Tatort Museum: Verbrecher aus Leidenschaft
Er war ein unbescholtener Bürger: gelernter Bauingenieur, Gemeindeangestellter im Kanton Solothurn in der Schweiz, Mitte 40, verheiratet, zwei Kinder – nichts Auffälliges. Wäre da nicht seine Sammelleidenschaft. Der Mann, nennen wir ihn S.G., ist Vogelfedern verfallen. Die Polizei fand letztlich in seiner Wohnung mehr als 10 000 Federn von Greifvögeln.
Irgendwann müssen S.G. die Zufallsfunde von Federn heimischer Greife wie Mäusebussard oder Rotmilan nicht mehr genügt haben. Es verlangte ihn nach exklusiverem Material. Ein Kollege, Hobbyornithologe wie S.G., wies ihn auf eine fast unerschöpfliche Quelle hin: Naturkundemuseen. Denn dort werden die wahren Schätze gelagert. Abertausende von Vogelbälgen aus allen Teilen der Welt ruhen fein säuberlich geordnet in Schubladen, gesammelt über Jahrhunderte.
Als Forscher gab sich S.G. aus, als er bei den naturhistorischen Museen in Basel, Neuenburg, Wien, München, Stuttgart sowie Berlin anklopfte. Er beeindruckte durch sein Fachwissen. Die Museumsmitarbeiter gewannen rasch Vertrauen in den Mann, der eine wissenschaftliche Publikation in Aussicht stellte, und ließen ihn in Ruhe in den Sammlungsmagazinen mit den Greifvögeln »arbeiten«.
Ganze Flügel abgetrennt
Erst nach mehreren Jahren entdeckten Museumsmitarbeiter, was S.G. wirklich tat. 2012 bemerkte ein Mitarbeiter des Berliner Naturkundemuseums Schäden an den Greifvögeln. S.G. hatte den Vögeln für seine eigene Sammlung nicht nur einzelne Feder ausgerissen, sondern teilweise ganze Flügel abgeschnitten. Da die Präparate Platz sparend mit an den Körper angelegten Flügeln aufbewahrt werden, war lange Zeit niemandem etwas aufgefallen. Doch nun schlugen die Berliner Alarm. Und tatsächlich: Auch in anderen Museen Europas tauchte der Name des Federdiebs S.G. auf den Besucherlisten auf.
Das Strafgericht von Basel-Stadt übernahm den internationalen Fall und sprach vor einem Jahr sein Urteil. Wegen gewerbsmäßigen Diebstahls sowie der mehrfachen Sachbeschädigung mit großem Schaden musste S.G. ein Jahr ins Gefängnis, weitere zwei Jahre hinter Gittern wurden auf Bewährung ausgesprochen. Der Sachschaden, den S.G. anrichtete, beträgt knapp sechs Millionen Franken (fünf Millionen Euro). Denn manche der Präparate, an denen sich S.G. vergangen hatte, stammten von ausgestorbenen Vogelarten oder hatten wegen ihres Alters einen besonders hohen Wert.
S.G. zeigte Reue – und unterzieht sich jetzt einer Psychotherapie. Der Kollege, der ihm den Tipp mit den Naturkundemuseen gegeben hatte und in dessen Wohnung Polizisten eine Sammlung mit über 17 000 Federn beschlagnahmten, erhielt ebenfalls eine Strafe. Da seine Diebstähle bereits verjährt waren, wurde er wegen mehrfacher Hehlerei zu 15 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Die vorsitzende Richterin sprach S.G. vor Gericht ins Gewissen. Naturkundemuseen erfüllten einen gesellschaftlichen Auftrag. Ihre Aufgabe sei es, die Sammlungen allen Interessierten auf eine unkomplizierte Art und Weise zugänglich zu machen. Sie müssten nicht damit rechnen, dass jemand die Sammelobjekte beschädigt oder sie gar klaut. S.G. habe das Vertrauen der Museumsbetreiber ausgenutzt und damit der Allgemeinheit geschadet.
Die Museen hätten allerdings gewarnt sein können. Denn nur ein, zwei Jahre, bevor S.G. ertappt wurde, hatte sich in Großbritannien einer der wohl bizarrsten Vogeldiebstähle jüngerer Zeit ereignet.
