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Genetik: Vererbte Religion

Setzt sich Religiosität durch, weil Gläubige mehr Kinder zeugen als Nichtgläubige? Führt die Evolution zum Homo religiosus, weil sich dessen Gene stärker ausbreiten? Eine Studie legt diese Gedanken nahe.
Rosenkranz
Bei den meisten komplexen Veranlagungen des Menschen ist die Wechselwirkung zwischen biologischer Veranlagung und kultureller Ausprägung längst unstrittig: Wir werden mit der Fähigkeit zu sprechen geboren, müssen dazu aber Sprachen erlernen. Wir sind unterschiedlich musikalisch veranlagt, prägen diese Anlage jedoch immer in Kulturen aus. Und wir besitzen unterschiedliche geistige Potenziale, die wir erst über unser kulturelles Umfeld mehr oder weniger erschließen können – eine Liste, die sich noch lange fortsetzen ließe.

Doch wie verhält es sich mit dem Glauben des Menschen: Fiel Religion auf einmal vom Himmel oder evolvierte auch sie? Bereits Charles Darwin, als studierter Theologe, ging selbstverständlich von Letzterem aus und formulierte in seiner "Abstammung des Menschen" von 1871 ein Bündel von Hypothesen dazu. Schon er unterschied dabei sorgsam zwischen der religiösen Veranlagung zum "Glauben an unsichtbare und spirituelle Wesenheiten" einerseits und den daraus gewachsenen, kulturellen Ausprägungen wie dem Poly- oder Monotheismus andererseits.

Doch es sollte noch länger als ein Jahrhundert dauern, bis Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen endlich begannen, auch die Religion(en) in den gemeinsamen, evolutionären Blick zu nehmen. So fanden Zwillingsforscher auch für Religiosität einen Anteil genetischer Vererbbarkeit von 40 bis 60 Prozent, was dem oberen Bereich anderer Merkmale entsprach. Eine wachsende Zahl von neurobiologischen, genetischen, psychologischen und soziologischen Studien vertieft das Bild, das in vielem den frühen Hypothesen von Darwin überraschend nahekommt.

Reproduktionserfolg der Religionen ...

Der Ökonom Robert Rowthorn von der University of Cambridge griff nun dazu statistische Auswertungen und Fallstudien auf, nach denen religiöse Menschen durchschnittlich deutlich höhere Geburtenraten aufweisen als ihre säkularen Nachbarn – auch nach der Berücksichtigung von Faktoren wie Bildung oder Einkommen. Ob unter Juden, Christen, Muslimen oder Hindus: Umso häufiger die Angehörigen beten und Gottesdienste besuchen, umso häufiger entscheiden sie sich offensichtlich im Durchschnitt auch für Kinder. Orthodoxe Juden oder Mormonen, Old Order Mennoniten – ein traditioneller Zweig der Religionsgemeinschaft – oder Hutterer wiesen über Generationen hinweg sogar extrem hohe Geburtenraten auf.

Rosenkranz | Die weit überwiegende Mehrheit der Menschheit hängt einem Glauben an – vom Christen- und Judentum über Islam und Buddhismus bis hin zu animistischen Religionen. Diese Tendenz könnte auch etwas mit genetischer Vererbung zu tun haben, meinen Forscher.
Der Forscher zitiert Studien, wonach bislang keine einzige nichtreligiöse Population, Bewegung oder Gemeinschaft bekannt sei, die auch nur ein Jahrhundert lang die Bestandserhaltungsgrenze von zwei Kindern pro Frau halten konnte. Dabei folgte auch Rowthorn dem Konsens unter den beteiligten Forscherinnen und Forschern: Nicht "die Religiosität" entscheidet über die Geburtenraten, sondern erst ihre kulturellen Ausprägungen. Kinderarme oder gar kinderlose Varianten wie die Shaker – eine christliche Freikirche in den USA, die aus dem Quäkertum hervorgegangen ist und keine Kinder zeugte – oder diverse UFO-Gruppen verabschieden sich damit immer wieder aus der Geschichte, wogegen kinderreichere Traditionen zu Weltreligionen (nach-)wachsen.

