Kosmologie: Unsichtbare Giganten im kosmischen Morgengrauen
Wer sucht, der findet. Manchmal sogar mehr als erhofft. So erging es auch Tao Wang vom Institut für Astronomie der Universität Tokio und seinen Kollegen: Mit dem Radioteleskop ALMA in der chilenischen Atacamawüste fahndeten sie nach extrem weit entfernten Galaxien, die im optischen Licht unsichtbar sind, obwohl sie regelrechte Schwergewichte sein sollen. Die Forscher haben einige dieser Giganten tatsächlich aufgespürt, berichten sie in einem aktuellen Fachaufsatz in »Nature« – und fordern damit die Kosmologie heraus.
Die muss nun erklären, wie die Riesengalaxien in großer Zahl so früh entstehen konnten und wie sie so früh so viele Sterne gebildet haben. Zwar stammt die von ALMA aufgefangene Strahlung aus einer Zeit, als das Weltall schon mehrere Milliarden Jahre alt war. Zu diesem Zeitpunkt blickten die Riesengalaxien bereits auf eine lange Geschichte zurück: Entstanden sein müssten die Methusalems ein paar hundert Millionen Jahre nach dem Urknall.
Giganten aus der kosmischen Frühzeit
Aus Sicht des Kosmos ist das die absolute Frühzeit, schließlich ist das Universum heute bereits 13,8 Milliarden Jahre alt. Bisher gingen Fachleute davon aus, dass Galaxien damals eher magere Gebilde waren. Die jüngste Entdeckung fordert dieses Bild heraus: »Aus Sicht der vorherrschenden Theorie ist es sehr schwierig zu verstehen, warum bereits so viel Staub in diesen jungen Galaxien vorkommt und warum es überhaupt so viele massereiche Galaxien im frühen Kosmos gegeben hat«, sagt Wang. »Unsere Entdeckung war daher eine ziemliche Überraschung.«
Bisher stellen sich Kosmologen die Entwicklung des Alls wie folgt vor: Nach dem Urknall bestand das Universum fast ausschließlich aus Wasserstoff und Helium – leichte Gase, die sich mehr oder weniger gleichmäßig verteilten. Erst allmählich kollabierten diese Gaswolken und bildeten hier und da erste Galaxien. In ihrem Inneren formten sich schließlich Sterne. Forscher nennen diese Epoche das »kosmische Morgengrauen«. Es war die Zeit, als zum ersten Mal Sternenlicht den bis dahin dunklen und ziemlich eintönigen Kosmos erhellte. Das geschah etwa eine Milliarde Jahre nach dem Urknall.
Zwei bis drei Milliarden Jahre später erreichte die Sternentstehung einen Höhepunkt – den »kosmischen Mittag«. Zu diesem Zeitpunkt hatten Supernova-Explosionen von Megasternen gewaltige Mengen erbrüteter Elemente wie zum Beispiel Kohlenstoff, Sauerstoff oder Silizium ins All geschleudert, die Grundbausteine für Gesteinsplaneten und Menschen. Dieser Sternstaub verdunkelte das Licht neuer Sterne.
Der Rest ist die lange Geschichte des kosmischen Nachmittags: Heute, rund zehn Milliarden Jahre später, ist das Universum voll mit Galaxien aller Größenklassen. In ihnen gibt es auch Sterne späterer Generationen, wie beispielsweise unsere Sonne, außerdem jede Menge Staub, Planeten und auf mindestens einer Felskugel auch Leben.
Hubbles aufwändigstes Projekt
Seit Langem versuchen Astronomen, diese Version der kosmischen Geschichte mit Beobachtungen zu erhärten. Zwischen 2010 und 2013 richteten sie dazu das Weltraumteleskop Hubble immer wieder auf fünf verschiedene Areale des Himmels und nahmen extrem lang belichtete Bilder auf. Zusammengenommen sammelten sie vier Monate lang Lichtteilchen von 250 000 Galaxien – das umfangreichste Einzelprojekt in Hubbles langer Dienstzeit.
