Fischerei: Die Ostsee soll frei von Geistern werden
Immer wieder übersieht ein Schiff oder ein Sportboot die Markierungen in den Wellen und überfährt ein Stellnetz. Grundschleppnetze bleiben an einem Felsen oder gar einem Wrack hängen: Viele dieser Netze treiben ohne jede Kontrolle im Meer. "Geisternetze" nennen Wissenschaftler und Naturschützer solche Gebilde, die immense Schäden anrichten können. So fangen sich darin Meereslebewesen, die in den Maschen verenden. "In den Netzen siedeln sich auch rasch sehr kleine Organismen an, die wiederum größere anlocken", verdeutlicht Lars Gutow vom Alfred-Wegener-Institut (AWI), dem Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven die Lage. Das aber ruft bald noch größere Lebewesen von Fischen über Meeresschildkröten bis zu Seevögeln, Robben und Kleinwalen auf den Plan, die dort Fressbares vermuten. Verheddern sie sich in den Maschen, werden sie leicht zum nächsten Opfer des Geisternetzes.
Lars Gutow weiß, wovon er spricht. Beschäftigt der Forscher sich am AWI doch mit Organismen, die im Meer schwimmende Plastikabfälle besiedeln. Gemeinsam mit zwei Kollegen betreut er die Website www.litterbase.org, die wissenschaftliche Arbeiten rund um den Müll in den Meeren listet. Geisternetze wiederum sind nichts anderes als recht spezieller Plastikmüll im Meer. Was dieses Treibgut so speziell macht, erlebte Karl-Heinz Neumann, als er mit seinem Kutter im September 2016 zwischen der Seebrücke Ahlbeck auf der Ostseeinsel Usedom und der polnischen Grenze im Auftrag der Naturschutzorganisation WWF unterwegs war. Mehr als 1,7 Tonnen Stellnetze holten die Seeleute aus dem Wasser. In diesen Geisternetzen gefangene Barsche, Flundern und andere Fische konnte die Besatzung zum Teil noch lebend aus den Maschen befreien. Weit mehr aber waren bereits tot. Auf 20 Kilogramm lebende Fische kam die doppelte Menge an zum Teil schon erheblich verwesten Tieren. "Das Herausschneiden von solchen Kadavern ist wirklich übel", erinnert sich Andrea Stolte, die im WWF-Ostseebüro in Stralsund das Geisternetzprojekt betreut. Und das nicht nur an der Ostsee. Der Meereswissenschaftler Martin Thiel von der Universidad Católica del Norte im chilenischen Coquimbo jedenfalls stößt so gut wie überall im Südpazifik auf solche herrenlosen Netze. "Diese Geisternetze sind auch hier ein großes Problem", erklärt der deutsche Professor in Südamerika. "Gut, dass dieses Problem angepackt wird!"
Wie groß das Problem tatsächlich ist, zeigt eine Studie des polnischen WWF. Die Naturschützer stützten sich dabei auf eine Schätzung, nach der in Schweden jedes Jahr 0,1 Prozent aller Netze verloren gehen. Hochgerechnet auf alle Anrainer der Ostsee mit der Ausnahme Russlands schließen sie auf jährlich 5000 bis 10 000 Teile von Netzen, die in diesem Binnenmeer abhandenkommen. Wer sich ein wenig mit der Fischerei auskennt, sieht sofort die Dimension dieser Verluste: Deutsche Ostseefischer verankern häufig 500 bis 600 Meter lange Stellnetze, ihre polnischen und schwedischen Kollegen arbeiten mit deutlich größeren Stellnetzen, die einen oder zwei Kilometer lang sein können. Auch wenn davon nur ein Endstück abreißt, geistert dann durch das Binnenmeer ein weiteres Netz, das oft etliche Meter lang ist. Dazu kommen noch die Schleppnetze, die ein Trawler durch das offene Wasser zieht, um dort Fischschwärme zu fangen. Diese Geräte ähneln einem überdimensionalen Trichter, dessen Öffnung rund 100 Meter breit und etwa 60 Meter hoch ist und dessen Länge häufig bei 1500 Metern liegt. Am Meeresboden lebende Fische wie Dorsche werden mit Grundschleppnetzen gefangen, deren Öffnung ähnlich groß ist, während die Länge nur einige hundert Meter erreicht.
