Vegetationsökologie: Verborgene Vielfalt in tauenden Tundren
Vielfaltsfanatikern unter den Botanikern erscheinen die Gegenden jenseits des Polarkreises öd und leer, so wenige Pflanzenspezies hausen in dieser kalten Heimstatt - sie könnten sich geirrt haben. Kaum aber ist dieses neue Füllhorn der Pflanzenwelt enttarnt, wird es auch schon wieder gefährdet: durch den Klimawandel und seine Nebenwirkungen.
Für Geomorphologen – die Forschungsreisenden in Sachen Oberflächenformen der Erde – sind die Tundren des Nordens ein lohnenswertes Ziel: Abgesehen von den Wüsten und dem Hochgebirge finden sie kaum irgendwo ihre Studienobjekte leichter als hier. Kaum Vegetation verstellt den Blick auf Frostmusterböden, Frostverwitterung oder Blockgletscher. Auch Zoologen dürften zufrieden sein, denn zumindest die Küsten strotzen sommers vor Leben mit Millionen von nistenden Zugvögeln, ruhenden Seehund- und Robbenkolonien, vorwitzigen Polarfüchsen und einem gelegentlichen Wal im Meer.
Nur für Botaniker ist wenig geboten: Die wenigen Arten ducken sich meist vereinzelt in den Windschatten größerer Felsen oder bilden allenfalls kleinere Rasenhorste. Es dominieren zumeist Flechten und Moose, höhere Pflanzen haben oft nur Seltenheitswert. Selbst in den niederarktischen Bereichen, wo die Tundra langsam in die Nadelwälder der Taiga übergeht und wo die Vegetation schon flächendeckend auftritt, dominieren nur wenige Gräser, Kräuter und gelegentliche Sträucher den Aspekt. Artenvielfalt Fehlanzeige?
Für ihre Experimente wählten die Wissenschaftler Schnee-Hungerblümchen (Draba nivalis), Fladnitzer Felsenblümchen (D. fladnizensis) und Gemeine Hungerblümchen (D. subcapitata) aus allen Teilen ihrer Verbreitungsgebiete aus, die von Alaska über Spitzbergen und Grönland bis Norwegen rund um die Arktis reichen. Die geringen Erbgutunterschiede zwischen den Arten lassen eigentlich darauf schließen, dass sie noch jungen evolutionären Alters sind und sich erst vor weit weniger als einer Million Jahre aufgespaltet haben. Folglich sollten sie noch nahe miteinander verwandt sein – vor allem die Individuen der selben Arten, auch wenn sie schon lange über Tausende von Kilometern räumlich getrennt sind.
Rieseberg und ihre Kollegen kreuzten alle drei Hungerblümchen-Vertreter jeweils artspezifisch innerhalb ihrer Ursprungsregion, aber auch regionenübergreifend – etwa eine Pflanze aus Spitzbergen mit einer aus Alaska. Um dabei Verwechslungen vorzubeugen und den Gang der Verpaarung nachzuvollziehen, wurden die Individuen zuvor auf ihre charakteristischen Gendaten hin überprüft. Die Nachkommenschaft verblüffte die Forscher: Während die Kreuzungen innerhalb einer Population der einzelnen Arten – etwa von Schnee-Hungerblümchen einer einzelnen Geröllhalde aus Alaska – noch überwiegend fruchtbare Nachkommen hervorbrachte, war der Nachwuchs von regional getrennten Populationen der Pflanzen meist zeugungsunfähig: Mehr als neunzig Prozent dieser Hybride waren steril, obwohl die Elternpflanzen beide auf funktionsfähige Fruchtbarkeit geprüft waren – ein deutlicher Hinweis auf eigenständige Spezies.
Diese rapide Aufspaltung dieser Draba-Linien könnte mit der Selbstbestäubung der Pflanzen zusammenhängen, denn in der insektenarmen Kälte des Nordens bietet dies einen risikoärmeren Weg der Fortpflanzung. Dadurch können sich aber Mutationen verstärken, die über kurz oder lang die einzelnen Populationen soweit voneinander entfremden, dass sie eigenständige Arten bilden.
