Besiedlung Europas: Und Homo sapiens war noch früher da
Einige hunderttausend Jahre lang streiften die Neandertaler und ihre Vorfahren konkurrenzlos durch Europa. In wärmeren Epochen jagten sie Pferde, Hirsche und andere Tiere – selbst in nördlichen Gefilden dieses Kontinents. Und rückten die Gletscher der Eiszeit nach Süden vor, zogen sie sich in mildere Regionen zurück. Erst als anatomisch moderne Menschen in Europa auftauchten, schien sich das Blatt zu wenden. Vor rund 39 000 Jahren waren die Neandertaler dann verschwunden.
Welche Rolle die Neuankömmlinge beim Untergang der robust gebauten Frühmenschen spielten, sorgt seit Langem für Diskussionen. Zumal bisher nicht genau bekannt war, wann überhaupt der erste Homo sapiens Europa erreicht hatte. Ebenso war unklar, wie lange sich die anatomisch modernen Menschen und die Neandertaler den europäischen Kontinent teilten. Doch neue Funde aus Bulgarien liefern nun Antworten auf diese Fragen. Jean-Jacques Hublin und Helen Fewlass vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) haben zusammen mit ihren Kollegen zwei Studien in »Nature« und »Nature Ecology & Evolution« vorgelegt, die spektakuläre neue Erkenntnisse für diese Phase der Altsteinzeit bringen: Nach den Analysen der Wissenschaftler lebten moderne Menschen bereits vor 45 000 Jahren in der Bacho-Kiro-Höhle an den nördlichen Ausläufern des Balkangebirges. Demnach waren anatomisch moderne Menschen mindestens 4000 Jahre früher als bisher angenommen nach Europa gelangt. Der älteste Nachweis für die Ankunft von Homo sapiens stammte bislang aus Rumänien – ein zirka 40 000 Jahre alter Unterkiefer. Zwar gibt es in Großbritannien eine frühere Fundstätte, die etwa 43 000 Jahre alt sein könnte, und eine in Italien mit einem Alter von rund 44 000 Jahren, aber beide Datierungen stehen auf wackligen Füßen und werden in der paläoanthropologischen Forschung stark diskutiert.
Jäger in der Höhle
In der Bacho-Kiro-Höhle hatten Archäologen bereits zwischen 1971 und 1975 Knochen von Menschen gefunden. Die Stücke gingen allerdings verloren. Obendrein hatten Altersbestimmungen widersprüchliche Daten ergeben. Daher haben Jean-Jacques Hublin und seine Kollegen gemeinsam mit Archäologen der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften 2015 mit neuen Ausgrabungen in der Höhle begonnen, die sich an den Ausläufern des Balkans befindet. Das Gebirge durchzieht auf rund 600 Kilometer in Ost-West-Richtung das heutige Bulgarien und Serbien etwa 100 Kilometer südlich der Donau. Die höchsten Gipfeln ragen über 2000 Meter auf.
Nahe dem Felsengrund der Höhle stießen die Forscher auf eine dunkle Schicht, in der sie rund 14 000 Knochenfragmente frei legten. Dort fanden sie auch zahlreiche Werkzeuge aus Feuerstein und Knochen, ferner Perlen und einen Anhänger, der aus den Zähnen eines Höhlenbären gefertigt worden war. Direkt unter dieser »Schicht I« entdeckten die Forscher in der älteren »Schicht J« einen Backenzahn. Der Form nach musste er einst im Kiefer eines modernen Menschen gesessen haben. An vielen Knochensplittern entdeckten die Forscher zudem Kratzer und Schnittspuren. Offenbar hatte man mit kleinen Werkzeugen das Fleisch von den Knochen gelöst. Doch wer hatte die Klingen und Schaber einst in Händen gehalten – Neandertaler oder moderne Menschen? Und wann hatten die Jäger in der Höhle gearbeitet?
Knochenbestimmung über Umwege
Es galt, das Alter der Knochen und anderer organischer Funde genau zu bestimmen. Dafür wenden Archäologen meist die Radiokohlenstoffmethode an. Sie beruht auf dem radioaktiven Zerfall des in jedem Organismus enthaltenen Kohlenstoff-14-Isotops. Sind Proben nur einige Jahrtausende alt, liefert das Verfahren sehr genaue Ergebnisse. Doch umso älter ein Fund ist, desto ungenauer wird das Resultat – und bei Material, das mehr als 50 000 Jahre zurückreicht, lässt sich die C-14-Methode kaum noch anwenden. Außerdem hatten die Forscher zwar eine beachtliche Menge an Knochenfragmenten dokumentiert, aber fast alle waren zu winzig für eine anatomische Analyse. Von welcher Tierart oder Menschengruppe die Stücke stammen, ließ sich nicht bestimmen. »Beide Probleme gingen die Forscher um Jean-Jacques Hublin mit extrem aufwändigen und hochmodernen Analysen an – und wurden mit tollen Ergebnissen belohnt«, beurteilt Michael Petraglia vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena das Vorgehen seiner Kollegen. Er selbst war an den Forschungen nicht beteiligt.
