Medizinischer Streitfall: Ursache unbekannt
Vieles am Chronischen Erschöpfungssyndrom bleibt rästelhaft: Was löst die Krankheit aus? Wie behandelt man sie? Und wie wird sie erkannt? Ihr Leitsymptom - extreme Erschöpfung - begleitet auch zahllose andere Erkrankungen, was die Diagnose erschwert.
"Wenn ich 100 Meter zum Bus laufen musste, war das manchmal ein Überlebenskampf", erinnert sich Regina Clos. Seit 25 Jahren leidet die Übersetzerin am Chronischen Erschöpfungssyndrom (CFS, englisch Chronic Fatigue Syndrome), einer Krankheit die den Betroffenen ein normales Leben fast unmöglich macht. Auch Marlies Zurhorst -heute Vorstandvorsitzende des Bundesverbands Chronisches Erschöpfungssyndrom, Fatigatio e.V. – erinnert sich an eine schwere Grippe, nach der alles anders war: "Ich habe gemerkt, dass ich nicht mehr richtig auf die Beine komme. Mir fehlte irgendwie die Hälfte meiner Energie." Ein bleiernes Gefühl von extremer Müdigkeit, das bleibt – manchmal für immer.
CFS zieht sich oft über Jahre, wobei die Leistungseinschränkungen zu Beginn der Erkrankung am stärksten ausgeprägt sind. Meist setzt die Krankheit zwischen dem 25. und 45. Lebensjahr ein, typischerweise plötzlich und im Zusammenhang mit einem Infekt. In schweren Fällen sind die Betroffenen dermaßen geschwächt, dass sie das Bett nicht mehr verlassen können. Ein aktives Leben ist mit der Krankheit nicht mehr möglich, sie macht die Betroffenen arbeitsunfähig sowie von ihrem Umfeld und Sozialleistungen abhängig. "Die Leute fallen ins Bodenlose", konstatiert Zuhorst, wenn Versorgungsträger die Krankheit nicht anerkennen und finanzielle Unterstützung verweigern.
Drahtseilakt Ausschlussdiagnose
Dass die CFS-Patienten Beihilfen einklagen müssen ist die Norm. Denn die Schwierigkeiten beginnen bereits damit, die Krankheit überhaupt festzustellen: Kein Laborbefund kann CFS eindeutig nachweisen und eine einheitliche Definition der Krankheit fehlt. Als diagnostische Richtlinie nutzen die meisten Mediziner die so genannten Fukuda-Kriterien, auf die auch die amerikanische Gesundheitsbehörde CDC (Centers for Disease Control Prevention) verweist. Danach wird CFS charakterisiert durch eine lähmende Erschöpfung, die mindestens ein halbes Jahr anhält und sich nach Anstrengung anhaltend verschlechtert. Mindestens vier weitere Symptome müssen dabei das Leitsymptom begleiten, etwa Kopf-, Hals-, Muskel- und Gelenkschmerzen, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, empfindliche Lymphknoten oder nicht erholsamer Schlaf.
Seelische Ursache?
Ärzte, Psychologen und Psychiater streiten seit vielen Jahren darüber, ob die Krankheit vorwiegend psychischer oder physischer Natur ist. CFS läuft in Deutschland offiziell unter dem Etikett somatoforme Störung – einer psychosomatischen Erkrankung.
Unbestritten leiden die Betroffenen dabei unter körperlichen Beschwerden – eine eindeutige Ursache dafür festzustellen ist aber schwer. Das verdeutlicht auch Peter Henningsen, Leiter der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der TU München. Er versteht psychosomatische Erkrankungen wie CFS als Störung, der nicht eine einzelne organische Ursache zu Grunde liegt, sondern bei der biologische, psychologische und soziale Faktoren gemeinsam auf die Patienten wirken. Dementsprechend plädiert er als Behandlung für eine kognitive Verhaltenstherapie, an die sich eine so genannte gestufte Aktivierungstherapie anschließt. Die Betroffenen sollen dabei erkennen, wie relevant psychosoziale Faktoren sind und wie Gedanken, Gefühle und Verhalten mit der Psychotherapie verändert werden können. Im weiteren Therapieverlauf geht es darum, die Aktivität der Betroffenen stufenweise zu steigern. Das soll einen Teufelskreis durchbrechen, in den sich die Patienten auf Grund ihrer "Erschöpfungsüberzeugung" begeben haben: Weil sie körperliche Anstrengung vermeiden, kommt es zu einer Schwächung des Körpers, was zur Folge hat, dass immer geringere Aktivitäten stetig mehr Kraft kosten und wiederum längere Ruhephasen eingelegt werden müssen. Die Empfehlung der Psychiater an CFS-Patienten, sich körperlich zu belasten, unterfüttert auch eine vergleichende Studie: Sie scheint die Erfolgsaussichten der Therapie zu belegen. [1]
Keine Sache des Kopfes?
