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Umstrittene Zahlen: Wo sind die 26 Millionen Elefanten hin?

Der Elefant ist ein Symbol für das Artensterben. Denn glaubt man viel zitierten Zahlen, dann ist seine Geschichte die einer drastischen Dezimierung. Eine exklusive Recherche offenbart jetzt: Die Zahlen für die vergangenen Jahrhunderte sind viel zu hoch.
Eine Herde von 6 Elefanten steht im gelblichen Savannengras unter einem Himmel, über den malerische Wolken ziehen
Die allermeisten Elefanten leben in Afrika. Wie viele der Dickhäuter vor mehreren hundert Jahren durch die Savanne zogen, lässt sich nur schätzen.

Anmerkung der Redaktion: Als Reaktion auf die Recherche hat »Our World in Data« die fragwürdigen Daten zurückgezogen und die Grafik korrigiert.

Einst soll es mehr als 26 Millionen Elefanten in Afrika gegeben haben. Das wäre fast ein Dickhäuter pro Quadratkilometer über den ganzen Kontinent gerechnet. Anfang des 20. Jahrhunderts soll sich die Zahl bereits drastisch auf zehn Millionen reduziert haben als Folge der Expansion der Landwirtschaft und der Jagd. Heute gibt es nur noch eine halbe Million Individuen. So erzählt es »Our World in Data«, eine viel zitierte Datenplattform an der University of Oxford. Ähnliche Zahlen und Schilderungen findet man überall: beim WWF, in der Presse, bei den Vereinten Nationen oder in Berichten von Regierungen und Nichtregierungsorganisationen. Sie dominieren die Geschichten über Elefanten.

Aber stimmen die Schätzungen überhaupt? Kann es wirklich sein, dass der afrikanische Kontinent einst rappelvoll mit Elefanten war? Wie können wir wissen, wie viele der Tiere es vor 50, 100 oder 500 Jahren gab? Oder haben die Zahlen vielleicht mehr mit kolonialen Stereotypen eines einst »unberührten« Afrikas zu tun als mit der Realität?

Die allermeisten Elefanten dieser Welt leben in Afrika. Die Zahl, wie viele es von ihnen geben soll, basiert seit den 1990er Jahren auf relativ soliden Schätzungen. Sie gehen mal hoch, mal runter, bewegen sich jedoch stets um eine Größenordnung von 400 000. »In Wirklichkeit dürften es etwas mehr sein«, meint Chris Thouless, der an der »African Elephant Database« arbeitet, dem wichtigsten Elefantenregister. Größtenteils erfolgen die Zählungen mit Kleinflugzeugen, weshalb den Erhebern einige Elefanten entgehen: »In Wäldern kann die Zahl Elefanten nur indirekt erhoben werden.«

Die Probleme beginnen bei den älteren Zahlen. So soll es 1979 noch etwa dreimal so viele Elefanten gegeben haben wie heute, nämlich 1,3 Millionen. Kaum eine Zahl hatte so viel Einfluss auf Maßnahmen zum Elefantenschutz – etwa die Verbote des Elfenbeinhandels und die militarisierte Bekämpfung von illegaler Jagd – wie diese Schätzung.

Die kontroversen 1,3 Millionen

Der Brite Iain Douglas-Hamilton war Anfang der 1970er Jahre Doktorand an der University of Oxford. Seine Promotion handelte von, natürlich: Elefanten in Afrika. Heute gilt er als Autorität auf dem Gebiet. Im Naturschutz ist er eine Legende. In den 1970er Jahren lebte er in Tansania und arbeitete dort für den WWF sowie die International Union for Conservation of Nature (IUCN).

Der WWF war damals eine noch junge Organisation, die sich dem Schutz wilder Tiere widmen wollte. Ein Schwerpunkt lag in Afrika, wo viele Länder gerade unabhängig von Großbritannien wurden, darunter elefantenreiche Staaten wie Kenia, Sambia oder Botswana.

Nur: Wie viele Elefanten in Afrika lebten, war völlig unklar. Der Naturschützer Rennie Montague Bere schätzte ihre Zahl auf gerade einmal 300 000, von denen die meisten in Nationalparks oder Schutz- und Jagdgebieten lebten. Diese Zahl war zu niedrig. Es fehlten etwa jene in den Wäldern.

