Sinne und Organe: Unscheinbarer Führungsspieler
Thomas Wharton ist Arzt mit Leib und Seele. Viele seiner Kollegen verlassen London während des verheerenden Pestausbruchs, er bleibt. Als Arzt liegt ihm das Wohlbefinden der Menschen am Herzen. Als Forscher fasziniert ihn der Aufbau des menschlichen Körpers, besonders die Drüsen haben es ihm angetan. Dem kleinen, unscheinbaren Organ unterhalb des Schildknorpels (dem größten Knorpel des Kehlkopfs) gibt er den Namen "Schilddrüse" (Glandula thyreoidea). Allein mit der von ihm zugedachten Funktion dieser auffällig stark durchbluteten Drüse lag Wharton vor knapp 350 Jahren falsch: sie dient weder dazu, den Hals (besonders den weiblichen, wie er annahm) zu verschönern, noch stellt sie ein Gleitmittel für die Luftröhre her.
Die Schilddrüse ist nicht einfach nur eines, sondern wohl das Steuerungsorgan des menschlichen Körpers. Über die beiden Hormone Trijodthyronin (T3) und Thyroxin (T4) beeinflusst sie den Stoffwechsel, die Herzfunktion, die Verdauung, Nerven- und Muskelfunktion, Sexualität und Fruchtbarkeit sowie das Heranreifen des ungeborenen Lebens während der Schwangerschaft. Erst mit der Nobelpreisverleihung im Jahr 1909 an den Schweizer Chirurgen Emil Kocher für seine "Beiträge zur Physiologie, Pathologie und Chirurgie" endete eine lange geführte Diskussion um das Organ, das viele bis dahin als unbedeutend eingestuft hatten.
Ein völlig unbedeutendes Anhängsel?
"War bis zum 19. Jahrhundert die Rolle der Schilddrüse für den Stoffwechsel noch völlig unbekannt, so wurden im 20. Jahrhundert eigentlich die meisten wesentlichen Fragen geklärt", schreibt Michael Weissl in einem Beitrag des "Journals für Klinische Endokrinologie und Stoffwechsel". Es gelang, eine Unter- beziehungsweise Überfunktion der Schilddrüse sicher zu diagnostizieren und zu behandeln. Lange Zeit habe man sich darauf verlassen, die Schilddrüse und ihre Erkrankungen gut zu kennen, sagt Klaudia Brix von der Jacobs University Bremen. "Dabei hat man aus den Augen verloren, dass es Patienten gibt, denen man mit der klassischen Diagnostik nicht helfen kann", sagt die Zellbiologin, die das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Schwerpunktprogramm "Thyroid Trans Act"mit koordiniert.
Gerade in den letzten Jahren habe es einige wissenschaftliche Entdeckungen gegeben. Sie machten es nötig, neu zu bestimmen, was eine gesunde beziehungsweise eine gestörte Schilddrüsenfunktion eigentlich ausmache, sagt Brix. So weiß man jetzt beispielsweise, dass es je nach Wirkort unterschiedliche Transportermoleküle gibt, die die Schilddrüsenhormone in ihre Zielzellen bringen [1]. "Die Hormone können nicht so einfach durch die Zellmembran hindurch, sondern brauchen als Türöffner ein Transporterprotein", erklärt Brix.
Menschen mit dem sehr seltenen Allan-Herndon-Dudley-Syndrom fehlt wegen eines Gendefekts das Transporterprotein MCT8 [2]. Dieses schleust das T3-Schilddrüsenhormon zum Beispiel in Nervenzellen ein. Die Patienten haben schwere Entwicklungsstörungen des zentralen Nervensystems, können meist nicht sprechen und ihre Muskelbewegungen nicht koordinieren. Im Blut der Betroffenen finden sich erhöhte T3-Mengen. Und während das zentrale Nervensystem deutliche Anzeichen einer Schilddrüsenunterfunktion aufweist, leidet etwa die Leber (wo ein anderer Transporter für die Aufnahme sorgt) an dem Zuviel an Schilddrüsenhormon und zeigt Symptome einer Hyperthyreose, einer Überfunktion der Schilddrüse.
