Verbrechen: Ethisch bedenkliche Forensik-Datenbanken
Im Mai 1999 schockierte ein brutales Verbrechen die Einwohner von Kollum, einem kleinen Dorf in den Niederlanden. Ein 16-jähriges Mädchen aus dem Ort wurde vergewaltigt und ermordet in einem Feld nahe der Ortschaft aufgefunden. Dorfbewohner vermuteten, die irakischen oder afghanischen Bewohner des örtlichen Asylbewerberheims hätten das Verbrechen begangen.
Der Fall blieb ungelöst. Die Staatsanwaltschaft griff schließlich auf eine neuartige Datensammlung zu, in der die Y-Chromosomen-Profile von Männern aus der ganzen Welt gesammelt werden: die Y-Chromosom-Haplotyp-Referenzdatenbank (YHRD). Gerichtsmediziner glichen die DNA des am Tatort gefundenen Spermas mit Profilen aus dieser und anderen Gen-Datenbanken ab und ermittelten damit, dass der Mörder mit hoher Wahrscheinlichkeit nordwesteuropäischer Abstammung war – der ursprüngliche Verdacht der Dorfbewohner war also unbegründet. Die Entdeckung trug dazu bei, die sozialen Spannungen in Kollum zu entschärfen, und das, obwohl der Fall noch lange ungelöst blieb. Erst viele Jahre später überführten Ermittler den Täter, einen ortsansässigen Landwirt, dank weiterer DNA-Analysen.
Erstmals wurde die YHRD im Jahr 2000 online veröffentlicht. Heute wird sie weltweit genutzt, um Sexualverbrechen aufzuklären, aber auch um Vaterschaften zu bestimmen. Ihre mehr als 300 000 anonymen Y-Chromosomen-Profile können männlichen Abstammungslinien aus mehr als 1300 verschiedenen Populationen weltweit zugeordnet werden. Solche genetischen Zuordnungen machen es möglich, die wahrscheinliche geografische Herkunft eines Unbekannten zu bestimmen – etwa so wie im Fall aus Kollum. Häufiger werden die Daten heute genutzt, um einschätzen zu können, wie aussagekräftig und belastbar genetische Indizien gegen männliche Verdächtige sind, deren Y-Chromosomen-Profil mit dem der DNA-Spuren vom Tatort übereinstimmt.
Obwohl es sich bei der YHRD um eine Forschungsdatenbank handelt, haben sowohl akademische als auch forensische Forscher ihre Daten dort hochgeladen. Dadurch ist die Datenbank mit den Jahren zu einem wichtigen Werkzeug für Staatsanwälte und Verteidiger herangewachsen. »Die YHRD ist absolut notwendig, um Verdächtigen überall auf der Welt in einem Prozess faire Chancen einzuräumen«, sagt etwa Walther Parson, forensischer Genetiker an der Medizinischen Universität Innsbruck und Vizepräsident der Internationalen Gesellschaft für Forensische Genetik (ISFG).
Andere Genetiker sagen, die YHRD sei ethisch problematisch: Aus ihrer Sicht stammen Tausende der Profile in der Datenbank von Männern, die wahrscheinlich nie eine informierte Einwilligung zur Verwendung ihres Erbguts gegeben haben. Zu diesen aus ethischer Sicht fragwürdigen Datensätzen gehören etwa jene von ethnischen Minderheiten wie den Uiguren in China und den Roma in Osteuropa.
Die Kritik dieser Wissenschaftler wirft die Frage auf, wie gewissenhaft die Zustimmung der Probenspender für die YHRD und andere Datenbanken geprüft wird. Dies wird so und ähnlich zuletzt breit und zunehmend lautstark diskutiert, denn weltweit werden immer mehr DNA-Profile ohne eine strenge ethische Kontrolle gesammelt. Einige Wissenschaftler fordern, dass sich insbesondere Genetiker von dieser Entwicklung distanzieren sollten. Es müsse sichergestellt werden, so die Kritiker, dass DNA-Studien ohne informierte Einwilligung der Probengeber nicht als Belohnung in akademischen Fachzeitschriften oder Datenbanken veröffentlicht werden.
