Unwetterlage über Deutschland: »Es könnten wahre Hagelgeschosse vom Himmel fallen«
Nach einigen trockenen Wochen, in denen deutschlandweit fast kein einziger Tropfen Regen heruntergekommen ist, ziehen nun Gewitter heran, die teils sehr stark ausfallen können. »Man sollte darauf gefasst sein, dass sich da ein wirklich heftiges Unwetter zusammenbrauen kann«, sagt Wetterexperte und Meteorologe Marcus Beyer. »Es wird wohl verbreitet schwer stürmen, örtlich sind auch Orkanböen nicht ausgeschlossen.« Doch noch sind auch viel Fragen offen.
»Spektrum.de«: Am heutigen Dienstag, 20. Juni, könnten bereits gegen Abend schwere Unwetter in Deutschland wüten. In welchen Landesteilen müssen die Menschen sich darauf einstellen?
Marcus Beyer: Uns steht tatsächlich die erste brisante Schwergewitterlage dieses Jahres bevor – wissenschaftlich hoch spannend. Vor allem im Nordwesten und Süden des Landes drohen starke Gewitter mit Großhagel und Orkanböen. Der kritischste Bereich liegt in Süddeutschland, dort ziehen Gewitter von Ostfrankreich aus weiter ostwärts. Es könnten wahre Hagelgeschosse mit mehr als fünf Zentimeter Durchmesser vom Himmel fallen, zudem wird es wohl verbreitet schwer stürmen mit Windspitzen von 85 bis 100 Kilometer pro Stunde, örtlich sind auch Orkanböen um 120 Kilometer pro Stunde nicht ausgeschlossen. Der Deutsche Wetterdienst hat für den Südwesten bereits eine Vorabinformation für schwere Gewitter herausgegeben.
Können auch Tornados auftreten?
Die Gefahr von Downbursts ist sehr hoch, daher auch die Warnung vor Orkanböen. Downbursts sind heftige Fallwinde, die aus großer Höhe den Erdboden berühren und ein sehr großes Schadenspotenzial haben. Im Gegensatz dazu sind Tornados rotierende Winde. Die sind aktuell wenig wahrscheinlich. Aber womöglich können sie noch im Laufe der Woche entstehen.
Wie genau entsteht eine solche brisante Wetterlage?
Über Westeuropa hat sich ein Höhentief ausgebreitet, wir sprechen von einem Trog. Dieser Trog pumpt auf seiner Vorderseite mit einer südwestlichen Strömung feuchtheiße Mittelmeerluft zu uns nach Mitteleuropa, die eingeflossene Luft ist sehr labil und energiegeladen.
Deshalb schwitzen wir hier alle …
Das geht mir auch so. Die Luft ist ziemlich schwül. Die Taupunkttemperatur, ein Maß für die Luftfeuchte, liegt bei Werten um die 20 Grad, das ist beinahe tropisch. Letzte Woche lag der Wert noch bei fünf bis zehn Grad. Die Nächte waren dadurch auch kühler und angenehmer. Wir haben es also mit einer völlig anderen Luft in dieser Woche zu tun. Obwohl die Höchsttemperaturen ähnlich sind wie in der vergangenen Woche, kommt uns das viel wärmer vor.
Bislang war es in großen Teilen Europas ja sehr trocken. Geregnet hat es kaum. Und jetzt kommt alles auf einmal runter?
Ja, bisher hatten wir es mit einer stabilen Wetterlage zu tun. Die Luft kam meist aus Osteuropa und war allgemein ziemlich trocken. Wenn es mal regnete oder Gewitter gab, dann wurde dieser Niederschlag durch Kaltlufttropfen ausgelöst. Mittlerweile hat sich ein markanter Wetterwechsel vollzogen. Es wird einiges passieren, da sind wir uns in der Vorhersage recht sicher. Nur im Detail – wo und wie genau – gibt es wie immer noch Fragezeichen.
Warum ist die Eingrenzung bis heute so schwer?
Was wir im Voraus sehen können, ist das Potenzial einer Wetterlage. Die Cape-Werte beispielsweise liegen heute Abend im Süden verbreitet bei 1000 bis 2000 Joule pro Kilogramm. Dieses Maß gibt an, wie energiegeladen die Luft ist und welche Aufwinde dadurch in den Gewitterwolken erzeugt werden können. Zudem sehen wir eine große Windscherung in der Atmosphäre. Diese zeigt an, wie stark der Wind sich in Geschwindigkeit und Richtung mit der Höhe ändert. Beide Maße – hohe Cape-Werte und eine große Windscherung – sind wichtige Zutaten für langlebige Unwetter, die dann eine Eigendynamik entwickeln können. Wir nennen sie Superzellen. Im Laufe einer Gewitterlage können sich mehrere Superzellen zu einer Linie vereinigen. Dann besteht die Gefahr, dass großflächig starke Winde entstehen. Die vom Gewitter erzeugte kalte Luft kann dann beschleunigend von hinten nach vorne stoßen. Man spricht von einem Bogenecho – im Radarbild zeigt sie sich durch eine konvexe Ausbuchtung. Solche Formationen sind gefährlich. Beim schweren Pfingstunwetter im Jahr 2014 in Düsseldorf kam es zu einer solchen Bogenformation, die Schäden waren immens. Die Wettermodelle deuten für den Süden ebenfalls Bogenechos an, wenn auch kleinräumiger als damals.
