Sexualität: Unfreiwillig Jungfrau
Irgendwann habe ich angefangen, meine Geburtstage zu hassen. Schon wieder ein Jahr, wo du es nicht hingekriegt hast«, erzählt Dominik*. Der 30-Jährige arbeitet in einer IT-Firma. (»Das klingt total nach dem Klischee!«, fügt er hinzu.) Dominiks Haar ist wuschelig, die Stimme sanft. Bevor er spricht, überlegt er lange – und antwortet in wohlgeformten Sätzen. »Das mit dem Sex« sei bis vor Kurzem ein leidiges Thema für ihn gewesen. Denn er hatte noch nie welchen – obwohl er wollte. Im letzten Jahr änderte sich sein Leben dann radikal. Mittlerweile lebt er in einer festen Beziehung. Dorthin war es allerdings ein sehr langer Weg.
Glaubt man den Versprechen von Online-Datingbörsen von Parship bis Tinder, sollte es Menschen wie Dominik überhaupt nicht geben. Sex scheint allgegenwärtig und leicht verfügbar – man muss ihn nur wollen. Dennoch gibt es einen gewissen Prozentsatz an Menschen, die am Ende ihrer Jugendzeit sexuell noch völlig unerfahren sind, dem vermeintlichen Überangebot zum Trotz. Wie viele genau das betrifft, ist schwer zu sagen. Ein Team des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf befragte mehr als 1100 Deutsche über 18 Jahre zu ihrer Sexualität. Fünf Prozent der Männer und zwei Prozent der Frauen hatten noch nie Sex mit einem anderen Menschen. Dabei wurden auch Oral- und Analverkehr sowie Handstimulation berücksichtigt.
»In der Altersgruppe bis 30 Jahre war der Anteil der Abstinenten am größten«, erklärt die Psychologin und Studienautorin Susanne Cerwenka. Mit anderen Worten: Jenseits der 30 gibt es nur noch wenige Menschen ohne sexuelle Erfahrungen. Eine Erhebung des Münchner Universitätsklinikums rechts der Isar richtete sich ausschließlich an 45-jährige Männer – mehr als 12 000 nahmen teil. 0,7 Prozent hatten bislang weder mit einer Frau noch mit einem Mann Geschlechtsverkehr.
Für die Sexlosigkeit gibt es verschiedene Ursachen. Manche haben schlicht kein Interesse – ein Phänomen, das als Asexualität bezeichnet wird. Andere leben bewusst enthaltsam, beispielsweise aus religiösen Gründen. Und dann gibt es Menschen, die eigentlich eine Beziehung oder Affäre haben wollen, denen das jedoch einfach nicht gelingt. Inspiriert vom gleichnamigen David-Bowie-Song nennen sich einige von ihnen selbst »Absolute Beginners«. Wie fühlt es sich an, als Erwachsener sexuell unerfahren zu sein? Und was hilft jenen, die ihre Situation als schmerzvoll oder demütigend erleben, sie zu verändern?
»Ich habe mich als Kind mit Freundschaften schwergetan und wurde gemobbt«, berichtet Dominik. »In der Pubertät habe ich mich schon für Sexualität interessiert. Die Bücher im Regal meiner Mutter – über Sex aus feministischer Sicht, über Tantra und Kamasutra – habe ich verschlungen. Im Alltag war ich aber total blockiert.« An Flirts in seiner Jugendzeit kann sich Dominik durchaus erinnern. »Ein Mädchen auf dem Internat warb damals regelrecht um mich«, erzählt er. »Ich habe alles abgewehrt und immer nach Gründen gesucht, warum sie nicht die Richtige war. Ich hatte sehr rigorose Vorstellungen. Passte ein Mädchen nicht ins Schema, nahm ich sie gar nicht wahr.«
Meist löst sich das Problem – aber nicht immer
An Jugendkrisen und verkorkste Flirts kann sich wohl jeder erinnern. Meist löst sich das Problem jedoch im späteren Teenageralter oder mit Anfang 20 von selbst – nur nicht bei allen. Einige bleiben weit darüber hinaus sexuell unerfahren. Über diese Menschen weiß die Forschung immer noch wenig. In einer Studie von 2001 interviewte die Soziologin Denise Donnelly von der Georgia State University in Atlanta gemeinsam mit Kolleginnen 82 sexuell isoliert lebende Teilnehmer, darunter 34 »Absolute Beginners«. Von diesen hatte knapp jeder zweite Teilnehmer ein stark negatives Körperbild, fand sich beispielsweise zu dick. Viele bezeichneten sich als schüchtern und beklagten einen Mangel an sozialen Fähigkeiten.