Yves Moreau, Computerbiologe an der Katholischen Universität von Leuven in Belgien, hat mehrere Fachzeitschriften und die YHRD aufgefordert, solche potenziell unethischen Studien zu untersuchen. Seine Forderung bezieht sich dabei vor allem auf Daten aus China. Wegen Massenverhaftungen und Menschenrechtsverletzungen in der nordwestlichen Provinz Xinjiang stehen chinesische Behörden international in der Kritik. Journalisten, Menschenrechtsgruppen und Akademiker haben Zeugenaussagen chinesischer Uiguren, einer überwiegend muslimischen Minderheit, gesammelt. Die Zeugen berichten von Misshandlungen, darunter auch von erzwungenen DNA-Entnahmen. Die chinesische Regierung sagt dagegen, sie führe in Xinjiang eine Umerziehungskampagne durch, mit der eine terroristische Bewegung niedergeschlagen werden solle.
»China folgt einem autoritären politischen Modell und ist bestrebt, dieses Modell auch zu exportieren«, sagt Moreau. Es basiere »auf Überwachungstechnologie, einschließlich genetischer Überwachung von Minderheiten«. Er verweist auf einen umstrittenen Versuch Chinas, eine inländische forensische Datenbank aufzubauen, die mit den DNA-Daten von Millionen Männern aus ganz China gefüllt ist. »Forscher, Datenbankkuratoren und Wissenschaftsverlage sollten sich an diesem Modell auf keinen Fall beteiligen.«
Unter anderem wegen Moreaus Arbeit wurde bereits ein Datensatz aus der YHRD entfernt. Weitere werden geprüft. Recherchen von »Nature« zufolge will die ISFG nun ein Aufsichtsgremium einrichten; man will die Fälle überprüfen, bei denen die Zustimmung der Probengeber unklar ist. »Mancher Kollege mag der Vorstellung anhängen, Ethik sei nur eine Menge lästiger Bürokratie«, sagt Moreau. »Aber diese Vorstellung ist falsch. Forscher müssen erkennen, dass sie für unethische Forschung keine Anerkennung bekommen.«
DNA-Daten können ethisch fragwürdig gesammelt werden
Die Polizeibehörden vieler Staaten sammeln DNA von verdächtigen Personen oder verurteilten Kriminellen und halten die Daten dann in der Regel, je nach nationaler Rechtslage, für eine begrenzte Zeit unter Verschluss; zudem holen sie keine Zustimmung zur Veröffentlichung ein. Anders bei öffentlichen internationalen DNA Forschungsdatenbanken, die Proben aus verschiedenen Populationen und somit von der breiten genetischen Vielfalt des Menschen enthalten: Wenn Forscher hier genetische Daten einspeisen, dann ist dafür die Genehmigung einer Ethikkommission und die informierte Einwilligung der Studienteilnehmer erforderlich. Solche Datensammlungen erfüllen verschiedene Zwecke: Wissenschaftler nutzen sie etwa, um zu berechnen, wie häufig bestimmte vererbte genetische Cluster in Populationen sind. Das kann dann der medizinischen Forschung nützliche Indizien liefern.
Die YHRD ist die größte solche Datenbank für männliche Abstammungslinien. Ungewöhnlich ist in ihrem Fall die enge Verbindung zu Forensik und Verbrechensaufklärung. Kuratiert wird die YHRD von den forensischen Genetikern Sascha Willuweit und Lutz Roewer von der Berliner Charité. Die YHRD fordert, wie auch bei anderen Datenbanken üblich, dass für die Datenerhebung eine Ethikprüfung erfolgt sowie die Einwilligung der Probanden eingeholt wird. Überprüft werden diese Voraussetzungen allerdings nicht. Forschende, die Daten in die Datenbank hochladen wollen, werden zwar ermutigt, ihre wissenschaftliche Arbeit zunächst zu veröffentlichen – damit bleibt es der wissenschaftlichen Fachzeitschrift überlassen, die Einhaltung ethischer Richtlinien sicherzustellen. Doch in etwa zehn Prozent der Fälle, sagt Roewer, hätten Wissenschaftler Daten hochgeladen, ohne vorher einen Artikel über ihre Arbeit zu veröffentlichen.
Im März 2019 begann Moreau, Studien zu Minderheitenpopulationen in China zu untersuchen. Dabei stieß er auf eine 2017 erstellte Übersichtsstudie, die in der YHRD gesammelte Daten von fast 38 000 Y-Chromosomen-Profilen chinesischer Männer zusammenträgt und einordnet. Zu den Verfassern der Studie gehörten neben Willuweit und Roewer auch Forscher der chinesischen Sicherheitsbehörden und der Polizei. »Mir wurde klar, dass die YHRD ein Problem ist«, sagt Moreau. Zwar hieß es in der Studie, die Profile seien mit informierter Einwilligung erhoben worden – es sei aber, gibt Moreau zu bedenken, schwer nachzuvollziehen, wie Uiguren und andere verfolgte Minderheiten diese Einwilligung freiwillig hätten geben können.