Fischer werden oft vom Sturm überrascht
Der Meeresgrund ist allerdings relativ häufig nicht spiegelglatt, sondern wartet mit Hindernissen von Felsen bis zu Schiffswracks auf. Bleibt ein Grundschleppnetz daran hängen, reißt es leicht ab – und schon schwimmt ein neues Geisternetz in der Ostsee. "Zum Glück kommt das relativ selten vor, weil die Position der meisten dieser Hindernisse heute dank GPS gut bekannt ist", erläutert Andrea Stolte. Die Fischer können ihnen daher ausweichen und stellen an besonders schwierigen Stellen den Fang manchmal sogar ganz ein. Ihnen ist das Risiko einfach zu groß, ein Netz zu verlieren, das leicht einen fünfstelligen Eurobetrag kostet. Aus genau dem gleichen Grund holen die Stellnetzfischer ihr Gerät auch ein, wenn ein Sturm aufzieht. Allerdings haben die heute längst sehr hohen Trefferquoten der Wettervorhersage ausgerechnet bei Wind und Regen eine Schwachstelle. Frischt der Sturm dann ein wenig früher auf als prognostiziert, kommt der Fischer unter Umständen zu spät, und eine frühe Böe hat sein Stellnetz vielleicht bereits abgerissen.
Nicht nur solche Geisternetze, sondern auch andere Gerätschaften aus der Fischerei bringen den Weltmeeren inzwischen Probleme. Und das nicht einmal unbeabsichtigt. AWI-Forscher Lars Gutow denkt dabei zum Beispiel an den Scheuerschutz, der den Abrieb von Grundschleppnetzen verhindern soll. Zum Schutz hängen die Hersteller synthetische Leinen unten an die Netze, die beim Schleppen die Berührung mit dem Grund puffern. Das klappt auch hervorragend, weil die Leinen selbst abscheuern. Dabei lösen sich Synthetikfasern, die ein paar Zentimeter bis einen halben Meter lang sein können. Im Meer aber erweisen sich diese Fasern ähnlich wie ganze Netze als ziemlich haltbar. Meerestiere verschlucken solche Fasern häufig, die sich bald verknäueln und schließlich die Verdauungsorgane verstopfen können. Größere Tiere scheinen auch Geisternetze zu schlucken. Als von Januar bis März 2016 an den südlichen Nordseeküsten 29 Pottwale strandeten, fanden Forscher in den Mägen von drei der verendeten Tiere jedenfalls alte Fischernetze.
Aber auch ohne Verschlucken können solche Begegnungen tödlich enden. "In der Nordsee sammeln Basstölpel häufig die Kunststofffasern aus dem Scheuerschutz von Netzen, um damit ihre Nester auf Helgoland zu polstern", schildert Lars Gutow eine solche Falle. Immer wieder verheddern sich dann die Tölpel mit ihren Füßen in ihrem Nistmaterial aus Kunststoff. Wenn sie sich nicht mehr befreien können, sterben sie qualvoll. Tauchen Seevögel nach den Fischen beim Geisternetz, verfangen sie sich leicht in den Maschen und ertrinken jämmerlich. Ähnlich geht es in solchen Fällen Schweinswalen, Robben und Meeresschildkröten, die zum Atmen ebenfalls an die Oberfläche müssen. Manchmal bleiben die Geräte auch an einem Wrack hängen, das aus dem Meeresgrund ragt. Ähnlich wie ein Zelt hängt das Netz dann oft über dem versunkenen Schiff. Für Fische und andere Meerestiere ist das natürlich ein tolles Versteck. Was wiederum Robben und Schweinswale anlockt, die sich in der Tiefe auf der Suche nach Beute leicht in den Maschen verfangen und ertrinken. Oder sie suchen unter dem Netz nach Beute und finden den Ausweg nicht mehr.
