Tiefsee-Wesen: Unbekannte Lebensform in Alkohol entdeckt
In alten biologischen Proben aus der Tiefsee haben Forscher zwei ganz neue Arten von Meeresbewohnern identifiziert. Die Verwandtschaft der beiden vage quallenähnlichen Tiere gibt ihnen allerdings große Rätsel auf: Die Gallertwesen gehören weder zu den Rippenquallen noch zu den echten Nesseltieren, sondern vielleicht zu einem ganz eigenen, zuvor unbekannten Ast vom Baum des Lebens. Oder sie sind sogar Überlebende der längst ausgestorben geglaubten Präkambriumfauna, die vor allen modernen Lebensformen die Erde besiedelt hatte.
Gesammelt wurden die beiden knapp zentimetergroßen Wesen bereits 1986 aus 400 und 1000 Meter Tiefe in der Tasmansee durch einen Unterwasserroboter. Routinemäßig zeichneten Meeresbiologen anschließend spannende Exemplare aus den angelandeten Proben per Hand, konservierten sie in Formaldehyd und lagerten sie in Alkohol. Einige der Funde ließen dem an der Exkursion damals beteiligten Meeresbiologen Jean Just von der Universität Kopenhagen aber keine Ruhe. Nach einer neuen Analyse der Proben und der Auswertung der alten Zeichnungen kommen der Forscher und seine Kollegen nun zu dem Schluss, dass zwei der Fundstücke zu einer neuen Gattung namens Dendrogramma gehören. Ihre Anatomie ist dabei derart merkwürdig, dass sie keinem bekannten Tierstamm eindeutig zugehörig sind.
Dendrogramma enigmatica und D. discoides zeigen eindeutig anatomische Eigenschaften von niederen vielzelligen Tieren, ergab die Augenschau der Tierexemplare. Sie bestehen zum Beispiel – wie Quallen – vor allem aus gallertartigem Material zwischen nur zwei so genannten Keimblättern, die typische Gewebe und Organe formen: Höhere Organismen besitzen dagegen drei Keimblätter. Es fehlt den urtümlichen Tieren zudem ein erkennbares Nervensystem; dafür haben sie einen einfachen kombinierten Mund-After, der in einem weit verzweigten Verdauungstrakt blind endet. Dieser ist in einer Körperscheibe untergebracht, an der vage symmetrisch zwei spiegelbildliche Hälften auszumachen sind. Eindeutig aber gehören die Tiere nicht zu den so genannten Bilateria. Zu diesem grundsätzlich "bilateralsymmetrischen", also aus zwei spiegelbildlichen Körperseiten bestehenden Organismen zählen alle höheren Vielzeller außer den Nesseltieren, Schwämmen, Rippenquallen – und eben den beiden neuen Dendrogramma-Arten.
Eine endgültige Zuordnung in einen neu zu bildenden Tierstamm halten die Forscher um Just für verfrüht – sie möchten nun zunächst nach weiteren Dendrogramma-Exemplaren im Meer auf die Suche gehen. Eine noch genauere Untersuchung der beiden Exemplare dürfte keine neuen Erkenntnisse zu Tage fördern: So sind die Exemplare leider durch eine Lagerung in hochprozentigem Alkohol geschrumpft. Zudem ist dadurch nun auch keine Erbgutanalyse mehr möglich, die vielleicht Aufschluss über die Verwandtschaft zu anderen Organismen geliefert hätte. Zudem bringen Genanalysen selten schnelle und eindeutige Klarheit, geben die Forscher zu bedenken: So konnten sich Taxonomen trotz moderner DNA-Sequenzdaten noch nicht einmal endgültig über die Verwandtschaftsbeziehungen der lange bekannten basalen Tierstämme einigen. Von dieser Einigung hängt aber auch ab, wo die Dendrogramma-Arten im System platziert werden müssen.
Nicht ganz auszuschließen sei auch eine recht fantastische Möglichkeit, meinen die Forscher im Diskussions-Abschnitt ihrer Arbeit: Würden die Dendrogramma-Spezies zum Fossil werden, so würden sie womöglich ganz ähnlich aussehen wie die fossilen Überreste einiger spezieller Ediacara-Vertreter. Die nur in Form uralter Fossilien bekannte Ediacara-Fauna lebte im Präkambrium vor mehr als 500 Millionen Jahren, teils lange vor den ältesten Vertretern der modernen Vielzellergruppen. Bisher nahm man an, dass die offenbar bizarren Kreaturen sämtlich ausgestorben sind und einem anderen Entwurf der Vielzeller Platz machten, die dann die heutigen Tierstämme bildeten. Vielleicht, spekulieren Just und Kollegen, leben aber sogar heute noch, versteckt in kaum zugänglichen Habitaten, einige wenige Enkel der Ediacara-Wesen: die Dendrogramma.
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