Douglas-Hamilton und sein Team versuchten es mit einer Hochrechnung. Sie hätten »detaillierte Karten« von 35 Ländern gezeichnet, in denen Elefanten vorkommen, und dann »wahrscheinliche Dichten« hochgerechnet, schreibt er in einem Bericht. Diese Dichten lagen zwischen 0,001 und 5 Elefanten pro Quadratkilometer. So kamen sie auf ein »Minimum von 1,3 Millionen« Elefanten in Afrika.

Kann das so einfach sein?

»Die Zahl war kontrovers, hatte aber sehr viel Einfluss«Jason Bell, Ökologe

»Es war eine Zahl, die Iain Douglas-Hamilton damals mit seltsamen Rechnungen auf der Rückseite einer Serviette ermittelte«, sagt Jason Bell vom International Fund for Animal Welfare (Ifaw) heute. Chris Thouless, der für die von Douglas-Hamilton gegründete Nicht-Regierungsorganisation »Save the Elephants« arbeitet, räumt ein, dass es eine »informierte Schätzung« gewesen sei. Er meint: »Douglas-Hamilton hatte durch seine Flüge über die Savanne und Wanderungen durch die Wälder eine gute Vorstellung der Elefanten-Dichten in den jeweiligen Gebieten.«

So oder so: Die 1,3 Millionen entwickelten politische Schlagkraft. »Die Zahl war kontrovers, hatte aber sehr viel Einfluss. Denn sie besagte: Schaut nur, wie wir den Bestand der Elefanten dezimiert haben!«, erläutert Bell. Als die Zahlen in den folgenden Jahren fielen, hatte man Argumente, um rigoros gegen Wilderei vorzugehen.

Genau das passierte. Die Elephant Specialist Group der IUCN zählte 1987 noch 760 000 Elefanten und 1989 lediglich 608 000. Kaum jemand zweifelt daran, dass damals viele Elefantenpopulationen durch die Wilderei massiv geschädigt wurden. »In einigen Gegenden, in denen heute kaum noch Elefanten leben, gab es in den 1960er Jahren noch substanzielle Bestände – im Sudan etwa oder in der Demokratischen Republik Kongo«, sagt Thouless. Aber die regionalen Unterschiede waren groß, und die Schätzungen schwankten teilweise enorm. Im Süden Afrikas waren die Populationen stets stabil. In Zentralafrika dagegen soll es in den 1980er Jahren innerhalb von drei Jahren mal 440 000, dann 670 000 und dann wieder nur 380 000 Elefanten gegeben haben. Trotzdem etablierte sich – bis heute – die Überzeugung, in den 1980er Jahren seien jedes Jahr um die 100 000 Elefanten verloren gegangen.

Ebenso kontrovers wie die Zahlen war die Frage der Schuld. Iain Douglas-Hamilton vertrat die These, dass nicht das Bevölkerungswachstum die Elefanten verdrängte (schließlich nahm die Bevölkerung in Afrika vor allem in den Städten zu), sondern die Wilderei infolge politischer Instabilität und Korruption. Oder etwas konkreter: afrikanische und arabische Wilderer im Auftrag asiatischer Kunden. Im Tschad seien die Elefantenbestände als Folge des Bürgerkriegs kollabiert, schrieb Douglas-Hamilton in einer Studie. In der Zentralafrikanischen Republik hätten »Reiter aus dem Sudan und Tschad mit langen Speeren und automatischen Gewehren Elefanten geschlachtet«, im Kongo das Militär und im Sudan »Araber aus dem Norden« mit Kalaschnikows die Schutzgebiete überfallen.

Das war nicht völlig falsch, aus britischer Sicht allerdings auch eine sehr angenehme Erzählung: Kaum wurden die afrikanischen Staaten unabhängig, versanken sie in Chaos und Korruption, und ein Massenmord an den Elefanten begann.

Oder war alles sogar noch viel schlimmer?

Anfang der 1990er Jahre – die Debatte um das Verbot des Elfenbeinhandels lief gerade heiß, einige südafrikanische Staaten fühlten sich davon bevormundet – schrieb die Biologin Eleanor J. Milner-Gulland an der University of Oxford ihre Doktorarbeit. Milner-Gulland wollte berechnen, wie viele Elefanten es in Afrika in den zurückliegenden 200 Jahren gegeben hatte – und wie viele durch Jagd und Landwirtschaft verloren gegangen waren.

