Arten: Wie Städte die Evolution antreiben
»Wusch!«, ruft mein Freund Frank, während er die hohle Hand nach oben schnellen lässt und dabei fast das Glas auf dem Tisch umwirft. Wir sitzen im Hinterhof meines Hauses im niederländischen Leiden. Frank zeigt mir gerade, wie es aussieht, wenn ein Wanderfalke vor dem Fenster seines Arbeitszimmers aufwärtsschießt. Das passiert ein- bis zweimal täglich, und der Greifvogel hält dabei meist eine frisch erlegte Taube in den Krallen und steuert seinen Horst an, der sich unter einem riesigen beleuchteten Logo auf dem Hausdach befindet. Wenige Sekunden nach einem solchen Vorbeiflug schweben ein paar ausgerupfte Federn herunter.
Die Wanderfalken gehören zu den vielen Vogelarten, die sich in jüngster Zeit an ein Leben in der Stadt angepasst haben. Unter natürlichen Bedingungen jagen sie mittelgroße Vögel in der Umgebung felsiger Klippen. Doch seit der Mensch nahezu überall künstliche Landschaften aus Kirchen, Schornsteinen, Bürohäusern und sonstigen Gebäuden errichtet hat, tauschen die Vögel nur zu gern steile Böschungen gegen Fassaden und erlegen Tauben statt Hähern. In einigen Regionen Europas und Nordamerikas nistet bereits heute die Mehrzahl der Wanderfalken in Städten.
Ähnlichkeiten zwischen urbaner und natürlicher Umwelt locken immer mehr Tiere und Pflanzen in menschliche Siedlungen. Höhlenschaben halten sich auf Grund ihrer evolutionär erworbenen Standortpräferenzen gern in dunklen, feuchten Wohnungen auf. Strandpflanzen gedeihen entlang von Straßen, auf denen im Winter Salz gestreut wird. Waschbären stellen fest, dass sie mit ihren geschickten, handähnlichen Vorderpfoten wunderbar in Abfall- und Komposthaufen wühlen können, die nahezu überall zu finden sind. Denn Homo sapiens nimmt auf fast allen Kontinenten ausgedehnte Regionen in Beschlag: 2030 wird es mehr als 600 Städte geben, in denen jeweils mehr als eine Million Menschen leben. Keine Spezies außer uns hat jemals in derart gewaltigem Maßstab neue Umwelten erschaffen, in denen nicht bloß wir selbst, sondern auch andere Arten leben.
Städte mit ihren Landschaften aus Stein, Glas und Stahl, mit ihrem rasenden Puls der Autostraßen und Schienenwege, ihrem gleißenden künstlichen Licht und ihren chemischen Ausdünstungen sind extreme, aber auch üppige Lebensräume. Obwohl die Bedingungen hier oft hart sind, weisen sie dennoch viele Vorteile auf, insbesondere die massenhafte Verfügbarkeit von Nahrung und anderen Ressourcen, die der Mensch anhäuft. So wie in natürlichen Umgebungen, die sich durch extreme Merkmale auszeichnen – Wüsten, Schwefelquellen oder tiefe Höhlen –, treibt die Kombination aus Chancen und Risiken ebenso im urbanen Umfeld die Evolution voran. Meine Kollegen rund um den Globus und ich stellen immer wieder fest, dass Städte zu brodelnden Laboren der Evolution geworden sind: zu Habitaten, die nach schnellen und umfassenden Anpassungen verlangen.
