US-Raumfahrt: Boeings Starliner fliegt ohne Crew zurück
Die Entscheidung fiel am 24. August. Verkündet wurde sie von NASA-Administrator Bill Nelson bei einer Pressekonferenz im Johnson Space Center in Houston. Sein Entschluss lautete: Boeings Starliner wird ohne Crew zur Erde zurückkehren. Die Astronauten Barry »Butch« Wilmore und Sunita »Suni« Williams werden ihm erst ein gutes halbes Jahr später folgen, und zwar mit einem Crew Dragon von SpaceX.
Nach einer erheblichen Anzahl von Verzögerungen waren die beiden Astronauten am 5. Juni 2024 in die Umlaufbahn gestartet und trafen 27 Stunden später an der Internationalen Raumstation ein. Zu diesem Zeitpunkt gingen sie und ihre Arbeitgeber NASA und Boeing von einer neuntägigen Mission aus. In dieser Zeit wollte man alle Testziele abarbeiten. Die Rückkehr bei diesem »Nominalfall« war für den 14. Juni vorgesehen.
Allerdings war die Dauer des Einsatzes schon von vornherein vorsichtshalber als nach oben offen erklärt worden, mit dem Hinweis, dass er auch durchaus bis zu zwei Monate dauern könnte. Zwei Monate deshalb, weil alles, was darüber hinausginge, den Folgeflug des Starliners, damals noch geplant für Februar 2025, gefährden würde.
»Auf Wiedersehen in einem Monat …«
Butch Wilmore übrigens verabschiedete sich unmittelbar vor seinem Start von einem NASA-Kollegen mit den Worten »See you in about a month«, und das könnte durchaus der damaligen Einschätzung der Flugdauer entsprochen haben. Inzwischen aber sind die beiden seit elf Wochen oben und es könnten gut noch 30 weitere Wochen mehr werden.
Man erinnere sich: Der entsprechende Testflug des Crew Dragon mit der Missionsbezeichnung SpaceX Demo-2 vor gut vier Jahren ging ebenfalls über eine Dauer von gut zwei Monaten. Allerdings waren die Voraussetzungen damals genau umgekehrt: SpaceX und die NASA hatten diese 62 Tage und neun Stunden als Nominaldauer angesetzt. Für den Fall, dass sich Probleme ergäben, sollte die Rückkehr eher vonstattengehen.
Ständig Probleme mit der Technik der Raumkapsel
Probleme plagten den Starliner bereits lange vor dem Start. Das hat sich nach Missionsbeginn unvermindert fortgesetzt. Die Fehlfunktionen von Ventilen und Triebwerken während des Flugs zur ISS führten dazu, dass auf einem Testgelände in New Mexico eine umfangreiche Versuchsreihe mit baugleichen Raketenmotoren durchgeführt wurde, um die Ursache zu ergründen. Währenddessen warteten Wilmore und Williams im Orbit auf den Ausgang der Tests.
Nach Abschluss dieser Probezündungen hatte der Hersteller Boeing den Betrieb mit diesen Triebwerken zunächst für sicher erklärt und den Ausgang der Versuche als erfolgreich bezeichnet. Als man die Raketenmotoren aber dann auseinanderbaute, entdeckte man aufgeblähte Teflondichtungen, die den Treibstofffluss negativ beeinflussten. Am Ende hatten die Tests mehr Fragen aufgeworfen als geklärt.
Dennoch sah es bis Ende Juli so aus, als könnte sich die NASA durchringen, trotz der fehleranfälligen Triebwerke den Rückflug mit der Crew an Bord anzutreten. Doch dann tauchte ein weiteres schwer wiegendes Problem auf. Ein ziemlich peinliches obendrein, und es war wieder einmal Boeings »Firmenkultur« geschuldet.
Da man dort nicht mit einem Rückflug des Starliners ohne Besatzung rechnete, hatte man die Software für die unbemannte Rückkehr auch gar nicht erst geladen. Installation, Test und Verifikation dieser Software sind komplex und erfordern viele Kontrollschritte. Das dauerte etwa sechs Wochen und ist inzwischen erfolgt. Doch dann kamen Unsicherheiten auf, wie diese Software in Verbindung mit den nur schlecht funktionierenden Triebwerken zusammenwirkt.
Die NASA zieht die Reißleine
Diese Anhäufung von technischen und programmatischen Fehlern bei Boeing war der NASA nun nicht mehr geheuer. Und so prüfte die Raumfahrtbehörde – zunächst nur für alle Fälle und ganz unverbindlich, wie man behauptete –, Suni Williams und Butch Wilmore mit einem Dragon-Raumschiff von SpaceX zurückzuholen. Zufällig steht so eines nahezu startbereit zur Verfügung, denn just in diesen Tagen sollte mit der Mission SpaceX CRS-9 ein turnusmäßiger Crew-Wechsel stattfinden. Drei Astronauten der NASA und ein Kosmonaut von Roskosmos sollten dafür am 18. August für 180 Tage zur ISS aufbrechen.