... und ihr Einfluss auf die Populationsgenetik

Entsprechend unterschied Rowthorn zwischen der Religionszugehörigkeit als ausschließlich kulturellem Merkmal und der genetischen Religiosität, die "nur" zu einer höheren Wahrscheinlichkeit zum Verbleiben in oder Entwicklung zu einer geburtenstarken Religionszugehörigkeit führte. Wie würden sich religiöse Veranlagungen, die Rowthorn sowohl als haploid (einsträngig) wie diploid (zweisträngig) vererbbar durchrechnete, in verschiedenen Szenarien ausbreiten?

Wenig überraschend zeigte sein Modell, dass auch kleine religiöse Ausgangspopulationen über Generationen hinweg zur Dominanz aufsteigen würden, wenn sie höhere Geburtenraten ohne Aus- oder Übertritte verzeichneten. In Wirklichkeit verloren jedoch auch sehr verbindliche Gemeinschaften wie die Old Order Amish oder Hutterer während des 20. Jahrhunderts pro Generation 5 bis 20 Prozent ihrer Kinder, und moderate und liberale Traditionen sogar noch deutlich mehr. In einem realistischeren Modell berechnete Rowthorn daher die Effekte aus Szenarien, in denen in jeder Generation selbst Religiöse ihre Gemeinden verließen. Im populationsgenetischen Ergebnis blieben dann je nach Geburten- und Aussteigerraten mitunter nur kinderreichere Minderheiten aus Religionszugehörigen – deren Exmitglieder jedoch ihre religiösen Veranlagungen in die nichtreligiöse Population "einströmen" ließen.

Selbst wo die Religionszugehörigkeiten eine Angelegenheit kleiner Minderheiten bliebe, würde also insgesamt doch der religiöse Grundwasserspiegel in der Gesamtpopulation unmerklich immer weiter steigen. Dass wir entsprechend auch unter erklärt Nichtreligiösen quasireligiöses Verhalten wie rituelle Totenehrungen, das Errichten von Mausoleen und Denkmälern, den Glauben an Geister und Außerirdische und anderes mehr beobachten können, passt hervorragend zu diesem realistischeren Modell.

Zwar kennt die Religionsgeschichte bisher keine einzige Menschengesellschaft, in der religiöses Verhalten nicht beobachtet oder später wieder völlig verschwunden wäre, doch suchte Rowthorn auch nach Szenarien, in denen die evolutionäre Ausbreitung von Religiosität gestoppt werden könnte. Dies konnte in wenigen, diploid-rezessiven Szenarien dann geschehen, wenn Religiöse völlig ohne jede Präferenz füreinander heirateten und ihre isolierten Veranlagungen im allgemeinen Genpool also kaum aufeinander treffen und wirksam werden konnten. Selbst für diese Szenarien musste Rowthorn aber zusätzlich annehmen, dass nichtreligiöse Populationen die Bestandserhaltungsgrenze von mindestens zwei Kindern pro Frau dauerhaft erreichten – was ihnen bislang in der historischen Realität noch nirgendwo gelang.

Evolutionsgeschichte der Religion

Wie andere Verhaltensmerkmale auch trat Religiosität – ausgeprägt in Bestattungen, Opferritualen und anderen Ritualen – in der Evolutionsgeschichte von Homo sapiens und Homo neanderthalensis auf und breitete sich seitdem aus. Die historische Forschung kennt heute weder Gesellschaften, in denen niemand religiös ist – noch solche, in denen es alle in gleichem Maße gewesen wären. Ausnahmslos haben wir es stattdessen mit oft dramatischen Wellenbewegungen aus Säkularisierungen und religiösen Erneuerungen zu tun. Rowthorns populationsgenetische Modelle passen bei realistischen Grundannahmen nicht nur verblüffend genau zu diesem Bild, sondern vermögen dabei auch zu erklären, wie sich religiöse Veranlagungen zunehmend auch in nichtreligiösen Populationen anreichern konnten. Homo sapiens entwickelte sich so (auch) zum Homo religiosus – und die Evolution geht weiter.
  • Quellen
Rowthorn, R.: Religion, fertility and genes: a dual inheritance model. In: Proceedings of the Royal Society B 10.1098/rspb.2010.2504, 2010

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