Als schlimm erleben die Befragten auch, dass sie gegenüber anderen gefühlt zurückblieben: »Ich bin 30, mein Gott! Jeder, den ich kenne, ist verheiratet und hat Kinder«, gab ein Teilnehmer zu Protokoll. Ein anderer formulierte es so: »Es fühlt sich an, als würden alle anderen durch das große Tor ins Erwachsenenleben gehen, nur ich bleibe mit den Kindern im Hof sitzen.«
Donnelly spricht von einer »kulturellen Deadline«, die die Betreffenden subjektiv verpassen. Schließlich zelebrieren zahlreiche Teenagerfilme den ersten Sex als zentralen Initiationsritus. In Streifen wie »American Pie« oder »Eis am Stiel« geht es vor allem darum, wie die jungen Protagonisten ihre Jungfräulichkeit verlieren. Selbst Nerds und Außenseiter kommen hier irgendwann zum Zug.
Viele »Absolute Beginners« haben ein stark negatives Körperbild, bezeichnen sich als schüchtern und beklagen einen Mangel an sozialen Fähigkeiten
Diese Verklärung des »ersten Mals« hinterlässt bei vielen Heranwachsenden Spuren. In einer Interviewstudie der Soziologin Laura Carpenter schilderten mehr als die Hälfte der jungen Männer ihre Jungfräulichkeit als Stigma, das es loszuwerden galt. Bei den befragten Frauen stach eine andere Deutung hervor: Viele beschrieben ihre Jungfräulichkeit als Geschenk, das sie vergeben könnten – oder das man ihnen rauben könne.
Bei Männern scheint der sexuelle Leistungsdruck zudem besonders ausgeprägt zu sein. Und genau diese Erwartungshaltung macht alles noch schlimmer. »In unserer Gesellschaft wird Sexualität stark auf Leistung reduziert: Der Mann muss es draufhaben, er muss es der Frau besorgen können«, sagt Christoph Joseph Ahlers. Der Sexualwissenschaftler ist Autor des Buchs »Himmel auf Erden & Hölle im Kopf – Was Sexualität für uns bedeutet«. Darin geht es auch um »Sad Singles«, die ihr Alleinsein als leidvoll erleben. Diese Menschen hätten den Leistungsdruck so stark verinnerlicht, dass sie befürchteten, in sexueller Hinsicht nicht zu genügen. Doch wer glaubt, unbedingt seinen Mann stehen und eine Partnerin finden zu müssen, der bleibt eher allein. Von diesem Paradoxon können viele der unfreiwilligen Singles ein Lied singen: Je dringender sie den vermeintlichen Schandfleck aus ihrem Leben tilgen wollen, desto weniger gelingt es ihnen. Sie verkrampfen.
»Irgendwann beschloss ich: Wenn ich schon so lang warten muss, will ich bei meinem ersten Mal bitte einen Dreier haben«, erinnert sich Dominik. »Vielleicht entstand dieser Gedanke schon aus dem Gefühl: Das wird eh nichts! Wenn es so unwahrscheinlich ist, kann ich genauso gut superhohe Ansprüche stellen.« Er erzählt von gescheiterten Dates, von Krisen und Rückschlägen – vor allem aber von Momenten, in denen er sich selbst im Weg stand. Ginge es allein um Sex, wäre das Problem ja einfach zu lösen. »Ich habe darüber nachgedacht, ob ich zu einer Prostituierten gehen soll. Mein Vater gab mir sogar 1000 Euro mit der Ansage: Damit kannst du das erledigen. Von dem Geld habe ich mir dann einen neuen PC gekauft.«
Viele seiner Geschichten klingen, als hätte er sich in seinem Scheitern eingerichtet. »Manchmal denke ich, es hätte ganz anders kommen können.« Eine Bekannte drängte ihn zum Beispiel, Aktbilder von ihr zu machen. »Vielleicht war das ein versteckter Hinweis, vielleicht auch nicht«, sagt Dominik und lacht. Er hat es nie überprüft. »Ich habe so was stets abgeblockt und mir gesagt: wieder eine verpasste Chance. Meine Misserfolge waren selbst gemacht.«
Wie geht es Menschen, die sich für sexuelle Versager halten? »Wer kein Gegenüber findet, das ihn wertschätzt, driftet früher oder später ab«, glaubt Dominik. Die meisten unglücklichen Singles sind eher mit sich selbst beschäftigt – und völlig harmlos. Das spiegelt sich auch in den »Beginners«-Foren im Internet wider, in denen es vorwiegend um Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung geht. Anders sieht es in der Online-Community der so genannten Incels (von »involuntary celibacy«, zu Deutsch: unfreiwillige Enthaltsamkeit) aus. Diese meist weißen, heterosexuellen Männer finden ebenfalls keine Frau, ziehen aber ganz andere Schlüsse daraus. Sie betrachten sich als Opfer eines Systems, gar als politisch Unterdrückte.