Um Zeuge dessen zu werden, braucht man nur vor die eigene Tür zu treten. Der Hinterhof meines Hauses gibt ein gutes Beispiel hierfür ab, auch wenn er nicht gerade eine Augenweide ist. Zwischen alten Bodenfliesen wachsen alle möglichen Unkräuter. In einer Ecke wuchert ein vernachlässigter Rosenstrauch, in einer anderen steht ein Blumenkübel mit einer Hortensie. An der Mauer klettern Hopfenranken empor. Hinter den Blättern des Hopfens verbirgt sich eines meiner Lieblingsbeispiele für urbane Evolution. Vorsichtig ziehe ich sie zur Seite und zeige Frank ein paar Hain-Bänderschnecken, die an den toten Zweigen aus früheren Jahren knabbern. Die Tiere mit der wissenschaftlichen Artbezeichnung Cepaea nemoralis sind in Europa heimisch, aber zudem nach Nordamerika verschleppt worden. Ihre Gehäuse können die verschiedensten Farben und Muster annehmen – Varianten, die auf individuell unterschiedlichen Erbfaktoren in der DNA beruhen. Die Schnecken in meinem Hof sind blassgelb und mit bis zu fünf schwarzen, spiralförmigen Streifen verziert. Warum gerade gelb? Die Antwort hat mit dem so genannten Wärmeinseleffekt zu tun. In Städten liegen die Temperaturen meist höher als in den umgebenden ländlichen Gebieten, weil Gebäude und Straßen die Sonnenstrahlung absorbieren und sich infolgedessen aufheizen. Dies zusammen mit der Wärme, die Millionen Menschen nebst ihren Geräten und Maschinen erzeugen, schafft eine große Blase aus heißer Luft. In einer Gemeinde mittlerer Größe, etwa Leiden, klettern die Thermometerwerte im Stadtzentrum durchschnittlich zwei bis drei Grad Celsius höher als im Umland. In Metropolen wie New York oder Tokio kann der Unterschied mehr als zehn Grad betragen. Für Schnecken, die während des Sommers manchmal wochenlange Trockenphasen überstehen müssen, ist die zusätzliche Wärme potenziell tödlich – besonders wenn sie ein dunkles Gehäuse besitzen, das viel Strahlung absorbiert. Die natürliche Selektion in einem urbanen Umfeld begünstigt deshalb solche Tiere, die ein helleres Haus ausbilden. Außerhalb der Stadtgrenzen stößt man mit größerer Wahrscheinlichkeit auf rote oder braune Schneckenhäuser.
Als Frank und ich durch das Hoftor gehen und auf die Straße treten, stolpern wir über ein zweites Beispiel städtischer Evolution: Löwenzahn (Taraxacum sect. Ruderalia). Die Pflanzen sprießen durch Risse im Straßenpflaster. Einige stehen in voller gelber Blüte, andere tragen eine flauschige Pusteblume mit schirmchenähnlichen Samen. Unter natürlichen Bedingungen werden diese mit dem Wind davongetragen, bis sie in großer Entfernung niedergehen und keimen. Ein System, das Konkurrenz zwischen Elternpflanzen und ihren Nachkommen weitgehend verhindert.
Lieber möglichst steil zu Boden statt vom Winde verweht
In der Stadt funktioniert die Methode jedoch oft nicht, weil das Areal, auf dem die Elternpflanze gedeiht, häufig das einzige unversiegelte Stück Land in der Umgebung ist. Leichte Samen mit Flugschirmen, die der Wind weit wegbläst, landen wahrscheinlich auf Asphalt oder Beton. Besser wäre ein schwerer Samen, der möglichst nah bei der Ursprungspflanze niedergeht. Genau das hat die Agrarwissenschaftlerin Arathi Seshadri von der Colorado State University im Jahr 2012 beobachtet. Wie sie herausfand, sind die beschirmten Löwenzahnsamen in der Stadt deutlich länger und sinken schneller zu Boden als ihre Gegenstücke in ländlichen Regionen.
Interessanterweise hat das Gewöhnliche Ferkelkraut (Hypochaeris radicata), das mit dem Löwenzahn verwandt ist, ganz ähnliche Anpassungen unter natürlichen Bedingungen entwickelt. Auf winzigen Inseln vor der kanadischen Westküste bildet es Samen aus, die schneller zu Boden fallen als die seiner Verwandten auf dem Festland. Hier übte die Gefahr, aufs Meer abgetrieben zu werden, einen entsprechenden Selektionsdruck aus.
Frank und ich setzen unsere Exkursion fort, überqueren eine Hauptstraße und nähern uns einem Flussabschnitt namens Galgewater. Am Ufer, wo einst Rembrandts Geburtshaus stand, liegen mehrere Hausboote. Als wir eine Hängebrücke passieren möchten, fallen uns überall Spinnennetze auf – sowohl zwischen den Holmen des Brückengeländers als auch vor den Fenstern der Boote. Die runden Gebilde, die in der Sonne glitzern, besitzen alle möglichen Größen zwischen Untertassen- und Fahrradreifenformat. An ihren filigranen Fäden hängen die ausgesaugten, vertrockneten Überreste von Mücken und Faltern. Die Netzbauer selbst, die Brückenkreuzspinnen (Larinioides sclopetarius), sind nirgends zu sehen. Als nachtaktive Tiere verstecken sie sich tagsüber in Ritzen und warten auf die Dunkelheit, bevor sie sich zu ihren gewebten Fallen wagen, um die darin hängen gebliebenen Insekten zu verzehren. Doch was ist mit jenen Netzen direkt unter hellen Brückenlaternen? Hier hat eine städtische Spinnenpopulation neue Baugewohnheiten entwickelt, weil das große Vorteile mit sich bringt: Die Lampen locken zahlreiche Beutetiere an. Wie die österreichische Spinnenforscherin Astrid Heiling schon in den 1990er Jahren herausfand, haben Brückenkreuzspinnen in urbanem Umfeld eine Vorliebe für künstliches Licht ausgeprägt. Sonnenlicht meiden sie allerdings nach wie vor.