In der Folge identifizierte Moreau dutzende Artikel in führenden internationalen forensischen Fachzeitschriften, die von Mitgliedern der chinesischen Polizei mitverfasst waren und die die Erstellung von DNA-Profilen von Tibetern, Uiguren und anderen Minderheitengruppen zum Gegenstand hatten. Die meisten dieser Artikel standen nicht im Zusammenhang mit der YHRD. Moreau kontaktierte den Verlag »Springer Nature«, der einige der Fachzeitschriften veröffentlicht, und das Unternehmen begann, Nachforschungen anzustellen.* Im Dezember 2019 veröffentlichte Moreau seine Bedenken in einem Meinungsartikel, in dem die YHRD nicht erwähnt wird. Dann, im Januar 2020, bat er auch die Charité, der Sache nachzugehen. Die Charité lehnte das ab: Zwar sei die Datenbank von ihr gehostet, das Klinikunternehmen besitze oder betreibe sie aber nicht. Dies bekräftigte das Unternehmen ebenfalls auf Nachfrage des »Nature«-Nachrichtenteams.
Moreau besprach seine Bedenken auch direkt mit Roewer und Willuweit. Roewer stimmt Moreau zwar zu: Forscher sollten keine DNA verwenden, die ohne informierte Einwilligung entnommen wurde. Es sei allerdings gar nicht die Aufgabe der YHRD, dies zu überprüfen oder zu untersuchen: »Wir sind keine ethische Kontrollinstanz.« Roewer fügt an, dass für die Übersichtsstudie von 2017 weder eine Ethikgenehmigung noch eine Überprüfung der Datenerhebung nötig gewesen sei, da die eingeflossenen Daten im Rahmen anderer Studien erhoben worden seien.
Im Jahr 2020 entfernte Roewer Profile aus der Datenbank, die von den Autoren eines Artikels hochgeladen worden waren, in dem es um DNA-Studien an uigurischen, kasachischen und Hui-Minderheiten in China ging. Anlass war, dass »Springer Nature« die zu Grunde liegende Studie geprüft und zurückgezogen hatte: Die Autoren hatten erklärt, die Studie sei ohne die Zustimmung einer zuständigen Ethikkommission durchgeführt worden. Roewer sagt, er werde zusätzliche Datensätze löschen, wenn weitere Artikel zurückgezogen werden.
»Wir sind keine ethische Kontrollinstanz«
Lutz Roewer, forensischer Genetiker
Der Verlag »Springer Nature« hat bis Mitte 2021 28 Fachartikel – einschließlich der Studie von 2017 – mit redaktionellen Anmerkungen versehen, die Bedenken hinsichtlich der ethischen Genehmigungsverfahren und der informierten Einwilligungen darlegen. Der Verlag hat auch eine zweite Veröffentlichung zurückgezogen. »Wir erwarten weitere redaktionelle Maßnahmen in mindestens einigen dieser Fälle«, kommentiert ein Verlagssprecher. Moreau sagt, er habe zudem neun weitere potenziell problematische Studien identifiziert, an denen ebenfalls Koautoren von der chinesischen Polizei beteiligt sind. Auch Daten aus diesen Studien finden sich in der YHRD – er habe die Herausgeber der entsprechenden Zeitschriften allerdings bislang noch nicht von diesen Fällen in Kenntnis gesetzt.
Die YHRD enthält insgesamt acht Datensätze von uigurischen DNA-Profilen, die direkt hochgeladen wurden. Roewer sagt, auch hier sei es nicht seine Aufgabe, Untersuchungen einzuleiten. »Jeder, der sich über einen Datensatz Sorgen macht, sollte direkt die Autoren kontaktieren«, sagt er. Die »Nature«-Redaktion hat 15 Forscher angeschrieben, die uigurische Daten hochgeladen haben; einer von ihnen, Yiping Hou, forensischer Genetiker an der Sichuan Universität in Chengdu, antwortet, die Daten seien alle mit »gültiger informierter Einwilligung« erhoben worden.
