Umfrage unter IPCC-Mitgliedern: Top-Klimafachleute eint die Skepsis
Als Einwohnerin von Medellín kann Paola Arias den Klimawandel direkt vor ihrer Haustür beobachten. Die Niederschlagsmuster ändern sich und bedrohen die Wasserversorgung ihrer kolumbianischen Heimatstadt, gleichzeitig nagt ein steigender Meeresspiegel an den Küsten des Landes. Zuversichtlich ist Arias, selbst führende Klimawissenschaftlerin, nicht gerade: weder, dass die globalen Entscheidungsträger die Klimaerwärmung aufhalten, noch, dass ihre Regierung deren Folgen in den Griff bekommt. Sie rechnet mit massenhafter Migration von Klimaflüchtlingen und Unruhen, weil der Klimawandel die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter aufmachen wird.
Angesichts dieser ungewissen Zukunft grübelte sie schon vor Jahren über die Frage, ob sie eigene Kinder haben möchte. »Meine Antwort war nein«, sagt die Forscherin von der Universität von Antioquia in Medellín.
Arias gehört zu den 234 Autorinnen und Autoren des Berichts, den der Weltklimarat (IPCC) im August 2021 veröffentlicht hat. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe I des 6. Sachstandsberichts machen deutlich, dass der Welt die Zeit davonläuft, will sie die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels noch verhindern.
Andere renommierte Klimaforscher teilen Arias Sorgen. Das zeigt eine Umfrage, die das Fachmagazin »Nature« im Vorfeld des UN-Klimagipfels COP26 anonym unter den 233 noch lebenden IPCC-Autoren durchführte. Antworten kamen von 92 der angeschriebenen Fachleute, also rund 40 Prozent der Befragten. Aus den Reaktionen geht hervor, dass in der Forschergemeinde offenbar erhebliche Zweifel daran bestehen, dass die Regierungen die Erderwärmung nennenswert senken werden oder, anders gesagt, dass sie ihre politischen Versprechen einhalten, die sie im Rahmen des Pariser Klimaabkommen von 2015 gegeben haben.
60 Prozent der Befragten tippen auf drei Grad oder mehr
So gaben sechs von zehn Befragten an, sie würden bis zum Ende des Jahrhunderts eine Zunahme der durchschnittlichen Temperatur um mindestens 3 Grad Celsius gegenüber vorindustriellem Niveau erwarten. Im Pariser Abkommen wurde dagegen beschlossen, die Erwärmung auf »deutlich unter 2 Grad Celsius« zu begrenzen.
88 Prozent der Befragten bezeichneten die globale Erwärmung als »Krise«. Fast genauso viele gaben an, mit katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels noch zu ihren Lebzeiten zu rechnen, knapp 50 Prozent sagten, die globale Erwärmung habe sie dazu gebracht, wichtige Lebensentscheidungen zu überdenken, etwa bei den Themen Wohnort und Kinderwunsch. Und mehr als 60 Prozent gaben an, der Klimawandel löse bei ihnen Angst, Kummer oder Stress aus.
Was politische Instabilität bedeutet, kann Arias oft schon von ihrem Bürofenster aus sehen. Einwanderer aus dem von Unruhen zerrissenen Venezuela ziehen hier auf der Suche nach Nahrung und Unterkunft durch die Straßen. Sich gegen eigene Kinder zu entscheiden, habe für sie auf der Hand gelegen. Viele ihrer Freunde und Kollegen sähen es ebenso. »Ich will damit nicht sagen, dass alle so entscheiden sollten, aber für mich ist die Sache abgeschlossen.«
Der Pessimismus, den die Mitglieder des Weltklimarats in der Befragung zum Ausdruck bringen, unterstreicht, wie sehr Hoffnungen und Erwartungen bei diesem Klimagipfel auseinanderklaffen. Beim G20-Treffen im Vorfeld hatte es schon keine weiterreichenden Zusagen gegeben, die erste Woche in Glasgow brachte dann eher magere Reduktionsziele. Vereinbarungen zum Kohleausstieg und zur Finanzierung von fossilen Energien im Ausland wurden von den großen CO2-Produzenten nicht mitgetragen. Vor allem aber muss sich in den kommenden Monaten und Jahren zeigen, ob die Staaten ihren eigenen Worten auch Taten folgen lassen. Um die Reduktionsziele Wirklichkeit werden zu lassen umzusetzen, braucht es eine nie da gewesene politische Mobilisierung auf nationaler Ebene.