Doch kaum ist diese unerwartete Biodiversität entdeckt, wird sie auch schon vom anstehenden Klimawandel bedroht. Denn wie eine Vielzahl von Ökologen um Greg Henry von der Universität von British Columbia in Vancouver anhand von mehrjährigen, standardisierten Feldversuchen in acht Teilregionen der Arktis sowie in drei Gebirgen feststellen mussten, reagiert das Tundraökosystem noch schneller und umfassender auf Temperaturerhöhungen als bislang gedacht [2] und beobachtet.
Die verschwindenden Arten wurden vorerst auch nicht durch Zuwanderer ersetzt, sodass es zu einem Einbruch der Diversität kam – einen Trend, den die Forscher für die gesamte Tundra der Nordhalbkugel befürchten. Waren die Veränderungen erst einmal eingetreten, blieben sie auch über die gesamte restliche Versuchsdauer – maximal sechs Jahre – bestehen; es kam in keinem Fall zu einer Wiederbelebung der ursprünglichen Bestände. Betroffen wären davon vor allem die Pflanzen der offenen Schuttlandschaften, die durch Arten der südlich anschließenden Nadelwälder verdrängt würden. Für Draba sind dies schlechte Nachrichten, für interessierte Botaniker auch. Sie müssen sich nun wohl sputen, um die verborgene Vielfalt der Tundra noch für die Wissenschaft zu sichern.
Nur für Botaniker ist wenig geboten: Die wenigen Arten ducken sich meist vereinzelt in den Windschatten größerer Felsen oder bilden allenfalls kleinere Rasenhorste. Es dominieren zumeist Flechten und Moose, höhere Pflanzen haben oft nur Seltenheitswert. Selbst in den niederarktischen Bereichen, wo die Tundra langsam in die Nadelwälder der Taiga übergeht und wo die Vegetation schon flächendeckend auftritt, dominieren nur wenige Gräser, Kräuter und gelegentliche Sträucher den Aspekt. Artenvielfalt Fehlanzeige?
Das könnte ein vorschneller Schluss sein, wenn sich die Untersuchungen von Biologen um Loren Rieseberg von der Universität von Indiana und Christian Brochmann vom Naturhistorischen Museum Oslos auf breiter Ebene bestätigen sollten [1]. An der von ihnen untersuchten Pflanzengattung Draba interessierte sie nicht das Äußere, welches bislang stets Kriterium für die Arteinteilung gewesen war. Vielmehr richteten die Forscher ihr Augenmerk auf das Kreuzungsverhalten von verschiedenen Draba-Spezies: biologisch tatsächlich strikt voneinander getrennte Arten bringen kaum einmal fruchtbaren Nachwuchs hervor, der sich selbst sexuell vermehren könnte.
Für ihre Experimente wählten die Wissenschaftler Schnee-Hungerblümchen (Draba nivalis), Fladnitzer Felsenblümchen (D. fladnizensis) und Gemeine Hungerblümchen (D. subcapitata) aus allen Teilen ihrer Verbreitungsgebiete aus, die von Alaska über Spitzbergen und Grönland bis Norwegen rund um die Arktis reichen. Die geringen Erbgutunterschiede zwischen den Arten lassen eigentlich darauf schließen, dass sie noch jungen evolutionären Alters sind und sich erst vor weit weniger als einer Million Jahre aufgespaltet haben. Folglich sollten sie noch nahe miteinander verwandt sein – vor allem die Individuen der selben Arten, auch wenn sie schon lange über Tausende von Kilometern räumlich getrennt sind.
