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Zoologie: Unerwartete Seitensprünge

Es gibt Lebewesen, da kann der eine nicht ohne den anderen, so scheint es. Und wenn der eine sich einen schicken neuen Evolutionstrick aneignet, zieht der andere schnell nach, so eng ist die Partnerschaft. Doch die zahlreichen, meist höchst kuriosen Beispiele für dieses bedingungslose Miteinander der Koevolutionäre bröckeln dahin.
Blattschneiderameisen im Pilzgarten
Manche Ameisen sind begnadete Gärtner. Unermüdlich schnipseln und häckseln sie Blätter klein, schleppen sie zu ihrem Bau, wo die grüne Fracht noch weiter zerkaut und schließlich in Pellet-Form aufgehäuft wird.

Und wozu das Ganze? Um ihre Mitbewohner zu verwöhnen: Das schwammartige Gebilde dient spezialisierten Pilzen als Substrat, das sie wie Schimmel durch- und überziehen. Von den Ameisen umsorgt, geschützt und gepflegt, haben sie hier ein sicheres Zuhause gefunden und spendieren ihren Hütern als Dank dafür das täglich' Brot. Macht sich eine junge Ameisenkönigin auf, nimmt sie sogar ein Stückchen Pilz mit als Basis für das neue Volk.

Eine eingeschworene Gemeinschaft also, in der jeder dem Wohle des anderen dient – und gleichzeitig völlig auf ihn angewiesen ist. Ohne Pilz bleiben die Ameisen hungrig, ohne Ameisen drohen dem Pilz Krankheit und Tod durch verschiedenste Keime. Ein Paradebeispiel für Koevolution, bei der sich verschiedene Organismen in Abhängigkeit voneinander entwickeln und sich vor allem häufig immer enger aneinander anpassen – bis sie kaum noch ohne den anderen existieren können.

Aber so schön, eindrucksvoll und offensichtlich manche Lehrbuchbeispiele auch sein mögen, manchmal sind sie schlicht falsch. Vor diesem Schicksal sind auch derart gut untersuchte und beschriebene Blattschneiderameisen-Pilzgärten keineswegs gefeit. Und mögen viele Wissenschaftler unberechtigt das Umschreiben ganzer Grundlagenwerke fordern, Patrick Abbot von der Vanderbilt-Universität in Nashville und seinen Kollegen steht es nun offenbar zu, zumindest das Koevolutionskapitel ein bisschen redigieren zu dürfen.

Die Wissenschaftler hegten Zweifel, dass die begärtnerten Pilze sich hinsichtlich ihres Fortbestehens wirklich ganz in die Hand ihrer Hüter begeben haben beziehungsweise sogar völlig darauf verzichten sollten. Schließlich könnte sich das als ganz schön riskant erweisen: Was, wenn die Kolonie eingeht? Oder Krankheitserreger drohen – die erhöhte Anfälligkeit der Pilze gegenüber manchen Keimen wurde gern als Folge der mangelnden Auffrischung des Erbguts durch sexuelle Paarungspartner gedeutet.

Denn einem Klon, den diese Pilze letztendlich bilden, fehlt die Variabilität, die ihm bei neuen Herausforderungen hilft: Er ist angewiesen auf die Wurmkur mit Ameisen eigenen Bakterien. Ein riskantes Konzept, sollten die Gärtner einmal ihren Dienst nicht mehr leisten können.

Als die Forscher nun aber einen genaueren Blick ins Erbgut warfen, fanden sie das Räderwerk der geschlechtlichen Fortpflanzung keineswegs stillgelegt: Die damit verknüpften Gene hatten nicht verstärkt Mutationen angehäuft, wie bei Nullbeschäftigung zu erwarten wäre. Auch zeigten sie offenkundliche Spuren von Austausch mit Artgenossen.

Eine Beobachtung, die Abbot und seine Kollegen im Freiland bestätigen konnten. Pilz-Populationen, die sich den Ameisen zufolge isoliert und teilweise nur aus einer winzigen Stammgründerschar heraus entwickelt hatten, entpuppten sich als wahre Weltbürger: Exemplare von Kuba beispielsweise schienen sich noch eifrig mit den Verwandten vom südamerikanischen Festland auszutauschen, und auf Guadeloupe entdeckten die Wissenschaftler gar eine ganze Pilzclique mit Familiensinn, die unabhängig von der strikten Trennung ihrer Ameisengärtner ein flottes gemeinsames Liebesleben führen.

Wie sie das rein biologisch gesehen bewerkstelligen, ist den Wissenschaftlern noch nicht ganz klar – angesichts des Einfallsreichtums in diesem Organismenreich kein Wunder. Doch auch angesichts der zahlreichen, aus dem Labor bekannten "parasexuellen" Möglichkeiten, halten die Forscher den Weg über Sporen, die nach einer Meiose in anderen Ameisengärten empfangsbereite Partner zum Genaustausch finden, für den wahrscheinlichsten. Vielleicht gibt es sogar wie in anderen Fällen frei lebende Verwandte, doch hielten die sich bislang auch vor den neugierigsten Blicken versteckt.

Jedenfalls zerplatzt damit die bisherige Vorstellung von zwei Spezialisten, die nur miteinander wirklich lebensfähig sind. Eher sieht es danach aus, dass ein und derselbe Pilz sich von verschiedenen Gärtnern hegen und pflegen lässt – und damit es für ihn nicht gefährlich einseitig wird, leistet er sich nebenher so manchen Seitensprung.

Ein herber Schlag für die Ameisen? Wohl kaum. Außerdem bleibt ihnen der Trost, dass sie sich damit in die wachsende Schar solcher offener Gemeinschaften einreihen, die früher als strikte Zweierbeziehung galten. Starke Abhängigkeit klingt einfach nicht nach Erfolgsrezept.

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