Die Idee dahinter: Fotografiert man Galaxien, die weit genug entfernt sind, dann sieht man diese in einem Zustand, in dem sie vor mehr als zehn Milliarden Jahren waren. Das Ergebnis ist CANDELS, der »Cosmic Assembly Near-infrared Deep Extragalactic Legacy Survey«. Es ist die bisher tiefste Durchmusterung des »Babyuniversums« zwischen kosmischem »Morgen« und »Mittag«.
An und für sich passen Hubbles Beobachtungen ziemlich gut zu den »virtuellen Universen«, die Kosmologen mit Hilfe von Supercomputern erzeugen. Eine der umfangreichsten dieser Simulationen stellten Wissenschaftler um Mark Vogelsberger vom Massachusetts Institut of Technology und Volker Springel vom Max-Planck-Institut für Astrophysik im Jahr 2018 vor: Illustris TNG. Das künstliche Universum ähnelt dem echten verblüffend gut. Zahl, Größe und Verteilung der Galaxien aus dem Computer entsprechen dem, was Astronomen am Himmel beobachten.
Modell vs. echtes Universum
Allerdings gibt es auch Abweichungen – und gerade die sind für die Experten interessant. Denn sie könnten auf Fehler in unseren Vorstellungen vom Universum hinweisen. So sagen die Simulationen beispielsweise voraus, dass es zwischen einer und drei Milliarden Jahre nach dem Urknall bereits sehr massereiche Galaxien mit sehr hoher Sternentstehung gegeben haben sollte.
Auch der Blick in den heutigen Kosmos bestätigt das: Etwa 55 Millionen Lichtjahre von uns entfernt (was in kosmischen Maßstäben der weiteren Nachbarschaft entspricht) treibt die Galaxie Messier 87 (M87) durchs All. Sie erlangte erst kürzlich große Berühmtheit, als Radioastronomen ein Bild des Schwarzen Lochs in ihrem Zentrum schießen konnten.
Es bringt die Masse von mehr als sechs Milliarden Sonnen auf die Waage. Damit macht es allerdings nur einen kleinen Teil von M87 aus, deren Masse Astrophysiker auf viele Billionen Sonnenmassen schätzen. Zugleich ist M87 so gut wie ausgebrannt: Neue Sterne entstehen hier kaum noch; die Sterne, die ihr Leuchten ausmachen, sind alt und kühl. Die Galaxie ist also so etwas wie ein gigantisches stellares Altenheim.
Im Vergleich dazu hat sich unsere etwa gleich alte, aber deutlich leichtere Milchstraße erstaunlich gut gehalten. Hier entstehen noch heute neue Sterne, wie man zum Beispiel im bei Amateurastronomen beliebten Großen Orionnebel beobachten kann.
Altersheim mit wilder Vergangenheit
Diese frappierenden Unterschiede lassen sich nur dadurch erklären, dass M87 und andere Galaxien der Klasse »Altersheim« ihre besten Tage viel früher durchlebten als beispielsweise die Milchstraße – nämlich während der Epoche, die Hubble im Rahmen des CANDELS-Projekts untersucht hat.
Hier aber ergab sich bislang ein Problem: Die Riesengalaxien tauchen nicht auf Bildern von Hubble auf. Dafür fand man mit Hilfe des Infrarotteleskops Spitzer eine Reihe von Objekten, die als Vorläufer von Galaxien wie M87 in Frage kommen. Sie geben kein sichtbares Licht ab, sondern langwellige Infrarotstrahlung. Für Hubbles Kameras, die nur kurze Infrarotwellenlängen sowie sichtbares Licht auffangen, sind sie damit unsichtbar.