Vielseitig begabter Verbrecher
Im Mittelpunkt dieses Verbrechens steht ein junger Amerikaner, der in zwei Fertigkeiten eine überdurchschnittliche Begabung zeigt. Genau diese Kombination sollte sich als fatal erweisen und wurde zum Auslöser seiner kriminellen Handlungen: Der Mann ist einerseits sehr musikalisch und verfügt andererseits über ein großes Talent im Fliegenbinden, also im Herstellen von Ködern, die Angler wie Insekten nachbilden und fürs Fliegenfischen verwenden ((Die Geschichte erschien ausführlich in dem Buch »The Feather Thief: Beauty, Obsession, and the Natural History Heist oft the Century«) ).
E.R. ist sein Name, geboren 1988 in New York City und aufgewachsen in Hudson Valley, wo er zusammen mit seinem Bruder zu Hause von den Eltern unterrichtet wurde. Im Alter von elf Jahren sah E.R. einen Videofilm über das Fliegenbinden. Sofort war er fasziniert von dieser Tätigkeit, bei der es darum geht, verschiedene Materialien wie Tierhaare und Vogelfedern an einem metallenen Angelhacken zu befestigen. Diese künstlichen Fliegen sollen Fischen ein Insekt vortäuschen und sie dazu verleiten, nach dem Haken zu schnappen, den der Fischer mit der Angelrute knapp über der Wasseroberfläche umherschwirren lässt.
E.R. entpuppte sich als großes Talent im Fliegenbinden, obwohl er selbst nicht fischte. Wie viele andere betrieb er das Hobby des Fliegenbindens als L'art pour l'art. Möglichst kunstvolle und handwerklich perfekte Fliegen zu basteln, das ist das Ziel. Solche Fliegen locken nie Fische an, nie hängen sie an einer Angelschnur. Sie bleiben immer im Trockenen und sollen die – vornehmlich männlichen – Betrachter, die dieser Beschäftigung verfallen sind, durch ihre Extravaganz und Kunstfertigkeit beeindrucken und ihrem Erschaffer zu Ansehen und Ruhm verhelfen.
Einem bizarren Hobby verfallen
Für E.R. war das Fliegenbinden nicht nur ein Hobby, sondern eine Obsession, wie er einmal schrieb, eine Obsession, der er einen großen Teil seiner Zeit widmete: Er studierte Federstrukturen, gestaltete Fliegen und erfand neue Techniken, um genau die Fliege zu binden, die ihm vorschwebte.
Er nahm an Wettkämpfen teil und besuchte die einschlägigen Fliegenbinder-Festivals in seiner Heimat. An einem solchen Festival geschah es: E.R. wurde eine Tür in den Olymp des Fliegenbindens aufgestoßen. Er lernte einen Meister des Bindens von Fliegen für Lachse kennen. Lachsfliegen sind die Königsdisziplin des Fliegenbindens, denn sie stellen wahre Kunstwerke an Formen- und Farbenvielfalt dar. Entsprechend aufwändig und teuer sind sie in der Herstellung. Der junge E.R. hatte nie zuvor etwas so Schönes gesehen wie diese Lachsfliegen.
Seine Blüte hatte das Lachsfliegenbinden in Großbritannien während der Viktorianischen Zeit im 19. Jahrhundert. Damals brachten Naturforscher prächtige bunte Vögel in großer Zahl aus fernen Ländern nach Europa, etwa Quetzale aus Lateinamerika oder Paradiesvögel aus Neuguinea. Deren kostbare Federn fanden damals nicht nur in der Mode, sondern auch bei der Herstellung von Lachsfliegen Verwendung.
Noch immer gelten die Lachsfliegen aus jener Zeit als das Maß der Dinge. Die besten unter den Fliegenbindern versuchen, Lachsfliegen nach Vorlagen aus der Viktorianischen Zeit anzufertigen. Dafür benötigen sie eine Unmenge an verschiedenen exotischen Materialen, Haare von Eisbären oder Nerzen etwa sowie Federn verschiedenster Vogelarten, darunter afrikanische Trappen, Königsfasane und Türkisblaue Kotingas, was rasch ins Geld geht. Allein der Materialwert einer nur wenige Zentimeter messenden exquisiten Fliege kann bis zu 2000 Euro betragen.
Heute aber sind Federn solcher Vögel nicht mehr so leicht verfügbar wie im 19. Jahrhundert. Ihr Handel ist unter dem Washingtoner Artenschutzabkommen von 1973 (Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora, kurz CITES) entweder stark eingeschränkt oder ganz verboten. Fliegenbinder, die auf diese Federn angewiesen sind, müssen daher mit alternativen natürlichen Materialen arbeiten, oder sie verwenden synthetischen Ersatz. Im Idealfall können sie auf alte Privatbestände exotischer Vogelpräparate zurückgreifen, die für teures Geld meistens im Internet verkauft werden.