Bei den Beutetieren der Spinnen hingegen verläuft die Evolution genau in umgekehrter Richtung – jedenfalls wissen die Forscher das von mindestens einer Spezies. Für Insekten haben die Verlockungen elektrischer Beleuchtung häufig tödliche Folgen. Sie verschmoren an heißem Glas, umkreisen die Lichtquelle bis zur Erschöpfung, statt zu fressen oder sich zu paaren, oder verenden eben im Netz einer Brückenkreuzspinne. Nach Ansicht vieler Entomologen ist die Orientierung zum Hellen hin derart fest im Gehirn der Insekten verdrahtet, dass sie sich nicht abschalten lässt, selbst wenn sie den Verlust unzähliger Individuen zur Folge hat. Der Schweizer Insektenforscher Florian Altermatt war von dieser Auffassung allerdings nicht überzeugt und führte Studien unter anderem an Pfaffenhütchen-Gespinstmotten (Yponomeuta cagnagella) durch. Zunächst sammelte er Hunderte ihrer Raupen im gut beleuchteten Zentrum von Basel und dann noch einmal ebenso viele in den dunklen Wäldern außerhalb der Stadt. Sie alle brachte er in eine Laborumgebung, wo sie sich verpuppten. Die Falter, die daraus hervorgingen, markierte er mit kleinen Farbflecken, so dass er bei jedem erkennen konnte, woher dieser stammte. Dann ließ er mehr als 1000 dieser Motten in einem großen, dunklen Raum frei, an dessen einem Ende sich eine Leuchtstoffröhre befand. Die Falter, die vom Land stammten, flatterten erwartungsgemäß ins Helle – die aus der Stadt jedoch ignorierten die Lampe vielfach und hielten sich an anderen Stellen des Raums auf. Offenbar, so folgerte Altermatt, hatten die städtischen Tiere eine gewisse Resistenz gegenüber künstlichem Licht erworben.
Was Frank und ich während unseres kurzen Spaziergangs beobachtet haben, steht beispielhaft für evolutionäre Prozesse, die sich in urbanen Ökosystemen auf der ganzen Welt vollziehen. Ob Wärmeinseleffekt, versiegelte Oberflächen oder Lichtstress; ob Lärm, chemische Verschmutzung oder die Gefahren des Autoverkehrs: In einer städtischen Umgebung steht das Leben vor ganz besonderen Herausforderungen. Biologen haben schon oft beobachten können, wie sich Organismen an solche Faktoren anpassen. Dabei zeigen sich mitunter verblüffende Effekte, insbesondere im Hinblick auf starke Verschmutzungen mit Umweltgiften. Andrew Whitehead von der University of California in Davis und seine Kollegen haben feststellt, dass einige Populationen der »mummichogs« – kleine Brackwasserfische der Spezies Fundulus heteroclitus, die vor der US-Ostküste leben – eine phänomenale Toleranz gegenüber toxischen Chlorverbindungen namens polychlorierte Biphenyle (PCB) ausgebildet haben. Die Tiere vertragen PCB-Konzentrationen, die 8000-mal höher sind als jene, die für Individuen dieser Art normalerweise tödlich wirken.
Vielleicht noch wichtiger als physikalische und chemische Faktoren sind biologische Vorgänge. Pflanzliche oder tierische Stadtbewohner leben dicht an dicht mit diversen fremden Arten, die zufällig oder absichtlich eingeschleppt wurden: Ziergewächse, Unkräuter, landwirtschaftliche Nutzpflanzen und Fraßschädlinge, Haustiere, Parasiten und etliche andere Organismen, die Menschen oft unwissentlich in ihren Kleidern und Fahrzeugen mit sich tragen. Zusammen bilden diese Lebewesen ein Ökosystem aus Spezies, die wohl oder übel zusammenleben müssen, obwohl sie nie die Chance hatten, sich einander anzupassen. Das schafft die Bühne für das Entstehen neuer Eigenschaften. Exotische Sittiche beispielsweise stellen ihre Ernährung auf die Samen einheimischer Pflanzen um, während endemische Stadtvögel immun werden gegen Parasiten aus fernen Ländern.
