75 Jahre Grundgesetz: »Ein Durchbruch in nur 13 Tagen«
Am 23. Mai feiert das Grundgesetz – zumindest in Westdeutschland – sein 75-jähriges Bestehen. Doch bevor es vom Parlamentarischen Rat in Bonn beraten und final verabschiedet werden konnte, musste eine Grundlage geschaffen werden. Das war die Aufgabe von elf Abgesandten der damaligen Länder Westdeutschlands und ihrer Mitarbeiter. Mit dem nicht stimmberechtigten Berliner Otto Suhr war zudem ein Vertreter der geteilten Stadt anwesend.
Und so tagte vom 10. bis zum 23. August 1948 ein Ausschnitt der westdeutschen Spitzenpolitik in der Abgeschiedenheit des historischen Augustiner-Chorherrenstifts auf der Insel Herrenchiemsee.
Die erarbeiteten Ergebnisse des Konvents waren eine Glanzleistung, sagt die Historikerin Uta Piereth, Projektleiterin einer Ausstellung seitens der Bayerischen Schlösserverwaltung am Ort des Geschehens. Im Interview erzählt sie von den Beratungen, bei denen Widerstandskämpfer, Altnazis, aber keine Frauen am Tisch saßen und nicht durch Zufall ein Bayer den Vorsitz führte.
Frau Piereth, bei schönem Wetter kann es auf Herrenchiemsee manchmal richtig voll werden. Aber das Augustiner-Chorherrenstift, wo der Verfassungskonvent tagte, lassen viele Ausflügler links liegen. Ist Verfassungsgeschichte nicht spannend genug?
Ungefähr die Hälfte der Besucher betreten gar kein Gebäude auf der Insel, nicht einmal das Neue Schloss, insofern darf man nicht zu viel erwarten. Aber ja, für einige klingt Verfassungsgeschichte vielleicht auch nicht so interessant. Die muss man den Leuten erst schmackhaft machen.
Versuchen Sie es doch einmal!
Gerne. Beim Verfassungskonvent haben 33 Teilnehmer eine ungeheure Vorarbeit dafür geleistet, dass das Grundgesetz so schnell fixiert werden konnte. Und das in nur 13 Tagen. Schaut man sich den Text an, der später vom Parlamentarischen Rat verabschiedet wurde, sieht man: Seine ganze DNA und zahlreiche Formulierungen entsprechen dem Herrenchiemseer Entwurf. Die Teilnehmer haben ihm einfach eine sehr durchdachte, ineinandergreifende Struktur gegeben. Die Errungenschaften, die aus diesen Beratungen hervorgegangen sind, betreffen uns heute alle. Das möchten wir mit unserer Ausstellung vermitteln.
Trotzdem scheint der Verfassungskonvent nicht aus dem Schatten des Parlamentarischen Rats treten zu können. Also jenes Organs, das unter dem Vorsitz von Konrad Adenauer das Grundgesetz fixierte und verabschiedete.
Ich glaube, diese Sicht ändert sich allmählich. Die Bedeutung von Herrenchiemsee wird zunehmend erkannt, auch weil man sich bei der Bewertung dieser Ereignisse von dominanten Figuren wie Adenauer löst. Im Parlamentarischen Rat herrschte eine parteipolitische Sichtweise vor, die alles föderalistisch Geprägte lieber kleinhalten wollte. Der Verfassungskonvent setzte sich aber aus Abgesandten der elf westlichen Länder zusammen. Das hat deutliche Spuren im Grundgesetz hinterlassen.
Als der Konvent tagte, war der Krieg gerade einmal drei Jahre vorbei. Deutschland stand unter Aufsicht der Besatzungsmächte, war de facto bereits zweigeteilt. Zur Verabschiedung einer Verfassung musste man sich im Westen erst durchringen. Warum?
In Westdeutschland befürchtete man, mit einer Verfassung, die zunächst nur in den westlichen Ländern gelten konnte, die Einheit Deutschlands zu riskieren. Deshalb arbeitete man auf Herrenchiemsee und später immer unter dem Vorbehalt des Provisoriums und schrieb an einem »Grundgesetz« – nicht an einer »Verfassung«. Erst bei einer Wiedervereinigung könnte statt dieses Grundgesetzes dann eine reguläre »Verfassung« von allen Deutschen erarbeitet werden. Das war zumindest der Plan.
