hinzu.

»Die russischen Spannungen sollen Chaos in der Ukraine zu stiften und der wirtschaftlichen Lage schaden. Wir wissen, dass wir weniger Mittel für die Forschung haben werden, weniger Möglichkeiten zu reisen und keine Chance auf interne Konferenzen in der Ukraine«, sagt sie. Aber insgesamt versuche sie, sich keine Sorgen zu machen, und arbeite mehr als sonst, um mit der Situation fertigzuwerden. »Mathematik ist eine gute Therapie.«

An der Nationalen Agraruniversität Sumy, die 30 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt ist, wurden die Mitarbeiter darin geschult, wie sie sich im Falle von Anfeindungen verhalten sollen. Die Universität hat Pläne für die Evakuierung der Mitarbeiter aus dem Gebäude in Bombenschutzräume erstellt. Es gibt auch Pläne, einzigartige wissenschaftliche Geräte und biologische Proben aus der Region zu bringen.

»In privaten Gesprächen sagen die Wissenschaftler, dass sie Koffer mit Dokumenten und lebenswichtigen Dingen gesammelt haben«, sagt Yurii Danko, ein Wirtschaftswissenschaftler an der Einrichtung. Die Koffer enthielten Kleidung, Medikamente, Werkzeuge, Mittel zur Selbstverteidigung und Verpflegung. Russland werde nicht einmarschieren, davon ist Danko überzeugt, doch sollte es passieren, wären viele Forschende gezwungen, aus ihren Häusern in die von der Ukraine kontrollierten Gebiete umzuziehen, um weiterarbeiten zu können, oder ins Ausland zu gehen. »Im Falle einer Besetzung werden die Wissenschaftler nicht für den Feind arbeiten«, fügt er hinzu.

Der Versuch, Ruhe zu bewahren

Weiter westlich, in der Stadt Lwiw nahe der polnischen Grenze, sagt der Informatiker Oleksandr Berezko, dass viele die Spannung spüren, aber versuchen, Ruhe zu bewahren. »Es mag seltsam klingen, aber der Krieg hat vor acht Jahren begonnen, nicht jetzt.«

»Viele Forscher werden die Ukraine verlassen, und das wird sehr schlecht sein«Wladimir Kusnezow, Biologe

Berezko, der an der Nationalen Polytechnischen Universität Lwiw arbeitet, plante für Ende März ein kleines Treffen für etwa 20 Nachwuchsforscher, um über offene Wissenschaft zu diskutieren; nun wird es wahrscheinlich abgesagt. »Die ukrainische Forschung ist nicht in bester Verfassung, und viele Leute versuchen, unser Forschungssystem so zu entwickeln, dass es sich europäischen und weltweiten Standards annähert«, sagt er. Im Fall eines Krieges wird sich die Regierung vorrangig um die Streitkräfte kümmern und den Menschen helfen, zu überleben.

Die Situation zwischen seinem Land und der Ukraine sei inakzeptabel, sagt Wladimir Kusnezow, Biologe am K. A. Timirjasew-Institut für Pflanzenphysiologie in Moskau. »Sie geben den Wissenschaftlern kein Geld. Viele Forscher werden die Ukraine verlassen, und das wird sehr schlecht sein.« Auch er sagt, es werde nicht zu einer Invasion kommen, und hofft, dass sich die Situation bald stabilisieren wird.

Obwohl die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern abgenommen hat, versuchen Forschende in der Ukraine, nicht zu zeigen, dass sie mit russischen Kollegen in Kontakt stehen, »um sich und ihre Familien nicht in Gefahr zu bringen«, sagt Kusnezow.

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