Evolution im Turbogang
Angesichts der vielen Chancen und Herausforderungen evolvieren städtische Tier- und Pflanzenpopulationen sehr schnell. Oft erwerben sie weit reichende Anpassungen binnen weniger Jahrzehnte oder manchmal auch nur Jahre. Die PCB-Toleranz der »mummichogs« etwa entstand in nur wenigen dutzend Fischgenerationen – das dürfte dem maximal möglichen Evolutionstempo bereits ziemlich nah kommen, wie Computermodelle vermuten lassen. Viele Forscher können kaum glauben, dass eine so rasche Entwicklung wirklich stattfindet. Darwin selbst schrieb dazu: »Von diesen langsamen, stetigen Veränderungen bemerken wir erst dann etwas, wenn der Zeiger der Zeit das Vergehen ganzer Epochen anzeigt.« Tatsächlich aber kann Evolution unter starken Selektionsdrücken viel schneller ablaufen, als Darwin es für möglich hielt. Das gilt insbesondere für Lebewesen, die sich in kurzen zeitlichen Abständen – etwa mehrmals pro Jahr – fortpflanzen. In einer Metaanalyse von mehr als 1600 Fallstudien fanden Forscher um Marina Alberti von der University of Washington eindeutige Hinweise darauf, dass Urbanisierung die Evolution beschleunigt, in manchen Fällen auf das doppelte Tempo. Eine der stärksten Triebkräfte dabei war die Einwanderung invasiver Arten.
Heißt das nun, im Zuge der Urbanisierung werden sich sämtliche Arten einfach an die menschlich geprägten Lebensräume des Anthropozäns anpassen? Leider nein. Nur ganz bestimmte Spezies können Städte besiedeln, dort überleben und gedeihen. Auf jede Art, die hierbei Erfolg hat, kommen mindestens zehn andere, die sich nicht schnell genug anpassen können und deshalb aussterben. Auch in Zukunft werden wir viele Rückzugs- und Naturschutzgebiete, Schutzgesetze und andere Maßnahmen benötigen, die es Organismen ermöglichen, in einer sich verstädternden Landschaft zu überleben.
Nichtsdestoweniger treten wir mit den urbanen Ökosystemen, die sich rund um den Globus ausbreiten, in eine spannende neue Phase der Erdgeschichte ein. Nie zuvor war ein extremer Lebensraum in derartigem Ausmaß weltweit präsent. Alle Städte ähneln sich in einer Reihe von Merkmalen, und deshalb wird die Pflanzen- und Tierwelt sich überall auch in ähnlicher Weise darauf einstellen. Vielleicht können Amateurforscher den Profis dabei helfen, Ausmaß und Tempo dieses Wandels zu dokumentieren. Viele urban siedelnde Arten, darunter die Stadttaube, der Weißklee und der Löwenzahn, kommen rund um den Globus vor; eine globale Gemeinschaft von Bürgerwissenschaftlern (»Citizen Scientists«) könnte ihre Veränderungen wirksam überwachen. Beispielhafte Erfolgsgeschichten hierfür gibt es schon: Die eingangs beschriebene Evolution der Hain-Bänderschnecken haben Freiwillige mit Hilfe der Smartphone-App SnailSnap entdeckt, die es erlaubte, Daten von als 12 000 Schnecken in niederländischen Städten zu sammeln.
Urbane Arten, die sich an vergleichbare städtische Habitate anpassen, könnten einander immer ähnlicher werden, weil sie auf die Herausforderungen der urbanen Umwelt mit denselben adaptiven Strategien antworten. Globale Vereinheitlichung ist daher vielleicht jenes Merkmal, das die städtische Evolution am stärksten von ihrem »natürlichen« Gegenstück unterscheidet und das zum charakteristischen Kennzeichen des Anthropozäns avanciert. Weil es so etwas noch nie gegeben hat, können wir freilich nur mutmaßen, wie es auf diesem Feld künftig weitergehen wird.
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