Manche entwickeln eine bizarre Philosophie, die sich aus Frustration, Selbstmitleid und Misogynie speist. Ihre Botschaft: Der Feminismus und die damit verbundene körperliche Selbstbestimmung der Frau habe die sexuelle Rangordnung ausgehöhlt. Zuvor hätten auch »Beta-Männer« wie sie selbst eine Partnerin abbekommen. Heute jedoch würden alle Frauen nur noch attraktive »Alpha-Männer« wollen, während der Rest leer ausgehe. Kurzum: An ihrem sexuellen Versagen seien vor allem die Frauen schuld.
Nur ein kleiner Schritt zur Rache?
Da fehlt mitunter nur noch ein kleiner Schritt, um sich rächen zu wollen. Der bekennende Incel Elliot Rodger tötete 2014 im kalifornischen Isla Vista wahllos sechs Menschen. Von Teilen der Incel-Community wird er bis heute verehrt. Andere Amokläufer beriefen sich ebenfalls auf Rodger. Kurz bevor ein Attentäter 2018 in Toronto zehn Menschen tötete, schrieb er im Internet: »Die Incel-Rebellion hat bereits begonnen!«
Nun wäre es sicher falsch, solche Gewalttaten vor allem auf sexuelle Frustration zurückzuführen. Sie ist höchstens eine von vielen Zutaten zu einem potenziell gefährlichen Cocktail. Andererseits mangelt es an Konzepten, um Menschen zu helfen, die sich mit dem Aufbau romantischer oder sexueller Beziehungen schwertun. Spezielle Beratungsangebote könnten dazu beitragen, der Radikalisierung das Wasser abzugraben.
Auch Dominik fand kaum Anlaufstellen, die ihm bei seinem Problem weiterhelfen konnten. »In den Selbsthilfe-Foren haben sich alle nur gegenseitig erzählt, wie kaputt sie sind. Da ging es meist um die Betrachtung des eigenen Leids.« Und die Sexualaufklärung konzentriere sich eher auf körperliche Aspekte, nach dem Motto: Alles ist super, solange ihr nur Kondome benutzt. »Aber was mache ich, wenn ich Probleme mit meiner Sexualität habe? Doktor Sommer anrufen?«
Christoph Joseph Ahlers behandelt in seiner Praxis für Paarberatung und Sexualtherapie in Berlin auch Menschen, die unter ihrer Kontaktlosigkeit leiden. »Es sind überwiegend Männer – das Geschlechterverhältnis beträgt etwa eins zu zehn«, schätzt Ahlers. Viele seiner Patienten hätten problematische Vorstellungen von Sexualität. Sie missverstehen Pornos als idealtypische Form und denken: So geht Sex – man muss einen großen Penis haben und immer bereit sein. Solche Denkmuster als Fiktion zu entlarven, ist für Ahlers bereits ein erster Therapieerfolg. Dann erarbeitet er mit seinen Klienten eine andere, weniger angstbesetzte Vorstellung von Sexualität. »Sex ist die intimste Form von Kommunikation. Es geht um das Bedürfnis, angenommen und gemocht zu werden und das über Hautkontakt körperlich zu spüren. Das ist der Grund, warum wir überhaupt Paare bilden. Bloße sexuelle Erregung oder Fortpflanzung geht ja auch ohne Partner«, erklärt Ahlers. Wenn sie das begriffen, würden die Betroffenen oft zu weinen anfangen. Es sei für sie eine Erleichterung zu verstehen, dass man es beim Sex nicht draufhaben muss, um gemocht zu werden.
Ahlers' Patienten trainieren, sexuelle Erregung mit Entspannung zu verbinden – also mit etwas Angenehmem, Druckfreiem. Die Übungen laufen zunächst in Gedanken ab. Später soll das Gelernte im echten Leben ausprobiert werden. »Wir arbeiten in der Sexualtherapie häufig mit Surrogatpartnerinnen zusammen. Das sind Frauen, die eine spezielle Weiterbildung absolviert haben. Sie helfen den Betroffenen, die Erfahrungen aus der therapeutischen Arbeit leiblich zu erfahren«, erklärt der Sexualpsychologe.
