Konnektomik: Unsere Netzhaut hat eingebauten Bewegungsmelder
Wie erkennt das Auge, wohin sich ein wahrgenommener Gegenstand bewegt? Der Antwort auf diese alte Frage könnte nun ein Team von Hirnforschern auf die Spur gekommen sein, vor allem dank der Hilfe von Freiwilligen, die in einem Onlinespiel die Verdrahtung der Netzhaut kartierten. Demnach gibt es in der Netzhaut zahlreiche Paare von Nervenzellen, die ein drittes Neuron zum Feuern bringen, wenn sich ein Bild in einer gegebenen Richtung bewegt.
"Wir sehen mit dem Gehirn – und nicht mit den Augen", heißt es immer wieder. Das ist aber nur teilweise korrekt. Natürlich können wir eine Szene nur richtig interpretieren, wenn sie vom Gehirn verarbeitet wurde. Aber einen wichtigen Teil dieser Verarbeitung leistet bereits das Auge. Zum Beispiel entdeckten Forscher in den 1960er Jahren, dass die Retina von Säugetieren auf die Richtung und Geschwindigkeit von bewegten Bildern reagiert [1]. Damit war klar: Die Bewegungswahrnehmung beginnt bereits im Auge. Aber wie genau dies funktioniert, blieb bis auf Weiteres ein Geheimnis.
Wenn Licht in das Auge fällt, wird es von Fotorezeptoren – also den lichtempfindlichen Sensoren von Nervenzellen – aufgenommen und in ein elektrisches Signal umgewandelt. Dieses leiten die Zellen in tiefer liegende Schichten der Retina weiter. Für die einzelnen Rezeptoren spielt es dabei keine Rolle, in welche Richtung sich ein Bild bewegt. Jinseop Kim vom Massachusetts Institute of Technology und Kollegen gingen darum der Frage nach, ob die Bewegungsempfindlichkeit durch die Art und Weise zu Stande kommt, wie die Zellen der Netzhaut miteinander verknüpft sind.
Dreischrittige Signalverarbeitung in der Netzhaut
Der erste Zwischenschritt auf dem Weg, den das Signal von den Fotorezeptorzellen nimmt, sind so genannte Bipolarzellen. Ihren Namen tragen sie, weil jede von ihnen zwei Auswüchse hat, die in entgegengesetzte Richtungen aus dem Zellkörper herausragen. Im nächsten Schritt läuft das Signal durch "Starburst"-Amakrinzellen, die ebenfalls nach ihrer Form benannt sind: Ihre Verzweigungen, die Dendriten, schießen wie bei einer Feuerwerksexplosion rundum in alle Richtungen. Erst dann erreicht das Signal die Zellen, aus denen der Sehnerv besteht, über den die Sinnesinformation schließlich das eigentliche Gehirn erreicht.
Um hinter das Verknüpfungsmuster von Bipolar- und Starburst-Zellen zu kommen, organisierte das Team um Kim und Arbeitsgruppenleiter H. Sebastian Seung die Hilfe von annähernd 2200 Freiwilligen, die im Rahmen des "Citizen-Science"-Projekts EyeWire hoch aufgelöste Aufnahmen einer Mausretina analysierten. Die Forscher hatten dazu das Gewebe in zahllose dünne Scheiben geschnitten und mit dem Elektronenmikroskop abfotografiert. Die als Computerspiel gestaltete Aufgabe der Teilnehmer war es, den Verlauf jeder Nervenzelle durch die Schichten zu verfolgen und so eine Art detaillierten Schaltplan der Mausretina zu erstellen. (So funktioniert das Spiel)
Ein raffinierter Mechanismus erlaubt das Erkennen von Bewegungen
Nun hat Kims Forscherteam das Diagramm veröffentlicht und gleichzeitig einen Mechanismus vorgeschlagen, mit dem die Zellen an die Bewegungsinformation gelangen [2]. Demnach gibt es zwei Sorten von Bipolarzellen, die die Auswüchse der Starburst-Amakrinzellen an jeweils unterschiedlichen Stellen kontaktieren. Bei einer Sorte liegt die Verbindung nahe dem Zellkörper der Amakrinzelle, bei der anderen eher Richtung Ende des Auswuchses. Nun sind die Bipolarzellen des ersten Typs seit Längerem dafür bekannt, ihre Signale mit einer gewissen Zeitverzögerung weiterzureichen [3], während die des zweiten Typs ihre Nachricht unverzüglich übermitteln.
Das funktioniert am Ende wie ein Zeitmesser. Wenn sich ein Objekt durchs Gesichtsfeld bewegt, treffen Signale benachbarte Stellen der Netzhaut zu leicht unterschiedlichen Zeitpunkten. Dank der Verzögerung können die zwei Signale trotzdem zum gleichen Zeitpunkt bei ein und derselben Amakrinzelle einlaufen. Nach Meinung der Forscher scheint die Retina nach diesem Prinzip auf Bewegungen zu reagieren: Die Amakrinzelle feuert ausschließlich dann, wenn sie den zeitgleichen, kombinierten Input erhält, und signalisiert damit, dass sich ein Objekt in die Richtung des Filaments bewegt. Alle Reize, die sich in eine andere Richtung bewegen, würden die Amakrinzelle hingegen zu unterschiedlichen Zeitpunkten treffen – und ein Feuern bliebe aus.
Experimentelle Überprüfung der Hypothese steht noch bevor
Für Seung, der ebenfalls am MIT forscht, sollte man die Ergebnisse jedoch noch mit Vorsicht genießen. Sein Team habe bislang zunächst nur die Anatomie der Netzhaut untersucht. Ein experimenteller Nachweis stehe noch aus. "Jetzt sind die Physiologen am Zug. Die können unsere Hypothese verhältnismäßig einfach überprüfen."
Die Forschergruppe habe "eine sehr schöne Arbeit" vorgelegt, sagt Botond Roska, Hirnforscher vom Friedrich-Miescher-Institut für biomedizinische Forschung in Basel. "Sie enthält eine sehr klare und überprüfbare Voraussage über die richtungsabhängige Signalverarbeitung in der Retina. Das ist eine spannende Idee, und ich wette, dass viele Arbeitsgruppen versuchen werden, die Hypothese zu überprüfen."
Der Schaltplan enthalte allerdings nur einen winzigen Ausschnitt der Gesamtzahl von Verknüpfungen in der Netzhaut, erläutert Seung. "Vermutlich gibt es noch andere Neurone, die Teil des Schaltkreis sind, mit dem die Retina Bewegungen erkennt", sagt der Forscher. "Auch die werden wir kartieren müssen, damit wir eines Tages das gesamte Konnektom der Netzhaut vorliegen haben."
Dieser Artikel erschien unter dem Titel "Wiring of retina reveals how eyes sense motion" bei "Nature News".
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