Aber wo genau so etwas auftreten kann, wissen Sie nicht?
Nein, das ist extrem dynamisch. Die dritte Zutat für eine Schwergewitterlage ist eine Hebung, die die energiereiche Luftmasse aktiviert. Das kann ein Berg sein, der die Luft zum Aufsteigen zwingt, ein Gewitter vom Vorabend oder aber kleine Störungen in der Atmosphäre. Wir können zwar Regionen ermitteln, in denen ein hohes Potenzial dafür besteht, weil alle drei Zutaten und die hohe Windscherung zusammenkommen. Die Details – wo genau die Gewitterzellen ausgelöst werden oder sich vereinigen –, das lässt sich erst kurze Zeit vorher sagen. Die Estofex-Vorhersage oder auch die Vorabinformationen und Warnlageberichte des Deutschen Wetterdienstes sind genau solche Potenzialabschätzungen.
Sie schreiben Vorhersagen für ganz Europa bei Estofex, einem ehrenamtlich arbeitenden Team an Experten für Schwergewitter. Dort haben Sie heute Nacht das Level 2 für große Teile Mitteleuropas herausgegeben. Was bedeutet das?
Das ist die zweihöchste Stufe unseres Warnsystems. Die rufen wir aus, wenn große Schadensereignisse wie Großhagel, Sturm oder Tornados in einem Gebiet recht häufig und verbreitet auftreten. Es bestand sogar mal kurzzeitig die Überlegung, für den Süden Deutschland ein Level 3 auszurufen.
Die höchste Warnstufe?
Richtig. Daran sehen Sie schon, dass wir es nicht mit einer 08/15-Gewitterlage zu tun haben. Besonders für den Süden besteht die Möglichkeit, dass sich ein so genanntes mesoskaliges Konvektionssystem bildet.
Was ist das?
Das ist ein Verbund von mehreren Unwetterzellen, zum Beispiel eine Gewitterlinie, die sehr langlebig und gefährlich sein kann. Im vergangenen Sommer zog ein solches Unwettersystem von Korsika bis Österreich und hinterließ große Schäden.
Und so etwas könnte heute Abend ausgelöst werden?
Das System in Korsika letzten Sommer war noch eine Ecke extremer. Da hatten wir vorher Level 3 ausgerufen, die höchste Warnstufe. Ganz so schlimm wird es wohl nicht kommen.
»Wenn so eine Superzelle oder Gewitterlinie kommt, hat man als Gärtner verloren«Marcus Beyer, Diplom-Meteorologe
Wie kann ich mich denn nun auf diese Lage vorbereiten? Alles ins Haus holen, sturmsicher verstauen? Tomatenpflänzchen anbinden?
Wenn so eine Superzelle oder Gewitterlinie kommt, hat man als Gärtner verloren. Da spreche ich aus Erfahrung. Aber sonst gilt: Man sollte darauf gefasst sein, dass da ein wirklich heftiges Unwetter kommen kann. Deshalb bitte die Unwetterwarnungen des Deutschen Wetterdienstes auf »dwd.de« oder über die Warn-App »Nina« verfolgen. Man sollte vermeiden, sich bei einer Gewitter- oder Unwetterwarnung im Freien aufzuhalten, und natürlich Vorbereitungen treffen. Sonnenschirme reinholen, Blumentröge unterstellen und so weiter.
Für Donnerstag kündigt sich schon der nächste großflächige Unwettertag an …
Richtig, noch ist nicht Schluss. Auch am Mittwoch sind im süddeutschen Raum Unwetter mit Schadenspotenzial zu erwarten, während es im Rest des Landes eine Verschnaufpause gibt. Am Donnerstag erwarten wir für Deutschland dann den Höhepunkt dieser Unwetterserie. Betroffen ist dann vor allem die Südosthälfte. Man muss an diesem Tag mit allen Unwägbarkeiten rechnen. Wenn sich bewahrheitet, was wir jetzt schon in den Wettermodellen sehen, könnte es gut sein, dass wir bei Estofex wohl die höchste Warnstufe ausrufen.
Woran machen Sie das fest?
Im Vergleich zum heutigen Dienstag sind die Cape-Werte nochmal höher mit Werten zwischen 2000 und örtlich 4000 Joule pro Kilogramm, das wären Extremwerte für Europa. Das Ganze ist gepaart mit sehr hoher Windscherung. Es steht ein ausgewachsener Unwettertag für die Südosthälfte des Landes und die angrenzenden europäischen Nachbarländer an. Es muss erneut mit großen bis sehr großen Hagelkörnern sowie Orkanböen gerechnet werden und diesmal ist auch die Tornadogefahr erhöht. Für genaue Details ist es jetzt noch zu früh. Ich empfehle, in den kommenden Tagen die von offiziellen Stellen herausgegebenen Warnungen aufmerksam zu verfolgen und vorbereitet zu sein.
Und dann ist das Gröbste überstanden?
Ja, am Freitag entspannt sich die Lage in Deutschland. Eine Kaltfront überquert das Bundesgebiet und die schwülwarme, energiereiche Luftmasse wird nach Süd- und Osteuropa abgedrängt. Das Wochenende zeigt sich dann verbreitet freundlich.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.