»Die Regierungen geben grüne Versprechen ab. Konkrete Maßnahmen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen haben wir aber bisher noch nicht gesehen«, sagt Mouhamadou Bamba Sylla, IPCC-Autor und Klimamodellierer am African Institute for Mathematical Sciences in Kigali, Ruanda. Auch sein Heimatland Senegal habe mit viel Getue Anpassungspläne für den Klimawandel entwickelt. Ob sich aber etwas in der Praxis ändere? »Ich glaube nicht«, sagt Sylla.
Angst und Sorge vor dem Klimawandel auch bei den Fachleuten
Die von »Nature« befragten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehören der IPCC-Arbeitsgruppe I an, die die Ursachen und das Ausmaß des Klimawandels bewerten soll. Ihr im August 2021 veröffentlichter Bericht, dessen Schlussfolgerungen mit den Regierungen von 195 Staaten abgestimmt worden war, kommt zu dem Schluss, dass die Emissionen fossiler Brennstoffe beispiellose planetarische Veränderungen nach sich ziehen und die Menschheit bedrohen ebenso wie die Ökosysteme, die Ernährung und weitere Grundbedürfnisse sichern. »Ohne eine sofortige, rasche und umfassende Verringerung der Treibhausgasemissionen wird sich die Erwärmung nicht auf 1,5 Grad Celsius oder nicht einmal auf 2 Grad beschränken lassen«, heißt es im IPCC-Bericht. Allerdings, so betonte der IPCC bei der Ankündigung des Berichts, seien die Klimaziele immer noch in Reichweite.
Ein separater Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen vom 26. Oktober dieses Jahres prognostizierte, dass die bislang angekündigten Klimaschutzverpflichtungen die Erwärmung der Atmosphäre auf 2,7 Grad Celsius begrenzen könnten. In der ersten Woche des UN-Klimagipfels errechnete die Internationale Energieagentur (IEA), dass sich die Erderwärmung auf 1,8 Grad eingrenzen ließe, sofern sich alle Staaten an ihre aktuellen CO2- und Methanreduktionsziele halten würden. Auch der Climate Action Tracker, ein Zusammenschluss wissenschaftlicher und akademischer Organisationen, hat die jüngsten Zusagen auf der Klimakonferenz analysiert. Er schätzt nun die Wahrscheinlichkeit, dass es gelingt, die Erwärmung auf 2 Grad zu begrenzen, mit 34 Prozent ein – höher als zuvor, wenn auch nicht eben hoch. Und das alles wiederum nur unter der Bedingung, dass sich die Staaten tatsächlich an ihre eigenen Zusagen halten.
Angesichts der Historie gebrochener Klimaversprechen überrascht es kaum, dass die von »Nature« befragten Klimaexperten ihre Zweifel haben. Trotzdem sollte es uns Anlass zur Sorge sein, findet Diana Liverman, Geografin an der Universität von Arizona in Tucson. »Wenn sogar sie pessimistisch sind, sollten wir uns wohl noch einmal mehr Gedanken machen«, sagt sie.
Die »Nature«-Umfrage hat allerdings ihre Grenzen. Die Meinung von 60 Prozent der IPCC-Autoren wurde beispielsweise nicht erfasst. Auch meldeten sich zwei der Angeschriebenen unabhängig voneinander bei »Nature« und kritisierten, dass Meinungen an Stelle von Forschungsergebnissen abfragt würden. Und alle, die an der Umfrage teilnahmen, antworteten als Privatpersonen und nicht in ihrer Funktion als Vertreterinnen und Vertreter des IPCC. Trotzdem liefert sie eine aufschlussreiche Momentaufnahme über die Stimmung in einem nennenswerten Teil der Autorenschaft des IPCC-Berichts.
Es gibt auch positive Signale in den Umfrageergebnissen
Bei aller Skepsis findet man in den Antworten auch Anzeichen für Optimismus. So rechnen immerhin knapp 20 Prozent der Befragten damit, dass die beteiligten Staaten die globale Erwärmung auf 2 Grad Celsius begrenzen können. Und vier Prozent glauben sogar, dass die Welt das extrem ambitionierte Ziel einer Erwärmung auf nicht mehr als 1,5 Grad erreicht – obwohl viele Fachleute das im Grunde schon bei der Unterzeichnung des Pariser Abkommens im Jahr 2015 abgeschrieben hatten.