Im November 2020 ist die YHRD dann auch aus einer anderen Richtung kritisiert worden. Drei Forscher aus Deutschland – die Wissenschaftshistorikerin Veronika Lipphardt und der Soziologe Mihai Surdu von der Universität Freiburg sowie die Genetikerin Gudrun Rappold von der Universität Heidelberg – hatten Vorveröffentlichungen ihrer Arbeit zu genetischen Studien über die Roma publiziert. Ihnen war aufgefallen, dass in der YHRD Profile aus Bevölkerungsstudien über osteuropäische Roma erfasst sind, ohne dass aus den Studien klar ersichtlich ist, ob hier eine informierte Einwilligung eingeholt wurde und wann die Proben genommen wurden. In einzelnen Studien sei man auf Danksagungen an Polizeikräfte für das Sammeln von DNA-Proben gestoßen. Es sei »äußerst zweifelhaft, ob solche Studien stets mit vollständiger informierter Einwilligung der Personen zu Stande kommen«, sagt Lipphardt – und erinnert an die lang andauernde Historie der Diskriminierung der Roma.
Einen der Fälle hat Lipphardt versucht nachzuvollziehen. Es geht dabei um Profile, die deutsche Polizeivertreter im Jahr 2017 von 74 in Deutschland lebenden männlichen Rumänen und Afghanen in die YHRD hochgeladen hatten. Lipphardt fragte bei der zuständigen Behörde – der Kriminalpolizei des Landes Baden-Württemberg – nach, ob die Daten im Rahmen eines Fachartikels veröffentlicht wurden. Die Behörde teilte mit, sie betrachte den Upload in die YHRD als ausreichende Veröffentlichung, es lägen also keine Informationen zu ethischen Genehmigungen oder Einwilligungen vor. »Strafermittler haben offenbar weniger strenge ethische Standards als akademische Wissenschaftler, wenn sie genetische Informationen sammeln und damit arbeiten«, sagt Lipphardt. Roewer bestätigt, die Strafverfolgungsbehörde habe zwar mit ihm über das Problem gesprochen, sich aber dagegen entschieden, die Datensätze zurückzuziehen.
»Es ist äußerst zweifelhaft, ob solche Studien stets mit vollständiger informierter Einwilligung der Personen zu Stande kommen«
Veronika Lipphardt, Wissenschaftshistorikerin
Das Feld der forensischen Genetik übernimmt die in der biomedizinischen genetischen Forschung üblichen Standards nur schleppend, sagt Lipphardt. Tatsächlich verlangen führende forensische Fachzeitschriften erst seit 2010, dass Autoren eine informierte Einwilligung oder die Genehmigung einer Ethikkommissionen mitliefern. Ein Großteil der Daten in forensischen Datenbanken wurde aber vor 2010 erhoben, und das gilt ebenso für die YHRD. Ethikerklärungen sind demnach auch in den Fällen schwer zu finden, in denen die Daten aus veröffentlichten Fachartikeln stammen.
Unter den internationalen Datenbanken steht nicht allein die YHRD auf dem Prüfstand. In ihrem Preprint weisen Lipphardt und Surdu etwa auf die EMPOP-Datenbank hin, in der Mitochondrien-DNA-Sequenzen gesammelt sind: Auch sie enthält in Fachartikeln publizierte Roma-Daten, zu denen informierte Einwilligungen oder ethische Genehmigungen fehlen. EMPOP ist keine öffentliche Datenbank; ihre Nutzer müssen sich registrieren. Sämtliche Profile würden vor dem Hochladen einer »strengen Qualitätskontrolle« unterzogen, sagt Walther Parson, der die EMPOP kuratiert – und diese Kontrolle schließe auch eine ethische Bewertung ein. Die Roma-Daten seien in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert worden, die denselben ethischen Anforderungen verpflichtet seien wie die EMPOP.
Peter Schneider, forensischer Genetiker an der Universität Köln, weist darauf hin, dass individuelle DNA-Spender nicht eindeutig zu identifizieren sind: Die YHRD und andere Datenbanken sammeln nur Informationen über bestimmte genetische Marker, enthalten aber keine vollständige DNA-Sequenzen. Nach seiner Auffassung nützt der Zugang zu den Daten unter dieser Voraussetzung der Gesellschaft mehr, als er dem Einzelnen schadet.