Die biologische Wirksamkeit der Schilddrüsenhormone hängt also nicht nur vom tatsächlichen Output der Schilddrüse ab, sondern auch von der Verfügbarkeit der verschiedenen Transporterproteine vor Ort, in den Zielgeweben. Und damit noch nicht genug: In den Zellen sorgen je nach Bedarf unterschiedlich regulierte Enzyme, die Deiodasen zum Beispiel, für eine Umwandlung des T4-Hormons in das biologisch wirksamere T3. Und dann wirken die Schilddrüsenhormone nicht nur auf der Ebene des Genoms, wie man bisher annahm (siehe Infotext). Sie können verschiedene Prozesse über passende Rezeptoren auch auf der Ebene der Zellmembran, im Zellinnern und direkt an den Kraftwerken der Zelle, den Mitochondrien, anstoßen [3].
Eine komplizierte, vielschichtig regulierte Angelegenheit also. In der Praxis dagegen kennt man Störungen der Schilddrüsenfunktion meist nur in Form von Unter- oder Überfunktion. Erstere wird diagnostiziert, wenn sich im Blut erniedrigte Mengen freien Schilddrüsenhormons sowie erhöhte Konzentrationen des "TSH" (Thyreoidea-stimulierendes Hormon) finden, das von der Hypophyse ausgeschüttet wird, um die Produktion der Schilddrüsenhormone anzukurbeln [4]. "Es stellt sich die Frage, ob der TSH-Wert als Standardparameter wirklich repräsentativ ist für all jene Organe, wo die Schilddrüsenhormone ihre Wirkung entfalten", sagt Dagmar Führer-Sakel von der Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselerkrankungen am Universitätsklinikum Essen.
Eine vielschichtige, komplexe Angelegenheit!
Womöglich gibt es viele unterschiedliche Erkrankungen oder Störungen der Schilddrüse, die aktuell noch sehr grob unter "Über- und Unterfunktion" zusammengefasst werden. Doch um diese genauer bestimmen und therapieren zu können, braucht es ein besseres Verständnis der Vorgänge und neue Testmethoden. "Es muss außer den bisher messbaren noch andere Faktoren geben, die eine wichtige Rolle spielen", sagt Führer-Sakel.
Im Klinikalltag hat die Ärztin mit vielen Patienten zu tun, die wegen einer Unterfunktion der Schilddrüse die Hormone täglich in Form einer Tablette einnehmen müssen. Bei einem Großteil läuft alles gut. Einige jedoch klagen weiter über Beschwerden, über Unwohlsein, Konzentrationsprobleme und Gewichtszunahme. "Als Ärztin nehme ich mir die Laborwerte vor und denke, es ist doch eigentlich alles okay", sagt Führer-Sakel. Auch den gegenteiligen Fall gibt es: Die Laborwerte sind nicht in Ordnung, und der Patient hat keine Beschwerden. Warum reagiert der eine auf veränderte Schilddrüsenwerte, der andere dagegen nicht? "Womöglich verfügen manche Menschen über gewisse Ausgleichsmechanismen", erklärt die Medizinerin, und eine zusätzliche Hormongabe würde hier eher schaden als nützen.
"In Deutschland werden zurzeit zu viele Menschen zu vorschnell mit Schilddrüsenhormonen behandelt", sagt Dagmar Führer-Sakel. Man therapiere häufig auf Grund des Laborwerts, dabei müsse man zuerst die Ursache abklären und fragen: Woher kommen die Laborveränderungen? Im schlimmsten Fall verursache man durch die unnötige Therapie eine Schilddrüsenüberfunktion und provoziere die damit verbundenen Risiken wie etwa Herzrhythmusstörungen.
"In Deutschland werden zurzeit zu viele Menschen zu vorschnell mit Schilddrüsenhormonen behandelt"
Mit dem Forschungsprojekt "Thyroid Trans Act", an dem insgesamt 18 Arbeitsgruppen mitwirken, will man weiter in das Dickicht der Schilddrüsenfunktion und ihrer komplizierten Regulation vordringen. Neben Untersuchungen an großen Kohorten sollen auch Experimente am Tiermodell weiterhelfen und klären: Wann und wie reagiert ein Organ auf Schilddrüsenhormone, und wie können Krankheiten, die von der Schilddrüsenfunktion abhängen, verhindert werden? Was macht eine gesunde Schilddrüsenfunktion in jungen Lebensjahren im Vergleich zum fortgeschrittenen Alter aus? Die Forschungsergebnisse sollen den Patienten möglichst rasch zugutekommen.
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