Nicht wenige Patienten berichten allerdings etwas ganz anderes: Ihnen geht es nach dieser Behandlung sogar wesentlich schlechter, erklärt Marlies Zurhorst. Die gezielte Belastung verursache hier offenbar mehr Schaden als Nutzen; eine Beobachtung, die die Überzeugung einiger Mediziner stützt, welche die CFS doch als körperliche Erkrankung einstufen. Auch sie berufen sich auf Studien: Untersuchungen die zeigen, dass das dynamische Gleichgewicht zwischen Immun-, Nerven- und Hormonsystem bei CFS-Patienten gestört wird. Daraus resultiert womöglich jene chronische Schwächung oder Aktivierung des Immunsystems, die zum Symptomenkomplex von CFS führen kann. Was das Ungleichgewicht verursacht, kann bisher allerdings nur vermutet werden. In Frage kommen umweltbedingte Stressoren wie eine falsche Ernährung oder Kontakt mit toxischen Stoffen, aber auch bakterielle und virale Infektionserreger oder eine genetische Disposition.
Viren im Verdacht
Besonders Viren geraten immer wieder ins Visier der CFS-Forschung. Lange Zeit galt das Epstein-Barr-Virus – verantwortlich für das Pfeiffersche Drüsenfieber – als Hauptverdächtiger. Im Herbst 2009 rückte das Retrovirus XMRV (Xenotropic Murine Leukemia Virus-Related Virus) dann an seine Stelle: Wissenschaftler hatten gleich 67 Prozent der Blutproben von CFS-Patienten positiv auf XMRV getestet, nur vier Prozent der Kontrollproben zeigten das gleiche Ergebnis. [2] Entsprechend nahe lag die Vermutung, dass dieses Retrovirus entweder CFS verursacht oder aber eine mögliche Koinfektion darstellt.
Andere Forscherteams fanden dann aber weder bei CFS-Erkrankten noch bei den gesunden Probanden das Retrovirus. Auch Norbert Bannert vom Robert Koch-Institut machte sich mit seinen Kollegen auf die Suche nach XMRV bei CFS-Patienten – umsonst: "Alle Tests waren negativ." [3]
Der Chefredakteur von "Science", in dem 2009 die ursprüngliche Veröffentlichung erschienen war, distanziert sich mittlerweile von den Ergebnissen: Womöglich sei die XMRV-Studie nicht stichhaltig. Initiiert von der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde läuft zurzeit ein groß angelegtes Forschungsprojekt, welches die Rolle des Retrovirus im Zusammenhang mit CFS aufklären soll. Die beteiligten Labors, darunter auch die Forscher der Studie von 2009, testen zentral vergebene, einheitliche Proben auf das Vorhandensein von XMRV. Ende dieses Jahres werden die Ergebnisse erwartet.
Krankheitsmanagement
CFS zieht sich oft über Jahre, wobei die Leistungseinschränkungen zu Beginn der Erkrankung am stärksten ausgeprägt sind. Meist setzt die Krankheit zwischen dem 25. und 45. Lebensjahr ein, typischerweise plötzlich und im Zusammenhang mit einem Infekt. In schweren Fällen sind die Betroffenen dermaßen geschwächt, dass sie das Bett nicht mehr verlassen können. Ein aktives Leben ist mit der Krankheit nicht mehr möglich, sie macht die Betroffenen arbeitsunfähig sowie von ihrem Umfeld und Sozialleistungen abhängig. "Die Leute fallen ins Bodenlose", konstatiert Zuhorst, wenn Versorgungsträger die Krankheit nicht anerkennen und finanzielle Unterstützung verweigern.
