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Neurologie: Unter Kontrolle

Manchem Reiz lässt sich schwer widerstehen - einem aufblitzenden Signal im Augenwinkel beispielsweise. Den Blick dann nicht dorthin zu lenken, gelingt trotz Vorwarnung kaum. Ausgerechnet Menschen, denen man häufig mangelnde Selbstkontrolle zuschreibt, machen uns vor, wie's geht.
Er liebte obszöne Ausdrücke, die er offenbar ohne jede Rücksicht gebrauchte, erfand sinnlose Wortspiele, schnitt häufig Grimassen und präsentierte sich Zeitgenossen zufolge als ständig hyperaktives, überschäumendes, von plötzlichen Stimmungsschwankungen geplagtes Wesen, mit dem umzugehen sicher nicht einfach war. Litt Mozart vielleicht am Tourette-Syndrom? Die Fachwelt ist uneins – die Anfang der 1990er Jahre publizierte These fand nicht nur Zustimmung. So fehlen beispielsweise die Hinweise, dass Anzeichen der Krankheit schon in der Kindheit auftraten. Vielleicht waren die überlieferten Eigenheiten des großen Komponisten auch nur Folge seiner Nierenerkrankung, die ihn letztlich das Leben kostete.

Insgesamt jedenfalls klingt die Liste der für das Tourette-Syndrom typischen Symptome nach Kontrollverlust. So scheinen die Betroffenen unter anderem nicht in der Lage, unwillkürliche Bewegungen zu unterdrücken – vom einfachen ständigen Augenblinzeln bis hin zu einem Drang, alles oder jeden anzufassen, gibt es dabei eine Vielzahl von höchst individuellen Formen. Eine Störung der neuronalen Schaltkreise zwischen Stirnlappen und Striatum, so wird vermutet, sei für diese Tics verantwortlich – denn jene Verschaltungen sind an der bewussten Kontrolle von Handlungen beteiligt. Da liegt noch ein weiterer Gedanke nahe: Wer hier mit Problemen bei der Steuerung kämpft, dürfte darüber hinaus auch Schwierigkeiten haben, schnell von einer motorischen Aufgabe zur nächsten zu wechseln.

Pustekuchen, demonstrieren Georgina Jackson von der Universität Nottingham und ihre Kollegen. Wenn Tourette-Betroffene etwas besser können als andere, dann das: sich schnell auf neue Anforderungen einstellen.

Die Forscher hatten neun Jugendliche mit Tourette-Syndrom und 19 gesunde Gleichaltrige ins Versuchslabor gebeten und sie an einem Computerbildschirm vorführen lassen, wie gut sie ihre Augenbewegungen kontrollieren können. Die im Schnitt 13-Jährigen bekamen dabei ein rechts oder links aufblitzendes helles Quadrat auf dunklem Hintergrund zu sehen. Normalerweise reagieren wir auf einen solchen plötzlich auftauchenden Reiz damit, unbewusst sofort den Blick darauf zu richten. Die jungen Probanden bekamen jedoch in manchen Fällen auch die Anweisung, genau diesen Blickwechsel zu vermeiden und stattdessen die andere, leere Bildschirmhälfte zu betrachten – sie sollten also den unwillkürlichen Drang bewusst unterdrücken.

Mithilfe von Farbsignalen informierten die Wissenschaftler die Teenager, was sie von ihnen erwarteten – hin- oder wegschauen. Da die Forscher jede Variante zweimal hintereinander brachten, bedeutete dies für die Teilnehmer beispielsweise hinschauen, nochmal hinschauen, dann wegschauen und erneut wegschauen – also nur jedes zweite Mal einen ausdrücklichen Wechsel in der Blickstrategie.

Beide Gruppen brauchten länger, den Blick ab- als hinzuwenden, und beide machten mehr Fehler, wenn sie der unwillkürlichen Augenbewegung entgegen steuern sollten. Die Ergebnisse unterschieden sich dabei so geringfügig, dass die Forscher sie statistisch einwandfrei in einen Topf werfen konnten. Nur in einem Fall stemmte sich die Statistik gegen Gleichmacherei: Wenn die Teilnehmer mit nur 200 Millisekunden Vorlauf darüber informiert wurden, dass sie nun die Blickstrategie wechseln sollten, machten die Jugendlichen mit Tourette-Syndrom signifikant weniger Fehler als ihre Altersgenossen. Und zwar nicht etwa, weil sie länger zögerten, bis sie ihre Augen in die dann richtige Richtung lenkten, im Gegenteil: Sie nahmen die gewünschte Bildschirmregion deutlich schneller in Augenschein als ihre Versuchskollegen. Erst bei einer Vorlaufzeit von tausend Millisekunden konnten die anderen Jugendlichen wieder aufholen und ähnlich gut abschneiden [1].

Klingt das nach Kontrollverlust? Wohl kaum. Dementsprechend folgern Jackson und ihre Kollegen auch, dass mangelnde Kontrolle keineswegs das Problem hinter den Tics von Tourette-Betroffenen ist. Vielmehr trete eher eine Art Überkontrolle auf – herrührend aus der ständigen Anforderung, unwillkürliche Bewegungen in Schach zu halten –, die generell reflexartiges Verhalten unterdrücke. Genau diese Überkontrolle habe es den Tourette-Teilnehmern ermöglicht, besser und schneller zu steuern, wohin sie schauen.

Dazu passt, dass Erwachsene mit Tourette-Syndrom ein äußerst umfassendes Netzwerk von Hirnarealen im Stirnbereich beschäftigen, wenn sie ihre Tics zu unterdrücken versuchen. Und eine verstärkte kognitive Kontrolle kennen Forscher zudem von Kindern, die zweisprachig aufwachsen: Hier fordert das Hin- und Herschalten zwischen den Sprachen offenbar ebenfalls eine strengere Überwachung.

Was aber ist dann verantwortlich für die Tics? Das können Jackson und ihre Mitarbeiter auch nicht beantworten. Sie schließen sich aber der These an, dass die Ursache wohl tiefer liegt: Erst letztes Jahr hatten Kollegen vermutet, dass eine Störung in einem subkortikalen Kontrollmechanismus vorliegt [2]. Vielleicht gibt es dazu bald Neuigkeiten.

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