Die überzogenen 27 Millionen

Dazu nahm sie eine Karte, die Afrika in 20 Vegetationszonen (Phytochorien oder Florenreiche) unterteilt. Laut dem Bericht eines britischen Abenteurers und Jägers von 1903 sollen in 13 der Zonen Elefanten gelebt haben. Von Douglas-Hamilton übernahm Milner-Gulland die Elefantendichten pro Quadratkilometer, meistens zwei, und multiplizierte diese mit der Fläche der 13 Vegetationszonen. Das ergab 26,9 Millionen Elefanten – eine »maximale« Anzahl, wie die Biologin in ihrem Bericht schrieb, möglicherweise seien es auch nur halb so viele.

Diese 26,9 Millionen Elefanten entwickelten ein bizarres mediales Eigenleben. Wahrscheinlich sind sie es, die auf verschlungenen Pfaden in die Statistik von »Our World in Data« gewandert sind, von wo aus sie von zahlreichen Medien übernommen wurden. Bei »Our World in Data« ist dieser Wert für das Jahr 1500 eingetragen. Auf Nachfrage schreibt die Autorin des Artikels, Hannah Ritchie, man habe die Zahlen von der Website des Microsoft-Milliardärs Paul Allen übernommen (der ein Faible für Elefanten hatte). Die Seite ist zwar nicht mehr online und verwies auch nur auf einen Zeitungsartikel, der ebenfalls nicht mehr vollständig online ist. Es lässt sich aber vermuten, dass womöglich jemand das Jahr 1800 aus Milner-Gullands Studie mit dem Jahr 1500 verwechselt, 26,9 auf 26 Millionen gerundet und nicht beachtet hat, dass es eine hypothetische Maximalzahl ist. Das würde die 26-Millionen-Elefanten-Ente erklären.

»Das ist alles Quatsch, das ist Nonsens«, sagt Jason Bell über die Zahlen. »Niemand hat Studien zur Eignung dieser Lebensräume gemacht.« Niemand wisse, ob Elefanten im 19. Jahrhundert wirklich überall in den 13 Vegetationszonen gelebt haben könnten, geschweige denn, ob sie tatsächlich dort lebten.

»Die Annahme der Studie ist falsch«, urteilt auch Chris Thouless von »Save the Elephants«: »Sie wurde in der Vorstellung verfasst, dass in Afrika kaum Menschen lebten.« Dieses Bild von Afrika als weitgehend unberührter Kontinent war lange weit verbreitet. Dabei wissen wir nur wenig darüber, wie sich die Bevölkerung in Afrika im 19. Jahrhundert entwickelt hat.

Ein differenzierteres Bild

Thouless skizziert ein alternatives Szenario: Die Bevölkerung in vielen Teilen Afrikas könnte Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts viel größer gewesen sein als angenommen. Entsprechend war der Lebensraum für Elefanten kleiner. »Aber dann kam der Kolonialismus, und in der Folge schrumpften sowohl die Elefantenpopulationen stark als auch die Bevölkerung in Elefantengebieten, etwa wegen Seuchen oder Umsiedlungen«, sagt Thouless. Außerdem florierte die Elefantenjagd, man brauchte Elfenbein für Klaviertasten und Billardkugeln.

Doch schon Ende 19. Jahrhunderts wurden striktere Regeln gegen die Elefantenjagd eingeführt. Dadurch könnten sich die Bestände im frühen 20. Jahrhundert wieder erholt haben. Die 1,3 oder gar 3 Millionen von 1979 – so es sie denn wirklich gab – wären dann ein 100-jähriges Allzeithoch gewesen und nicht ein weiterer Tiefpunkt.

Wie viele Elefanten gab es dann also wirklich im 18. und 19. Jahrhundert? »Ich wäre überrascht von wenigen hunderttausend, aber wenige Millionen statt Zehnmillionen wären durchaus plausibel«, sagt Thouless.

Würde das stimmen, wäre die Geschichte der Elefanten eine komplett andere. Nicht eine von permanenter Ausrottung, sondern von Zunahmen und Abnahmen. Und vor allem eine, die komplizierter und für Europa unangenehmer ist, als dass Afrikaner, Araber und Asiaten einen Massenmord an den Elefanten begangen haben.

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  • Quellen

Douglas-Hamilton, I.:The African Elephant action plan. IUCN/WWF/NYZS: Elephant survey and conservation Programme, 1979

Douglas-Hamilton, I.:African elephants: population trends and their causes. Oryx 21, 1987

E. J. Milner-Gulland, E. J. und Beddington, J. R.:The exploitation of elephants for the ivory trade: an historical perspective. Proceedings of the Royal Society B 252, 1993

Stiles, D.:The ivory trade and elephant conservation. Environmental Conservation 31, 2004

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