E.R. zeigte unter Anleitung eines Meisters des Lachsfliegenbindens wiederum sein ganzes Talent. Doch zu seiner Enttäuschung war es ihm nicht möglich, mit eigenen Mitteln solche Meisterwerke zu kreieren. E.R., der nicht aus einem begüterten Elternaus stammt, fehlte das Geld, um sich die nötigen Vogelfedern zu beschaffen.
Geldsorgen in London
So verfeinerte er sein zweites großes Talent, die Musik. Als Flötist ergatterte er mit knapp 20 Jahren einen Studienplatz an der renommierten Royal Academy of Music in London. Damit lebte E.R. nun dort, wo nicht nur die Kunstform des Fliegenbindens seinen Anfang nahm, sondern wohin auch die Vögel gelangt waren, die Naturforscher wie Charles Darwin und Alfred Russel Wallace im 19. Jahrhundert aus der ganzen Welt nach Hause gebracht hatten. Heute lagern in den naturhistorischen Museen Großbritanniens Hunderttausende von Vogelbälgen, darunter auch von denjenigen Vogelarten, die bei Fliegenbindern der Extraklasse so begehrt sind.
In London plagten E.R. bald Geldsorgen. Die Finanzkrise war ausgebrochen, was seine Eltern, die in den USA eine Hundezucht betrieben, zu spüren bekamen. Zudem wollte der Musiker unbedingt eine neue Flöte, eine goldene. Kostenpunkt: mindestens 15 000 Euro. Für einen Studenten, dessen Eltern gerade in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren, war dies ein unerschwinglicher Wunsch: E.R. benötigte Geld – und entschied sich für das Naturhistorische Museum von Tring in Hertfordshire, das rund eine halbe Stunde mit der Bahn von London entfernt liegt und eine der größten ornithologischen Sammlungen weltweit beherbergt. Präparierte Vögel, Eier, Nester, Vogelskelette: Mehr als 1,1 Millionen Objekte finden sich dort neben einer ornithologischen Bibliothek mit 75 000 Büchern. In Tring sind auch Bälge von Paradiesvögeln untergebracht, die Alfred Russel Wallace, der zeitgleich mit Charles Darwin die Mechanismen der Evolution entdeckte, im 19. Jahrhundert eigenhändig von Neuguinea mit nach Hause brachte.
Auf genau solche prachtvollen Vögel hatte E.R. es abgesehen. Deren Federn würden sich in der Welt der Fliegenbinder für viel Geld verkaufen lassen. Und er könnte sich eine goldene Querflöte beschaffen.
Der Diebstahl ging erstaunlich problemlos über die Bühne. Genau wie der Solothurner S.G. erschlich sich auch E.R. unter falschen Angaben Zugang zu den wertvollen Sammlungen. Er gab vor, für einen Freund, der in Oxford eine Dissertation über Paradiesvögel schreiben würde, hochauflösende Fotografien von den Vögeln in der Sammlung machen zu wollen. Der Trick war erfolgreich, E.R. erhielt Einlass und konnte nicht nur die Paradiesvögel, sondern auch die Räumlichkeiten fotografieren, was ihm beim Planen des Diebeszugs half.
Am Abend des 23. Juni 2009 machte sich E.R. nach einem Konzert in London mit der Bahn auf nach Tring und brach dort ins Museum ein. Mit Hilfe eines Glasschneiders öffnete er ein Fenster. Ein Alarm ging los, doch der Nachtwächter bemerkte ihn nicht – möglicherweise verfolgte er ein Fußballmatch am Fernsehen.
Kein Halten mehr im Museum
Eigentlich wollte E.R. bei seinem Beutezug selektiv vorgehen und sich vor allem diejenigen Vögel herauspicken, deren Federn bei den Fliegenbindern besonders beliebt sind. Doch vor Ort überkam es ihn. Er stopfte so viele Vögel wie möglich in seinen mitgebrachten Koffer: Prachtparadiesvögel, Azurkotingas, Türkisblaue Kotingas, Goldlaubenvögel, Quetzale und viele mehr. Insgesamt stahl er 299 Vogelbälge von 16 verschiedenen Arten und Unterarten. Darunter solche, die von Alfred Russel Wallace persönlich vor über 150 Jahren unter großen Strapazen und Entbehrungen auf dem Malaiischen Archipel gesammelt hatte.