Schiffe in Gefahr
Darüber hinaus gefährden schwebende Geisternetze auch die Schiffe und deren Besatzungen auf den Meeren. Verwickeln sich die Maschen in der Schiffsschraube, ist das bei gutem Wetter zumindest sehr ärgerlich. "In einer stürmischen Nacht und vielleicht auch noch in der Nähe einer Küste mit gefährlichen Klippen und Unterwasserfelsen kann das schnell zu einer Katastrophe führen", erörtert Martin Thiel. Zudem sind solche Fallen sehr dauerhaft. "Erst nach rund 600 Jahren haben Geisternetze sich zersetzt", zeigt WWF-Spezialistin Andrea Stolte auf. Obendrein verschwinden sie nicht spurlos, sondern werden zu winzigen Fasern abgebaut. Meeresorganismen verwechseln diese Mikrofasern anscheinend mit etwas Fressbarem, nehmen sie auf und bringen sie so in die Nahrungskette. Über die Einflüsse der Mikrofasern auf die Organismen ist bisher nicht allzu viel bekannt. In Muscheln können sie zum Beispiel Entzündungen auslösen, in Fischen wirken chemische Zusätze im Plastik wie Hormone und beeinflussen die Entwicklung des Geschlechts erheblich. Ob das auch für Menschen Konsequenzen hat, die Organismen aus dem Meer essen, ist bislang unklar. Die Forschung zu den Auswirkungen von solchen synthetischen Teilchen im Wasser auf die Organismen im Meer läuft daher auf Hochtouren. Bis die Endergebnisse vorliegen, kann es aller Erfahrung nach aber viele Jahre dauern.
Auf diese Ergebnisse möchte der WWF nicht warten. Auch Martin Thiel in Chile und Lars Gutow in Bremerhaven sind überzeugt davon, dass längst genug Schäden durch Geisternetze und andere herrenlose Fischereiutensilien bekannt sind. Konkrete Maßnahmen sollten die Gefahren endlich verringern. Für den WWF heißt das in erster Linie, die vorhandenen Geisternetze einzufangen und aus dem Wasser zu holen. 101 Kutter tuckerten im Herbst 2016 im Auftrag des WWF Polen insgesamt 14 000 Stunden durch die Ostsee. Jedes der Schiffe zog einen mit Widerhaken versehenen Metallbolzen, der auf Kugeln über den Meeresgrund fuhr, durch die Ostsee. Sobald diese "Netzharke" auf ein Geisternetz traf, hielten die Widerhaken die Maschen fest und der Trawler konnte das Netz an Bord hieven. 270 Tonnen wogen die nassen Netze und sonstige Fischereiutensilien, die die Netzharken aus polnischen Gewässern fischten.
"Einfacher könnte man sich die Suche natürlich machen, wenn die Fischereinetze so markiert würden, dass sie nach einem Verlust leichter wiedergefunden werden können"Martin Thiel
Der Erfolg solcher Aktionen hängt allerdings auch vom Zufall ab, weil man die Geisternetze von Bord aus ja nicht sieht. Obendrein kommt er für Meeresschutzgebiete kaum in Frage, weil dort die Natur sich selbst überlassen bleiben soll. Das aber verträgt sich kaum mit einer Netzharke, die über den Grund geschleppt wird. Dort wiederum können Taucher im Auftrag des WWF oder des Bundesamts für Naturschutz aktiv werden, die an solchen Netzen vorsichtig einen Bergeanker befestigen, den ein Kutter mit seiner Netzwinde dann samt Geisternetz an Bord hievt. Diese Methode ist allerdings sehr teuer und zeitintensiv; man sollte also wissen, wo sich der Einsatz der kostspieligen Taucher lohnt.
Deshalb erstellt der WWF Deutschland im EU-Projekt MARELITT Baltic gemeinsam mit Partnern in Polen, Schweden und Estland eine freie Seekarte für die südliche Ostsee, die im Internet eingesehen werden kann. In dieses Werk fließen zum Beispiel die Hindernis-Karten ein, die viele Fischer für den Eigengebrauch ermittelt haben und auf denen Unterwasserhindernisse verzeichnet sind. Genau dort verzichten die Fischer meist aufs Fischen: Das Risiko, ein weiteres Netz zu verlieren, ist ihnen zu groß. Auf dieser Karte kennzeichnet der WWF zudem die Gebiete mit einer sehr dichten Fischerei, weil es dort wahrscheinlicher als in anderen Gebieten ist, auf Geisternetze zu stoßen. Auch Standorte von bekannten Wracks und von Flächen, auf denen Munition deponiert wurde, soll die Karte zeigen. Sie wird voraussichtlich im Herbst 2017 fertig; dann sollte man Regionen gut identifizieren können, in denen sich die Suche nach Geisternetzen lohnt. Gleichzeitig beginnt der WWF eine Studie, mit welchen Methoden Geisternetze am besten geborgen werden und wann es für das Ökosystem Meer sinnvoll ist, die Netze wieder aus dem Wasser zu ziehen.