Drahtseilakt Ausschlussdiagnose
Dass die CFS-Patienten Beihilfen einklagen müssen ist die Norm. Denn die Schwierigkeiten beginnen bereits damit, die Krankheit überhaupt festzustellen: Kein Laborbefund kann CFS eindeutig nachweisen und eine einheitliche Definition der Krankheit fehlt. Als diagnostische Richtlinie nutzen die meisten Mediziner die so genannten Fukuda-Kriterien, auf die auch die amerikanische Gesundheitsbehörde CDC (Centers for Disease Control Prevention) verweist. Danach wird CFS charakterisiert durch eine lähmende Erschöpfung, die mindestens ein halbes Jahr anhält und sich nach Anstrengung anhaltend verschlechtert. Mindestens vier weitere Symptome müssen dabei das Leitsymptom begleiten, etwa Kopf-, Hals-, Muskel- und Gelenkschmerzen, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, empfindliche Lymphknoten oder nicht erholsamer Schlaf.
Der Symptomkatalog alleine reicht aber nicht aus für die Diagnose CFS, denn viele andere Krankheiten gehen mit ähnlichen Beschwerden einher. Von einer leichten Lebensmittelunverträglichkeit bis hin zu tödlichen Krebserkrankungen – der behandelnde Arzt muss im Vorfeld in Frage kommende Krankheiten ausgeschlossen haben, um die Diagnose CFS stellen zu können. Dieses Prozedere ist mit erheblichem Aufwand und hohen Kosten verbunden: Dutzende Labortests, die eine gesetzliche Krankenkasse nicht zahlt, sind für die Ausschlussdiagnose CFS vonnöten. "Hausärzte scheuen diese umfangreichen Untersuchungen oft aus Kostengründen", weiß auch Frau Zurhorst.
Seelische Ursache?
Ärzte, Psychologen und Psychiater streiten seit vielen Jahren darüber, ob die Krankheit vorwiegend psychischer oder physischer Natur ist. CFS läuft in Deutschland offiziell unter dem Etikett somatoforme Störung – einer psychosomatischen Erkrankung.
Unbestritten leiden die Betroffenen dabei unter körperlichen Beschwerden – eine eindeutige Ursache dafür festzustellen ist aber schwer. Das verdeutlicht auch Peter Henningsen, Leiter der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der TU München. Er versteht psychosomatische Erkrankungen wie CFS als Störung, der nicht eine einzelne organische Ursache zu Grunde liegt, sondern bei der biologische, psychologische und soziale Faktoren gemeinsam auf die Patienten wirken. Dementsprechend plädiert er als Behandlung für eine kognitive Verhaltenstherapie, an die sich eine so genannte gestufte Aktivierungstherapie anschließt. Die Betroffenen sollen dabei erkennen, wie relevant psychosoziale Faktoren sind und wie Gedanken, Gefühle und Verhalten mit der Psychotherapie verändert werden können. Im weiteren Therapieverlauf geht es darum, die Aktivität der Betroffenen stufenweise zu steigern. Das soll einen Teufelskreis durchbrechen, in den sich die Patienten auf Grund ihrer "Erschöpfungsüberzeugung" begeben haben: Weil sie körperliche Anstrengung vermeiden, kommt es zu einer Schwächung des Körpers, was zur Folge hat, dass immer geringere Aktivitäten stetig mehr Kraft kosten und wiederum längere Ruhephasen eingelegt werden müssen. Die Empfehlung der Psychiater an CFS-Patienten, sich körperlich zu belasten, unterfüttert auch eine vergleichende Studie: Sie scheint die Erfolgsaussichten der Therapie zu belegen. [1]
Keine Sache des Kopfes?
Nicht wenige Patienten berichten allerdings etwas ganz anderes: Ihnen geht es nach dieser Behandlung sogar wesentlich schlechter, erklärt Marlies Zurhorst. Die gezielte Belastung verursache hier offenbar mehr Schaden als Nutzen; eine Beobachtung, die die Überzeugung einiger Mediziner stützt, welche die CFS doch als körperliche Erkrankung einstufen. Auch sie berufen sich auf Studien: Untersuchungen die zeigen, dass das dynamische Gleichgewicht zwischen Immun-, Nerven- und Hormonsystem bei CFS-Patienten gestört wird. Daraus resultiert womöglich jene chronische Schwächung oder Aktivierung des Immunsystems, die zum Symptomenkomplex von CFS führen kann. Was das Ungleichgewicht verursacht, kann bisher allerdings nur vermutet werden. In Frage kommen umweltbedingte Stressoren wie eine falsche Ernährung oder Kontakt mit toxischen Stoffen, aber auch bakterielle und virale Infektionserreger oder eine genetische Disposition.