Dazu gehören Gespräche, Nacktheit, Berührungen und Zärtlichkeit. Die Arbeit findet in einem therapeutischen Dreieck statt: Therapeut, Patient und Surrogatpartnerin. »So ein Expositionstraining ist ein bisschen wie Schwimmunterricht«, sagt Ahlers. Man könne am Beckenrand zwar wunderbar die Froschbewegungen ausprobieren. Aber im Wasser sei es dann kalt und nass – da helfe es, wenn bei den ersten Schwimmversuchen nicht nur ein Bademeister (der Therapeut) in der Nähe sei, sondern auch ein Schwimmtrainer, die Surrogatpartnerin.
Unklarer Nutzen der Surrogattherapie
Neu ist dieses Konzept nicht: William Masters und Virginia Johnson, zwei Pioniere der Sexualforschung, entwickelten es bereits in den 1970er Jahren. Wie gut die Surrogatbehandlung bei Menschen mit als leidvoll erfahrener Kontaktlosigkeit wirkt, ist allerdings nicht erforscht. Zu anderen sexuellen Problemen wie Erektionsstörungen existieren vereinzelte Therapiestudien. Sie berichten meist von hohen Erfolgsraten, sind aber für sich allein genommen wenig aussagekräftig.
Seit den 1970er Jahren ging die Zahl der Surrogattherapeuten in den USA stark zurück. Einige Dutzend soll es heute geben, in Deutschland noch weniger. Kritiker melden Bedenken an, sie sehen in der Surrogattherapie eine Art verschleierte Prostitution. Auch verwandte Konzepte werden häufig skeptisch beäugt: Als einige Grüne 2017 forderten, man solle Sexualassistenz für pflegebedürftige Menschen mit kommunalen Geldern bezuschussen, war der Aufschrei groß – auch in der eigenen Partei.
»In der medialen Berichterstattung wurde das Thema allerdings oft missverständlich dargestellt. In einer Surrogat-Sexualtherapie geht es nicht darum, sexuelle Stimulation und Orgasmen zu produzieren – das gibt es im Bordell und ist meist ohnehin nicht das Problem«, betont Ahlers. »Die Patienten lernen vielmehr, dass man mit einem anderen Menschen intim sein und dabei Entspannung spüren kann, weil nichts geleistet werden muss. Sexuelle Erregung kann dabei entstehen und vergehen, wird aber nicht zielgerichtet herbeigeführt oder gesteigert.«
Kritiker melden Bedenken an, sie sehen in der Surrogattherapie eine Art verschleierte Prostitution
Dominik hat mittlerweile eine Psychotherapie absolviert, allerdings ohne Surrogatpartnerin. Inzwischen ist er kein »Beginner« mehr. Wie hat er es geschafft, den Bann zu brechen? »Im Lauf der Therapie wurde mir bewusst, dass sich die prickelnden Momente eher aus einem Bauchgefühl ergeben. Heute kann ich mich von meinen pessimistischen Überanalysen distanzieren und mir selbst sagen: Du kannst dich jetzt einfach auf deine Gefühle einlassen.«
So ging es ihm mit Julia. Eigentlich war sie die Freundin seines guten Freundes Stefan, erzählt Dominik. Doch auch mit ihm war sie eng befreundet. Als es mit Stefan kriselte, habe Julia ihn immer wieder für vertraute Gespräche aufgesucht. »Eines Tages stand sie bei mir in der Wohnung. Sie würde wirklich gern hier übernachten, sagte sie. Sogar eine Zahnbürste hatte sie mitgebracht«, erinnert sich Dominik. »Sie wollte bei mir im Bett schlafen, ich wollte das erst nicht. Daraufhin meinte sie: Gut, dann komme ich morgens kuscheln.«
Dabei blieb es nicht. Wenig später habe sich Julia von Stefan getrennt. Heute sind Dominik und sie ein Paar. »Julia sagte einmal zu mir, dass ich gut streiten könne. Ich würde in den Konflikt hineingehen, anstatt ihn wegzudrücken. Das fände sie gut.«
In Dominiks Leben ist heute deutlich mehr los. Er hat einen festen Freundeskreis und wohnt mit Julia seit fast einem Jahr zusammen. Wie fühlt er sich damit? Dominik zögert. »Seit ich mit Julia zusammen bin, bin ich öfter krank. Als würde mein Unterbewusstsein sagen: Nein, du darfst nicht glücklich sein«, meint er. Es sei ganz anders, als er es sich vorgestellt habe. Jahrelang dachte er, das erste Mal sollte unbedingt ein Dreier werden. Aber das sei ihm jetzt gar nicht mehr wichtig. Ein wenig hadere er damit, dass er so spießig geworden sei. »Aber ich will auf keinen Fall zurück.«
* Die Namen im Fallbeispiel sind geändert.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.