Charles Koven, Klimawissenschaftler am Lawrence Berkeley National Laboratory in Kalifornien, stützt seine Hoffnung auf Fortschritte in Wissenschaft und Technik und auf eine sich wandelnde öffentliche Meinung. Erfreulich sei auch die recht neue Erkenntnis, dass die globale Temperaturkurve schnell abflachen dürfte, sobald die Menschheit keine Treibhausgase mehr ausstößt. Das steht im Gegensatz zur früheren Auffassung, wonach sich das träge Klimasystem noch Jahrzehnte erwärmen würde, selbst bei einem sofortigen Emissionsstopp. Koven verweist auch auf die sinkenden Kosten für nachhaltige Energiequellen und dass die öffentliche Meinung immer stärker Gegenmaßnahmen fordert angesichts spürbarer Auswirkungen des Klimawandels – in Kovens Heimat Kalifornien beispielsweise sind Waldbrände inzwischen zu einer Art Dauererscheinung geworden.
»Ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Mehrheit der Menschen wirklich um die Zukunft sorgt«, sagt Koven. »Und dass es den Regierungen möglich ist, sich zu koordinieren und die schlimmsten Folgen des Klimawandels abzuwenden.«
Zwei Drittel der Antwortenden gaben an, das öffentliche Bewusstsein über die Bedeutung des Klimawandels aktiv zu fördern: fast alle von ihnen durch Reden, Artikel oder Videos und rund 43 Prozent in Form von Briefen oder Petitionen, die sie mit unterzeichnet haben. 40 Prozent berichteten, sich direkt an Gesetzgeber gewandt zu haben, und 25 Prozent, schon einmal an einer Demonstration teilgenommen zu haben.
Bei der Frage, ob der ursprünglich als neutraler Sachverständigenrat ins Leben gerufene IPCC selbst mehr Lobbyarbeit betreiben sollte, sahen die Reaktionen jedoch ganz anders aus: Fast 75 Prozent der Befragten lehnten das ab. In einer Rückmeldung fand sich folgendes Lob für den IPCC: »Weil er sich auf die besten verfügbaren wissenschaftlichen Informationen konzentriert hat, konnte er eine Politisierung des Themas vermeiden, wie sie bei anderen wissenschaftlichen Themen aufgetreten ist, zum Beispiel beim Maskentragen oder Impfen gegen Covid-19.«
Wissenschaftskommunikation als größter Erfolg des IPCC
Gefragt nach den größten Erfolgen ihrer Arbeitsgruppe I des IPCC, die sich primär mit der Wissenschaft vom Klimawandel selbst befasst, nannten fast 40 Prozent der Antwortenden die Kommunikation mit Öffentlichkeit und Politik über wissenschaftliche Themen. 27 Prozent bewerten auch die Art und Weise positiv, wie der IPCC wissenschaftliche Daten erfasst und aufbereitet.
Seit der Veröffentlichung seines ersten Berichts im Jahr 1990 hat der IPCC den Anteil der Ratsmitglieder aus dem globalen Süden schrittweise erhöht. Fast 80 Prozent der Befragten finden, dass der IPCC die Staatengemeinschaft angemessen repräsentiere. Arias sieht das anders. Ihrer Meinung nach könnte der IPCC mehr tun, um Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem globalen Süden aktiv zu rekrutieren. Sylla bescheinigt dem IPCC in dieser Hinsicht gute Arbeit, auch angesichts der Tatsache, dass es insgesamt nur wenige Klimafachleute im globalen Süden gibt. Allerdings könne die Organisation stärker noch vor Ort die Forschungsergebnisse vermitteln und auf politische Entscheidungsträger zugehen, wenn die Berichte erschienen sind. »Ich wünsche mir, dass der IPCC in dieser Hinsicht mehr zupackt«, sagt der Forscher aus Kigali.
Wie Arias kann auch Sylla die Auswirkungen politischer und wirtschaftlicher Instabilität am eigenen Herkunftsland ablesen. Sie hat dazu geführt, dass Menschen den Senegal in der Hoffnung auf ein besseres Leben verlassen und in überfüllte kleine Boote steigen, um das Land in Richtung der Kanaren zu verlassen. Und wenn es noch wärmer wird, werde es noch schlimmer kommen, fürchtet er. Zwar plant er gerade selbst ein Haus für sich und seine Familie – weit weg vom Meer und weitgehend überflutungssicher. Doch ob der Senegal wirklich der beste Ort ist, um den Unbilden des Klimawandels zu trotzen, davon ist er noch nicht überzeugt. Nur: Auch Europa und die Vereinigten Staaten werden aller Voraussicht nach von den unvermeidlichen Auswirkungen der globalen Erwärmung betroffen sein. »Da stellt sich die Frage«, sagt Sylla, »wohin soll man gehen?«
Alle Daten zur Umfrage finden sich in diesem Dokument. Umfrage: Richard Monastersky. Weitere Mitarbeit: Mackenzie White
Die deutsche Übersetzung des »Nature«-Beitrags wurde aktualisiert und um Zwischenergebnisse der UN-Klimakonferenz und ihre Bewertung ergänzt. (jad)
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