Bei den bereits geborgenen Geisternetzen untersucht der WWF inzwischen, ob sie recycelt werden können. Mit ausgedienten Netzen aus Nylon funktioniert das hervorragend. Allerdings enthalten Geisternetze jede Menge anderen Materials, das eine Wiederverwertung erheblich erschweren kann. "Einfacher könnte man sich die Suche natürlich machen, wenn die Fischereinetze so markiert würden, dass sie nach einem Verlust leichter wiedergefunden werden können", überlegt Martin Thiel in Chile derweil. Genau an solchen Methoden arbeitet mittlerweile die Fischereigemeinde Simrishamn in Schweden und denkt darüber nach, kleine Plaketten an den Maschen zu befestigen. Auch akustische Signalanlagen könnten montiert werden, die eine Ortung erheblich erleichtern sollten. Nach EU-Recht muss ein Fischer ein verloren gegangenes Netz erst einmal selbst bergen. Gelingt das innerhalb von 24 Stunden nicht, muss er den Verlust den Behörden melden. Genau das aber unterbleibt häufig. Schließlich könnte die Behörde eine teure Bergungsaktion starten, die der Fischer als Verursacher bezahlen müsste. Damit jedoch droht ihm die Pleite. Da überlegt man sich eine Meldung schon gut. "Vielleicht sollte man einen Fonds schaffen, der solche Suchaktionen finanziert", sagt Andrea Stolte.
Selbst abbauende Netze als Lösung
"Eventuell gehört die Zukunft auch Netzen, die aus Laktit-Kunststoff hergestellt werden, der sich innerhalb von vier Jahren im Meer abbauen könnte", beschreibt Andrea Stolte einen neuen Ansatz in der Fischereitechnik, der gerade erforscht wird. Da Stellnetze ohnehin nach wenigen Jahren aussortiert werden, wäre das eine Art Königsweg. Erste Versuche mit viel versprechenden Ergebnissen gibt es bereits. Allerdings möchte der WWF nicht dauerhaft als Geisternetzjäger aktiv sein. "Wir wollen mit unseren Initiativen vielmehr Wege aufzeigen, auf denen wir die Probleme mit Geisternetzen meistern können", stellt Jochen Lamp klar, der das Ostseebüro des WWF Deutschland in Stralsund seit einem Vierteljahrhundert leitet. "Diese Methoden sollten später andere übernehmen", meint der Naturschützer und denkt dabei zum Beispiel an den Fischereifonds der Europäischen Union.
Lars Gutow jedenfalls findet es sehr wichtig, dass der WWF diese Vorreiterrolle übernommen hat. Schließlich drängt die Zeit. "Wir arbeiten unter anderem mit Tourismus-Unternehmern zusammen, die Expeditionskreuzfahrten in die Polargebiete anbieten", teilt der AWI-Forscher mit. Diese schicken seit einiger Zeit immer wieder Bilder nach Bremerhaven, die sehr verblüffende Dinge zeigen: Geisternetze am Ufer des Nordpolarmeers in Spitzbergen, in denen ein Rentiergeweih zum Teil noch mit einem Stück des Schädelknochens steckt. Die Rentiere finden auf Grund des Klimawandels und häufiger werdender Regenfälle heutzutage auch im Winter an Land häufig schlecht Nahrung. Also kommen sie an die Ufer, um Braunalgen abzuweiden, und verheddern sich dort leicht in Geisternetzen, die auch in Spitzbergen häufig angeschwemmt werden. Da es auf der Inselgruppe im hohen Norden auch noch einige tausend immer hungrige Eisbären gibt, überleben die Rentiere dieses Unglück meist nicht lange. Geisternetze richten inzwischen also sogar an Land erhebliche Schäden an. Das ist ein weiterer Grund, den Kampf gegen dieses gefährliche Treibgut aufzunehmen.
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