Zunächst zur Identifikation der Knochen: Die Paläoanthropologen nutzten dafür ein noch junges Verfahren namens »ZooMS«, kurz für »ZooArchaeology by Mass Spectrometry«. Dazu löste Frido Welker von der Universität Kopenhagen mit einem gepulsten Laser ein wenig Material von den Knochen und Zähnen ab. Aus den Proben ermittelte er einen Fingerabdruck der im Knochenkollagen enthaltenen Proteine. Denn diese unterscheiden sich von Tierart zu Tierart in der Abfolge ihrer Aminosäurebausteine – und damit auch in ihrer Masse, die sich wiederum mit einem Massenspektrometer bestimmen lässt. Mit Hilfe von ZooMS fischte Frido Welker aus 1271 Knochen- und Zahnsplittern sechs Fragmente heraus, die von Menschen stammen mussten.
Die ersten Europäer der Menschenform Homo sapiens
Als Nächstes ging es daran, das Alter der Proben zu bestimmen. Dazu bereitete Lukas Wacker von der Eidgenössisch-Technischen Hochschule in Zürich 95 Knochen für einen Beschleuniger-Massenspektrometer auf, mit dem sich spezielle und präzise Radiokohlenstoffdatierungen vornehmen lassen. Elf dieser Knochenproben ließen die Forscher um Hublin zudem in einem weiteren Labor mit derselben Methode analysieren. Das Ergebnis beider Untersuchungen war gleich: Die menschlichen sowie die tierischen Knochen aus »Schicht I« sind zwischen 45 820 und 43 650 Jahren alt. Sie stammen demnach aus einer Zeit, für die bisher in Europa keine Spuren von anatomisch modernen Menschen eindeutig nachgewiesen waren.
Doch die Forschergruppe wollte auf Nummer sicher gehen: Sind die Knochensplitter tatsächlich Homo sapiens zuzuweisen und nicht vielleicht dem Neandertaler? Daher versuchten die EVA-Forscher Matthias Meyer und Svante Pääbo alte DNA aus den Proben zu gewinnen. Ihnen gelang es zwar noch nicht, das Erbgut aus dem Zellkern zu entschlüsseln, dafür aber das mitochondriale Erbmaterial (mtDNA) aus dem Zahn und fünf der sechs Knochensplittern. Diese DNA liegt in den Mitochondrien. Die kleinen Organellen versorgen die Zelle mit Energie, gehören aber nicht zum Zellkern, der das eigentliche, in Chromosomen verpackte Erbgut in sich trägt. Von der mtDNA ist zudem immer deutlich mehr erhalten als von der DNA aus dem Zellkern. Die von Meyer und Pääbo ermittelte Gensequenz der mtDNA zeigte dann klar: Die Bruchstücke stammen eindeutig von Homo sapiens.
Heute trägt niemand mehr in Europa diesen mitochondrialen Erbguttyp in sich (während er in Indien sehr häufig vorkommt), wie es die Paläogenetiker aus den 45 000 Jahre alten Knochen extrahiert haben. »Möglicherweise waren Gruppen von hochmobilen Jägern und Sammlern aus Afrika in einer Zeit, in der die Sahara und die Arabische Wüste grüner als heute waren, über Vorderasien und den Bosporus nach Europa gekommen«, vermutet Michael Petraglia, der die Geschichte des anatomisch modernen Menschen vor allem in Indien, Teilen Südasiens und Afrika unter die Lupe nimmt. »Da Klimaveränderungen die Wüsten immer wieder ergrünen ließen, könnten in diesen Zeiten immer wieder Wellen moderner Menschen aus Afrika nach Europa und Asien gewandert sein«, sagt Petraglia.