Um sich Zeit für die Prüfung aller Optionen zu erkaufen, wurde dieser Start zunächst auf den 24. September verschoben. Bei der eingangs erwähnten Pressekonferenz gab Nelson nun bekannt, dass CRS-9 mit nur zwei Besatzungsmitgliedern zur ISS fliegen wird. Die beiden anderen Sitze sind für die Rückkehr von Wilmore und Williams voraussichtlich im Februar 2025 reserviert.
Das ist natürlich, man kann es sich vorstellen, eine Riesenenttäuschung für die ursprünglich vorgesehenen CRS-9-Besatzungsmitglieder, von denen nun zwei zurückbleiben müssen, und das, nachdem sie Jahre für diesen Flug trainiert haben.
Rückkehr der leeren Kapsel um den 6. September
Der nun ganz offiziell für unsicher erklärte Starliner wird seinen Testflug ohne Crew an Bord abschließen, wahrscheinlich um den 6. September herum. Auch hier könnte man sich – so sollte man meinen – nun etwas mehr Zeit für weitere Tests nehmen, doch das ist aus organisatorischen Gründen nicht so ohne Weiteres möglich. Denn ein weiteres Problem und ein Grund, warum man den Starliner so schnell wie möglich loswerden will, besteht darin, dass es am internationalen Teil der ISS nur zwei Docking-Knoten gibt, die ein autonomes Anlegen ermöglichen. Diese beiden sind gerade vom Starliner und dem CRS-8 Crew-Dragon belegt. Damit der CRS-9 Crew-Dragon an der Station anlegen kann, muss somit erst der Starliner weg sein.
Läuft dieser Notfallplan wie angekündigt, dann werden Butch und Suni in die normale Crew-Rotation eingebunden und so zu Besatzungsmitgliedern der SpaceX-CRS-9-Crew erklärt. Das würde bedeuten, dass die beiden statt neun Tagen nunmehr etwa 240 Tage an Bord der ISS verbringen müssen.
Das wird die privaten Planungen der beiden ziemlich durcheinanderbringen, denn sicher haben sie nicht damit gerechnet, dass aus einer Kurzzeit-Testmission von einer guten Woche am Ende einer der längsten Weltraumaufenthalte der US-Raumfahrt werden wird. Zumindest für Williams ist das immerhin insofern kein Problem, als sie vor zwölf Jahren schon einmal Kommandantin der ISS war und den Betrieb dort kennt.
Auswirkung auf die US-Präsidentenwahl?
Und um die Sache noch einen Ticken komplizierter zu machen, kommt jetzt auch noch Kamala Harris mit ins Spiel, die Präsidentschaftskandidatin der Demokraten. Gegenwärtig ist sie noch Vizepräsidentin der Vereinigen Staaten und in dieser Funktion gleichzeitig Vorsitzende des Nationalen Weltraumrats (National Space Council). Diese Aufgabe fällt traditionell den Vizepräsidenten zu. Bei der NASA erinnert man bis heute gern an Lyndon Johnson, der diese Funktion unter der Präsidentschaft von John F. Kennedy wahrnahm und ein starker und weithin sichtbarer Unterstützer der Raumfahrtbehörde war. Doch ein mögliches Desaster bei der NASA könnte nun auf Harris zurückfallen und ihre Chancen im Wahlkampf beeinträchtigen, und das, obwohl bekannt ist, dass sie für Raumfahrt weder Interesse hat noch irgendein Engagement aufbringt.
Bei der NASA ist die Enttäuschung über Boeings andauerndes Versagen offensichtlich. Zu erkennen ist das daran, dass bei den letzten drei Pressekonferenzen zu diesem Thema der Boeing-Starliner-Programmmanager Mark Nappi nicht mehr mit eingeladen wurde. Die Raumfahrtbehörde entscheidet nun einfach über Boeing hinweg.
Für Boeing selbst ist die Sache in jeder Hinsicht eine Katastrophe. Selbst wenn eine sichere Landung des unbemannten Starliners mit seinen schadhaften Triebwerken und den Unsicherheiten mit der Software gelingt, wird die nächste Mission (die nunmehr nicht eher als im Herbst 2025 erfolgen wird) bestenfalls ein unbemannter Frachttransport sein. Erste bemannte Einsätze, und da bleiben bis zum Ablaufen der Verträge mit der NASA überhaupt nur noch vier übrig, kann Boeing dann erst ab dem Frühjahr 2026 durchführen.
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