Zurück in seiner Londoner Wohnung begann er den Vögeln die Federn auszurupfen, verpackte sie in kleine Plastiksäckchen und verkaufte sie erfolgreich im Internet. Selbstverständlich verschwieg er, woher die Federn stammten. Als Motiv des Verkaufs gab er aber ehrlicherweise an, von dem Geld eine neue Flöte kaufen zu wollen. Sein Benutzername auf den Internetplattformen lautete »Fluteplayer 1988«.
E.R. hatte sich kaum Mühe gegeben, die Spuren seines kriminellen Tuns zu verwischen. Es dauerte dennoch etwas mehr als ein Jahr, dann flog er auf. Als drei Polizisten am 12. November 2010 an seine Türe klopften und ihm eröffneten, sie ermittelten im Tring-Diebstahl, gab er gleich alles zu und zeigte den Beamten seine Beute – oder das, was noch davon übrig geblieben war. Von den 299 gestohlenen Bälgen befanden sich noch 174 in seiner Studentenbude. Sie waren intakt. Allerdings waren nur noch 102 davon mit dem Etikett versehen, worauf Ort und Zeit des Fundes verzeichnet waren. Von den 37 Königs-Paradiesvögeln verfügten lediglich noch drei über ein solches Label.
Ohne Etiketten, die eine genaue Zuordnung erlauben, sind Vogelbälge für die Wissenschaft wertlos. Wie alle Sammlungsobjekte aus Naturkundemuseen eröffnen Vogelpräparate einen Blick in die Vergangenheit. Sie sind ein biologisches Zeugnis. Die Analyse einer klitzekleinen Probe, die einem Präparat entnommen wird, ermöglicht es zum Beispiel zu verstehen, welchen Lauf die Evolution nahm oder wie sich die Biodiversität und Umwelt an einem bestimmten Ort über die Jahre verändert hat.
Das zeigen zwei Beispiele: Als Mitte des letzten Jahrhunderts in vielen Industrieländern plötzlich die Bestände der Wanderfalken einbrachen, verglich man Wanderfalkeneier aus naturkundlichen Sammlungen mit Eiern aktueller Bruten und kam so der Ursache des Falkensterbens auf die Spur. Das Insektizid DDT, das die Wanderfalken über ihre Beute aufgenommen hatten, führte dazu, dass die Eischalen dünner wurden. Deshalb überlebten weniger Junge. Und vor Kurzem nutzten Forscher knapp 1300 Vogelpräparate aus den Jahren 1880 und 2015, um die Rußemission der USA aus ebendieser Zeit zu ermitteln. Diese Daten dienen nun wiederum der Klimaforschung.
Indem E.R. die Etiketten der Vögel entfernte, fügte er der Forschung also einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zu. Der wissenschaftliche Direktor des Museums in Tring bezeichnete E.R.s Tat als »katastrophales Ereignis«, das nicht nur einen Verlust für Großbritannien, sondern für das Wissen und Erbe des ganzen Planeten bedeute. Auch der Richter, der den Fall verhandelte, wies auf die eminente Bedeutung naturkundlicher Sammlungen hin: E.R. habe ein »naturhistorisches Desaster weltweiten Ausmaßes« verursacht.
Dennoch fiel im Juli 2011 ein mildes Urteil: zwölf Monate Freiheitsstrafe bedingt. E.R. verbrachte für seine Tat keine einzige Nacht hinter Gittern. Er entkam einer viel härteren Strafe dank eines Psychologen, der bei E.R. ein Asperger-Syndrom diagnostizierte. Es sei nicht Gier gewesen, die E.R. getrieben habe, meinte der Psychologe, sondern sein suchtartiges Interesse am Fliegenbinden. E.R. sei »überfokussiert auf diese Kunstform« gewesen und habe einen »Tunnelblick« entwickelt, der ihn die sozialen Konsequenzen seines Tuns ausblenden ließ. Das Gericht folgte dieser Diagnose.
Im Gegensatz zum Federdieb aus der Schweiz zeigte E.R. allerdings kaum Einsicht. Alte Vogelbälge, die in den Kellern der Museen lagern, seien doch nutzlos, meinte er. Er sah nicht ein, dass diese Präparate für die Wissenschaft weiterhin von Interesse sein können. Für ihn waren sie in den Händen einer Gruppe von Männern, die einem bizarren Hobby nachgehen, besser aufgehoben.
Heute lebt E.R. als Musiker in Deutschland und gibt Konzerte. Seine Flöte ist silbern.
Dieser Artikel erschien zuerst im RiffReporter-Projekt »Die Flugbegleiter«.
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