Ungewöhnlicher Zerfall nachgewiesen: Seltener als das Higgs-Boson
Jeder rechnet mit einer Sensation, aber sie kommt nicht. Das Standardmodell der Teilchenphysik erweist sich wieder einmal als deutlich stabiler, als selbst seine Begründer einst annahmen. Im Standardmodell sind alle heute bekannten Teilchen und die Wechselwirkungen zwischen ihnen mathematisch exakt beschrieben. Dennoch gibt es diverse triftige Gründe, warum dieses Modell nicht der Physik letzter Schluss sein kann: Es kann weder erklären, was Dunkle Materie und Dunkle Energie sind, aus denen unser Universum zum größten Teil besteht, noch kann es eine Ursache dafür angeben, warum unser Universum aus Materie gemacht ist und nicht aus Antimaterie.
Es gibt eine ganze Reihe von Theorien, die diese Mängel zu beheben suchen, indem sie das Standardmodell erweitern. Beispielsweise tauchen in Theorien zur Supersymmetrie – oft kurz SUSY genannt – schwere Geschwisterteilchen zu den heute bekannten Elementarteilchen auf. Solche Erweiterungen des Standardmodells beinhalten damit nicht nur neue Teilchen, sondern auch neue Wechselwirkungen. Denn irgendwie müssen die geheimnisvollen Partner unserer normalen Materie ja mit dieser in Kontakt treten können.
Wo findet sich die neue Physik?
Wahrscheinlich wäre eine solche Wechselwirkung nur äußerst schwach und entsprechend schwierig nachzuweisen. Aber irgendeine Form von Interaktion muss es geben, denn sonst ließe sich etwa die Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie nicht erklären. So vermuten viele Theoretiker, es könnten in der Frühzeit des Universums, als unglaublich hohe Temperaturen herrschten, besonders schwere und instabile Teilchen existiert haben, die diese Asymmetrie hervorriefen.
Die Experimentalphysiker versuchen auf zwei verschiedene Weisen, der verborgenen Teilchen habhaft zu werden. Der direkte Weg wäre die Erzeugung solcher schweren und extrem kurzlebigen Teilchen in einem Teilchenbeschleuniger wie dem Large Hadron Collider (LHC) am Europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf. Wenn dort Protonen – die Atomkerne des Wasserstoffs – bei den höchsten menschengemachten Energien miteinander kollidieren, kann eine Vielzahl unterschiedlicher Teilchen entstehen. Ist die Energie groß genug, ist es im Prinzip auch möglich, bislang unbekannte Teilchen nachzuweisen. Die Entdeckung des Higgs-Bosons, das aller Materie Masse verleiht, im Juli 2012 am CERN war ein solcher direkter Nachweis. Zugleich war es eine der größten Sensationen der Teilchenphysik in den letzten Jahrzehnten und gewissermaßen der Schlussstein des Standardmodells. Denn nun war der Teilchenbaukasten abgeschlossen, die Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment perfekt. Umso größer sind jetzt die Bemühungen, Teilchen jenseits des Standardmodells zu finden.
Spurensuche in Zerfallskanälen
Es gibt auch den indirekten Weg zum Nachweis neuer Teilchen. Denn die Zerfallsraten von instabilen Teilchen hängen von vielen verschiedenen Parametern ab und insbesondere davon, ob es unbekannte schwere Geschwisterteilchen unserer normalen Materie gibt. Der Grund hierfür ist nicht besonders anschaulich und eine typische Eigenheit der Quantenfeldtheorie: Allein die Möglichkeit, dass diese Teilchen existieren, verändert die Struktur des Vakuums und eröffnet damit potenzielle Zerfallskanäle. Wenn es bestimmte, bislang unbekannte Teilchen gibt, sollten einige bekannte Teilchen also etwas schneller zerfallen als nach dem Standardmodell vorgesehen.
Ein Zerfall, der besonders sensibel darauf reagiert, ist der des so genannten B0S- und des B0-Mesons in zwei Myonen. Mesonen bestehen aus einem Quark und einem Antiquark. Sie sind instabil und zerfallen nach sehr kurzer Zeit wieder. Das B0S-Meson besteht aus einem so genannten Bottom-Antiquark und einem Strange-Quark, das B0-Meson aus einem Bottom-Antiquark und einem Down-Quark. Myonen sind die schwereren und instabilen Geschwister der Elektronen.
Während die B-Mesonen aber fast an Ort und Stelle ihrer Erzeugung wieder zerfallen, sind die Myonen langlebig genug, um quer durch den Detektor zu flitzen, wobei man sie exakt vermessen kann. Die beiden Kollaborationen CMS und LHCb, die je einen Großdetektor am CERN betreiben, haben deshalb die in den letzten Jahren genommenen Daten nach solchen Zerfällen von B-Mesonen durchsucht. Die Datenanalyse war sehr anspruchsvoll, denn die Zerfälle sind extrem selten. Nur rund vier von einer Milliarde B0S-Mesonen und nur rund eines von zehn Milliarden B0-Mesonen zerfallen in zwei Myonen. Damit sind diese Zerfälle noch schwieriger nachzuweisen als die des Higgs-Bosons.
Bei den B0S-Mesonen hatten die beiden Kollaborationen jede für sich schon ein Ergebnis erzielt, das in guter Übereinstimmung mit dem Standardmodell war. Die Statistik der einzelnen Experimente reichte jedoch nicht aus, um auf das für wissenschaftliche Nachweise erforderliche Maß von fünf Sigma zu kommen. Indem die Wissenschaftler ihre Daten kombinierten, konnten sie den Zerfall der B0S-Mesonen in zwei Myonen sogar mit über sechs Sigma bestätigen. Es ist zudem das erste Mal, dass diese großen Experimente ihre Daten kombinierten. Eine entsprechende Veröffentlichung erschien jetzt im Journal "Nature".
Für den noch selteneren Zerfall der B0-Mesonen reichte es aber auch mit gemeinsamen Daten nur für rund drei Sigma. Das Signal zeigte zwar eine starke Abweichung nach oben, was ein Hinweis auf die lang gesuchte neue Physik sein könnte. Die Statistik ist aber noch zu schlecht; ein Ausreißer bei den Messungen nicht auszuschließen. Hier werden erst künftige Messungen am CERN Aufschluss bringen können. Aber auch die bislang negativen Ergebnisse sind keinesfalls unbedeutend: Einige Theorievarianten jenseits des Standardmodells lassen sich mit Hilfe solcher Messungen bereits ausschließen.
In Kürze wird der LHC seinen Messbetrieb nach längerer Umrüstphase wieder aufnehmen und dann bei fast verdoppelter Energie sowohl auf direktem wie auf indirektem Weg nach neuen Teilchen suchen. Man darf gespannt bleiben, ob das Standardmodell dann endlich nicht mehr hält. Vielleicht sind es ja sogar die B0-Mesonen, die den Weg zu einer neuen Physik weisen.
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