Bei Bedenken über das Zustimmungsverfahren für nicht in wissenschaftlichen Zeitschriften publizierte DNA-Profile sollten diese durch ein unabhängiges, objektives Expertengremium untersucht werden, sagt Roewer. Ihm und Parson zufolge wird die ISFG ein solches Gremium nun einrichten, die Gesellschaft sei derzeit dabei, den Aufgabenbereich des Gremiums genauer zu umreißen.
Forensik stützt sich auf DNA-Datenbanken
Die Ethikdebatte um die YHRD hatte hinter den Kulissen bereits lange gebrodelt, bis sie sich im Internet entlud, nachdem Lipphardt und ihre Kollegen ihre Artikel veröffentlichten hatten und die »Süddeutsche Zeitung« darüber berichtet hatte. Im Januar 2021 beschloss die Charité dann, die Abteilung für forensische Genetik zu schließen, die die YHRD unterhält – allerdings nicht wegen ethischer Bedenken, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. Zuvor hatte ein Gerichtsurteil Polizeibehörden verpflichtet, in Zukunft DNA-Analysen für strafrechtliche Ermittlungen über ein freieres Wettbewerbsverfahren einzuholen. Das Urteil gefährdete die größte und verlässliche Einnahmequelle der Charité-Abteilung.
Mit Bekanntwerden der Entscheidung im Februar 2021 erhob sich ein Aufschrei in der Fachwelt. Genetiker und Staatsanwälte befürchteten, dass forensisches Fachwissen verloren gehen könnte, und unterstrichen den Nutzen der YHRD für ihre Arbeit. Im März 2021 veröffentlichte die »WIE-DNA«-Initiative eine Erklärung. Diese Gruppe von Sozialwissenschaftlern, Genetikern und Anthropologen – zu der auch Lipphardt zählt – analysiert die Verwendung von DNA-Daten: Sie äußerte die Hoffnung, dass das forensische Institut gerettet werde, weist aber mit Blick auf den Datensatz der YHRD zugleich auf ihre ethischen Bedenken hin.
Im April 2021 gab die Charité dann dem wachsenden politischen Druck nach und revidierte ihre Entscheidung, die Abteilung zuzumachen. Im Mai berichtete die »Berliner Zeitung«, dass allen Forschern am Institut für forensische Genetik der Charité Stellen direkt bei den Polizeibehörden angeboten würden. Es sei, so ein Charité-Sprecher gegenüber »Nature«, noch nichts endgültig entschieden, Roewer und Willuweit würden die YHRD aber in jedem Fall erhalten.
Die ethische Debatte wird unterdessen auf breiter Linie weitergeführt. Im Januar 2021 veröffentlichten Moreau und zwei weitere Forscher einen Meinungsbeitrag im Namen der European Society of Human Genetic. Darin fordern sie akademische Institutionen weltweit auf, die Zusammenarbeit mit Forschungsgruppen einzustellen, bei denen es ethische Bedenken gebe. »Diese Probleme reichen über China hinaus«, so der Beitrag, in dem auch der Fall der YHRD angeführt wird. »Wir wünschen uns weltweit ein Ende der Zusammenarbeit von akademischen und klinischen Institutionen auf der einen Seite und staatlichen Institutionen auf der anderen, bei denen das Sammeln von DNA-Proben sowie die Analysen unter einem deutlich minderwertigen Protokoll möglich sind.« Jede Studie, an der Polizei- oder Justizbehörden in autoritären Regimen beteiligt sind, sei »potenziell ethisch nicht sauber«.
Parson stimmt zu, dass genetische Profile aus Datenbanken entfernt werden sollten, die ohne informierte Einwilligung erlangt wurden. Allerdings dürfe die YHRD nicht stärker als nötig eingeschränkt werden. Schließlich könne es Analysen etwa zu Verwandtschaftswahrscheinlichkeiten verfälschen, wenn selektiv Y-Chromosomen-Profile aus der Datenbank gelöscht werden. Richter auf der ganzen Welt würden mit verlässlichen forensischen Daten rechnen, sagt der Genetiker. Die Daten von Minderheiten aber zu entfernen, »könnte die statistischen Auswertungen in forensischen Berichten verzerren – und zwar zum Nachteil dieser Minderheiten.«
Anm. d. Red.: Die Nachrichtenteams von »Nature« sowie »Spektrum.de« gehören zum Verlag Springer Nature, arbeiten aber redaktionell unabhängig.
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