Könnte es sich dabei um die gesuchten Riesengalaxien handeln? Dieser Frage sind Tao Wang und seine Mitarbeiter mit dem Radioteleskopnetzwerk ALMA (das Atacama Large Millimeter/submillimeter Array) nachgegangen. Die 66 Antennen in der Atacamawüste beobachten seit 2013 den Himmel im Licht der Millimeter- und Submillimeter-Radiostrahlung. Sie ist noch langwelliger als Spitzers Ferninfrarotlicht und daher ideal zur Untersuchung der optisch unsichtbaren Objekte.
Grund dafür ist vor allem die kosmische Expansion: Sie dehnt das Licht der Galaxie, wodurch seine Wellenlänge wächst: Die ursprünglich als sichtbares Licht ausgesendete Strahlung einer entsprechend fernen Galaxie kommt bei uns als Ferninfrarot- oder Submillimeterstrahlung an. Das erklärt, wieso Hubble die Objekte nicht sehen kann.
Tatsächlich konnten Tao und seine Kollegen mit ALMA 39 der Spitzer-Objekte als sehr frühe, massereiche Galaxien identifizieren. Einige von ihnen produzierten wenige Milliarden Jahre nach dem Urknall um die 200 Sonnenmassen neuer Sterne pro Jahr. Zum Vergleich: In der Milchstraße bilden sich pro Jahr zwischen ein und zwei neue Sterne von der Masse unserer Sonne. Das macht die nun entdeckten Galaxien zu möglichen Vorläufern heutiger Riesen wie M87.
Problem gelöst? Nicht ganz
Doch anstatt das Problem damit zu lösen, schafft die Entdeckung zwei neue. Tao und sein Team fanden nämlich 10- bis 100-mal so viele Riesengalaxien, wie gemäß Illustris TNG oder anderen kosmologischen Simulationen zu erwarten wäre. Mit einer so großen Zahl hatten die Forscher dann doch nicht gerechnet.
Das zweite Problem betrifft den Staub. Um die enormen Mengen zu erzeugen, die die Astronomen in den Galaxien nachweisen konnten, müssen in den ersten paar hundert Millionen Jahren nach dem Urknall weit mehr Sterne entstanden und vergangen sein, als es die Simulationen postulieren.
Eine solch deutliche Abweichung von den Erwartungen deutet zumeist darauf hin, dass die Theorie überarbeitet werden muss. Zumindest, wenn die Beobachtungen zutreffen – was zukünftige Studien mit ALMA und anderen Instrumenten zeigen sollen. Betrübt darüber sind die Wissenschaftler freilich nicht. Denn dass das kosmologische Standardmodell, das letztlich die Grundlage für Simulationen wie Illustris TNG ist, Schwachstellen hat, ist bekannt.
So funktionieren virtueller wie echter Kosmos offenbar nur, wenn Kosmologen erhebliche Mengen der ominösen Dunklen Materie postulieren – ohne sie bliebe dem Universum schlicht nicht genug Zeit, innerhalb seiner 13,8 Milliarden Jahre genügend Galaxien zu bilden.
Zwar gibt es noch weitere Hinweise auf die Existenz dieses dunklen Materials, doch seine Natur und genauen Eigenschaften liegen für die Forscher sprichwörtlich noch im Dunkeln. Dazu kommt eine mindestens so mysteriöse Energie, deren Einfluss die Expansion des Universums immer schneller anschiebt. Zusammengenommen bestehen rund 95 Prozent des Materie- und Energiehaushalts des Universums aus »dunklen« Stoffen, von denen wir nicht wissen, worum es sich handelt. Keine befriedigende Situation.
Vielleicht deuten die Beobachtungen von Tao und seinem Team darauf hin, dass die Dunkle Materie im Detail andere Eigenschaften besitzt als bisher von den Kosmologen angenommen? Wenn dem so ist, helfen die Beobachtungen vielleicht sogar, die Natur dieses obskuren Stoffs aufzuklären. Klar ist: Unser Wissen über die Geschehnisse zwischen kosmischem Morgen und Mittag ist noch lückenhaft.
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