Nicht alle Einwanderer überlebten aber auch in der neuen Heimat – oder setzten sich genetisch durch, wie im Fall der Menschen aus der Bacho-Kiro-Höhle. Offenbar waren andere Gruppen erfolgreicher gewesen, die Jahrtausende später aus Afrika nach Europa kamen. Sie brachten auch ein anderes Gensignal mit. »Es ist durchaus möglich, dass sich die wenigen Alteingesessenen zwar mit den Nachzüglern mischten, ihr Erbguttyp aber nach etlichen Generationen aus der gesamten Gruppe verschwunden war«, erklärt Michael Petraglia.
Die Mitbringsel der Vorhut
Die Einwanderer von vor 45 000 Jahren hinterließen auf dem neuen Kontinent zwar nicht ihren genetischen Fingerabdruck, dafür brachten sie neue Kulturtechniken mit. So fanden die Ausgräber in der Bacho-Kiro-Höhle sehr viele Steinspitzen und Klingen, die für die Jagd oder auch zum Entbeinen der Beute verwendet wurden. Den hochwertigen Feuerstein für diese Geräte hatten die Menschen aus 180 Kilometer Entfernung geholt. Sie bearbeiteten den Stein mit einer Schlagtechnik, die Archäologen bereits von altsteinzeitlichen Fundplätzen in der Levante und Vorderasien kennen. Die Funde aus Bulgarien belegen die älteste bekannte Nutzung in Europa.
Wenige Generationen später tauchten gleichartig gefertigte Werkzeuge in weiten Teilen Eurasiens auf – von Mitteleuropa bis in die Mongolei und nach Sibirien. Offensichtlich hatte Homo sapiens seinen Siegeszug gen Norden vor mindestens 45 000 Jahren begonnen. Und möglicherweise fiel der Startschuss schon 2000 Jahre früher: Jean-Jacques Hublin und seine Kollegen haben jedenfalls in einer älteren Fundschicht der Bacho-Kiro-Höhle Hinweise darauf gefunden, dass die erste Welle der Neuankömmlinge bereits vor 47 000 Jahren nach Europa aufgebrochen war.
Innovationsschub für den Neandertaler
Rund 8000 Jahre danach waren die letzten Neandertaler ausgestorben. »Bis dahin waren sie offenbar etliche Male auf moderne Menschen gestoßen«, sagt Michael Petraglia. Dafür gibt es auch eindeutige Belege: So fanden Höhlenkletterer in der Oase-Höhle in Rumänien 2002 den Unterkiefer eines Homo sapiens, aus dem EVA-Forscher Svante Pääbo und seine Kollegen 2015 die Zellkern-DNA isolieren konnten. Ihr Ergebnis war eine kleine Sensation: Zu den Vorfahren dieses Menschen, ungefähr vier bis sechs Generationen zuvor, gehörte ein Neandertaler. Dieser Unterkiefer wurde zwar auf ein Alter von zirka 40 000 Jahren datiert, allerdings noch nicht mit der präzisen Radiokarbondatierung von Lukas Wacker. Unabhängig davon belegt der Fund, dass sich Neandertaler und modernen Menschen vermischt hatten.
Doch nicht nur das: Die Neandertaler scheinen auch von den modernen Menschen gelernt zu haben. In der 45 000 Jahre alten »Schicht I« der Bacho-Kiro-Höhle in Bulgarien fanden Jean-Jacques Hublin und seine Kollegen auch einen Anhänger, den die modernen Menschen damals aus den Zähnen eines Höhlenbären gefertigt hatten. Verblüffend ähnlichen Schmuck schätzten etwa auch die Bewohner der Grotte du Renne, die vor knapp 41 000 Jahren im Herzen des heutigen Frankreich lebten. Jean-Jacques Hublin und Frido Welker haben bereits 2016 die damaligen Bewohner als Neandertaler identifiziert. In den Jahrtausenden, in denen beide Menschenlinien nebeneinander in Europa lebten, hatten die Neandertaler also offenbar die Idee von modernen Menschen übernommen, sich mit solchen Bärenzahn-Anhängern zu schmücken. Gerade dieser Fund liefert eine neue Perspektive für die Frage: Wie viel »Kunst« pflegten die Neandertaler? Erst 2018 datierten Experten Striche, Punkte und Handumrisse an den Wänden von drei spanischen Höhlen in die Zeit von vor 64 800 bis 66 700 Jahren. Nicht Homo sapiens, sondern der Neandertaler musste diese Höhlenbilder gefertigt haben – unabhängig vom modernen Menschen. Dass sie aber wohl auch Einfluss auf die Neandertaler ausgeübt hatten, legen nun die Neufunde aus der Bacho-Kiro-Höhle nahe. Warum sie dann vor 39 000 Jahren verschwanden, bleibt aber bisher noch ein Rätsel.
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