Rieseberg und ihre Kollegen kreuzten alle drei Hungerblümchen-Vertreter jeweils artspezifisch innerhalb ihrer Ursprungsregion, aber auch regionenübergreifend – etwa eine Pflanze aus Spitzbergen mit einer aus Alaska. Um dabei Verwechslungen vorzubeugen und den Gang der Verpaarung nachzuvollziehen, wurden die Individuen zuvor auf ihre charakteristischen Gendaten hin überprüft. Die Nachkommenschaft verblüffte die Forscher: Während die Kreuzungen innerhalb einer Population der einzelnen Arten – etwa von Schnee-Hungerblümchen einer einzelnen Geröllhalde aus Alaska – noch überwiegend fruchtbare Nachkommen hervorbrachte, war der Nachwuchs von regional getrennten Populationen der Pflanzen meist zeugungsunfähig: Mehr als neunzig Prozent dieser Hybride waren steril, obwohl die Elternpflanzen beide auf funktionsfähige Fruchtbarkeit geprüft waren – ein deutlicher Hinweis auf eigenständige Spezies.
Und das betraf nicht nur die Verpaarung von Draba nivalis aus Alaska mit Draba nivalis aus Norwegen, sondern sogar die von Schnee-Hungerblümchen aus der North Range des US-Bundesstaats mit scheinbaren Verwandten aus dem relativ nahen zentralen Binnenland. Riesebergs Team geht deshalb davon aus, dass es zumindest in der Gattung Draba eine Vielzahl so genannter kryptischer Arten gibt, die sich äußerlich fast vollständig gleichen und daher bislang einer einzigen Spezies zugeordnet wurden, in Wirklichkeit aber eine eigene Artbezeichnung verdienen.
Diese rapide Aufspaltung dieser Draba-Linien könnte mit der Selbstbestäubung der Pflanzen zusammenhängen, denn in der insektenarmen Kälte des Nordens bietet dies einen risikoärmeren Weg der Fortpflanzung. Dadurch können sich aber Mutationen verstärken, die über kurz oder lang die einzelnen Populationen soweit voneinander entfremden, dass sie eigenständige Arten bilden.
Doch kaum ist diese unerwartete Biodiversität entdeckt, wird sie auch schon vom anstehenden Klimawandel bedroht. Denn wie eine Vielzahl von Ökologen um Greg Henry von der Universität von British Columbia in Vancouver anhand von mehrjährigen, standardisierten Feldversuchen in acht Teilregionen der Arktis sowie in drei Gebirgen feststellen mussten, reagiert das Tundraökosystem noch schneller und umfassender auf Temperaturerhöhungen als bislang gedacht [2] und beobachtet.
Mit einfachen Mitteln erhöhten Henry und Kollegen die durchschnittliche Lufttemperatur der von ihnen untersuchten einen Quadratmeter großen Testflächen um ein bis drei Grad Celsius – ein Anstieg, der für die meisten Regionen der Arktis in naher Zukunft prognostiziert wird. Über mehrere sommerliche Wachstumsperioden hinweg beobachteten sie dann die Veränderungen der Vegetation. Innerhalb von nur zwei Sommern kam es zu einem deutlichen Zuwachs der Wuchshöhe und -dichte von Sträuchern und Gräsern, während Flechten und Moose zunehmend unterdrückt wurden und verschwanden.
Die verschwindenden Arten wurden vorerst auch nicht durch Zuwanderer ersetzt, sodass es zu einem Einbruch der Diversität kam – einen Trend, den die Forscher für die gesamte Tundra der Nordhalbkugel befürchten. Waren die Veränderungen erst einmal eingetreten, blieben sie auch über die gesamte restliche Versuchsdauer – maximal sechs Jahre – bestehen; es kam in keinem Fall zu einer Wiederbelebung der ursprünglichen Bestände. Betroffen wären davon vor allem die Pflanzen der offenen Schuttlandschaften, die durch Arten der südlich anschließenden Nadelwälder verdrängt würden. Für Draba sind dies schlechte Nachrichten, für interessierte Botaniker auch. Sie müssen sich nun wohl sputen, um die verborgene Vielfalt der Tundra noch für die Wissenschaft zu sichern.
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