Viren im Verdacht
Besonders Viren geraten immer wieder ins Visier der CFS-Forschung. Lange Zeit galt das Epstein-Barr-Virus – verantwortlich für das Pfeiffersche Drüsenfieber – als Hauptverdächtiger. Im Herbst 2009 rückte das Retrovirus XMRV (Xenotropic Murine Leukemia Virus-Related Virus) dann an seine Stelle: Wissenschaftler hatten gleich 67 Prozent der Blutproben von CFS-Patienten positiv auf XMRV getestet, nur vier Prozent der Kontrollproben zeigten das gleiche Ergebnis. [2] Entsprechend nahe lag die Vermutung, dass dieses Retrovirus entweder CFS verursacht oder aber eine mögliche Koinfektion darstellt.
Andere Forscherteams fanden dann aber weder bei CFS-Erkrankten noch bei den gesunden Probanden das Retrovirus. Auch Norbert Bannert vom Robert Koch-Institut machte sich mit seinen Kollegen auf die Suche nach XMRV bei CFS-Patienten – umsonst: "Alle Tests waren negativ." [3]
Seitdem lieferten internationale Forscherteams immer wieder sowohl Positiv- wie auch Negativbelege für XMRV. Die Experten streiten vor allem darüber, ob es sich bei den XMRV-Nachweisen nicht um Falschpositivergebnisse handelt, die auf Laborkontaminationen zurückzuführen sind. Allerdings lassen sich nicht alle positiven XMRV-Nachweise mit der Kontaminationstheorie erklären. Daher spekulieren Befürworter, es könne sich bei der XMRV-Infektion um ein regionales Phänomen handeln.
Der Chefredakteur von "Science", in dem 2009 die ursprüngliche Veröffentlichung erschienen war, distanziert sich mittlerweile von den Ergebnissen: Womöglich sei die XMRV-Studie nicht stichhaltig. Initiiert von der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde läuft zurzeit ein groß angelegtes Forschungsprojekt, welches die Rolle des Retrovirus im Zusammenhang mit CFS aufklären soll. Die beteiligten Labors, darunter auch die Forscher der Studie von 2009, testen zentral vergebene, einheitliche Proben auf das Vorhandensein von XMRV. Ende dieses Jahres werden die Ergebnisse erwartet.
Krankheitsmanagement
"Die Patienten müssen CFS als eine Erkrankung respektieren, die verhindert, dass sie ihren ursprünglichen Leistungsansprüchen wieder genügen können."
Mindestens so lange werden viele Betroffene weiter darauf warten müssen, rasch Hilfe zu bekommen: ein schnell wirkendes Medikament statt der umstrittenen Verhaltenstherapie fehlt – vielleicht wird es nie gefunden. Unterdessen behandeln Ärzte CFS weiter sehr unterschiedlich: Die Therapie reicht von der Bekämpfung einer Virusinfektion bis hin zum Ausgleich von Mangelzuständen. So bleibt den Patienten derzeit nur, die Krankheit zu akzeptieren, sich nicht weiter zu überfordern und mit den verbliebenen Kräften hauszuhalten. "Patienten müssen CFS als eine Erkrankung respektieren, die verhindert, dass sie ihren ursprünglichen Leistungsansprüchen genügen können", meint der Psychiater Michael Sadre-Chirazi-Stark. Er bringt chronisch Erschöpften das von ihm entwickelte "Energiefassmodell" nahe – sein Versuch, den Betroffenen die komplexen Zusammenhänge zwischen Kosten und Nutzen von Belastungen bildlich darzustellen. Aktiv zu sein, ohne die individuelle Grenze zu überschreiten, ist auch das Prinzip des Belastungsmanagements, welches die Selbsthilfeorganisationen unter dem Begriff "Pacing" empfehlen. Alltägliche Aufgaben werden – unterbrochen durch Ruhephasen – in kleine Abschnitte unterteilt. Auf dieser Basis lernen die Betroffenen den Spielraum, der ihnen geblieben ist, optimal zu nutzen.
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