»Überlegt euch, wie ihr das hinkriegt«US-Militärgouverneur Lucius Clay
Tatsächlich kam von den drei Westmächten Frankreich, Großbritannien und USA weniger der Wunsch als vielmehr die direkte Anweisung, doch endlich mit der Ausarbeitung einer Verfassung zu beginnen.
Richtig. Knapp sechs Wochen vor dem Konvent von Herrenchiemsee übergaben die Westmächte den Ministerpräsidenten die »Frankfurter Dokumente«. Die waren der Startschuss für den gesamten Prozess der Verfassungsgebung. Es war letztendlich der Auftrag, einen westdeutschen Staat zu schaffen.
Aber die Ministerpräsidenten wollten nicht?
Sie versuchten, die Aufgabe an die Besatzungsmächte zurückzuspielen. Sensationell war die Reaktion des amerikanischen Militärgouverneurs Lucius Clay. Sinngemäß hat er gesagt: »Das ist ja wohl nicht euer Ernst. Wir hatten große Mühe, diesen Konsens mit den anderen Westmächten herauszuarbeiten, und ihr sagt jetzt, ihr wollt nicht? Überlegt euch, wie ihr das hinkriegt.«
Mit »Konsens« meinte er die »Frankfurter Dokumente«?
Ja. Denken Sie daran, dass die Nazi-Zeit noch ganz frisch im Gedächtnis war. Die Alliierten standen vor der sehr schwierigen Frage: Wie viel Spielraum sollten sie den Deutschen lassen, wo die Zügel lieber weiter in der Hand halten? Das verlangte nach einem komplizierten Aushandlungsprozess auch unter den Besatzungsmächten.
Wie sehr trägt das Ergebnis die Handschrift der Alliierten?
Im ersten der drei »Frankfurter Dokumente« hatten sie die Rahmenbedingungen fixiert: Es sollte ein demokratischer Staat föderalistischen Typs mit ausreichender Zentralinstanz geschaffen werden, der individuelle Grundrechte verankert und schützt. Gleichzeitig sollte alles so ausgearbeitet werden, dass die Einheit Deutschlands zukünftig möglich sei. Das verlangte eine »Eier legende Wollmilchsau«.
Das klingt, als hätten die Westdeutschen nicht mehr viel Spielraum gehabt. Wie konnten sie auf das Ergebnis noch Einfluss nehmen?
Es gab keine klaren Antworten auf einzelne Fragen. Wie sollte ein Staat föderalistischen Zuschnitts mit ausreichender Zentralinstanz in der Realität aussehen? Der Rahmen war gesetzt, aber sehr schwer auszufüllen. In dieser Hinsicht war der Verfassungsentwurf stets ein Aushandlungsprozess. Aber: Was beauftragt wurde, sollte auch gemacht werden.
»Es ist fantastisch, dass es gelang, zwei Optionen für die deutsche Einheit in die Verfassung einzubauen«
Ein Leitgedanke beim Verfassungskonvent war es, mit dem Grundgesetz zu verhindern, dass Deutschland eines Tages wieder zu einem undemokratischen Staat wird. Ist das gelungen?
Man bemühte sich darum, die Verfassung umsichtig zu gestalten, sie abzusichern und Gefährdungen für die Demokratie auszuklammern. Die alte Weimarer Reichsverfassung hatte die Aushöhlung und Aushebelung der demokratischen Verhältnisse erlaubt, die sich nun keinesfalls wiederholen sollten. Die Idee der wehrhaften Demokratie liegt hier zu Grunde.
In den 13 Tagen des Verfassungskonvents war es aber – trotz intensiver, dichter Arbeit – nicht möglich, alle Gefährdungen, Optionen und staatsrechtlichen Möglichkeiten auszudiskutieren. Wichtige politische Punkte sollten aber sowieso erst im Parlamentarischen Rat entschieden werden. Die Teilnehmer dachten daher in Etappen: Als Nächstes würde der Parlamentarische Rat seine Arbeit aufnehmen und weiterarbeiten. Es dauerte noch fast ein ganzes Jahr bis zur Verabschiedung im Mai 1949.
Die Befürchtung, mit der Verfassung die deutsche Teilung zu besiegeln, war nicht unbegründet. Trotzdem tat man es. Ließ man die ostdeutsche Bevölkerung im Stich?
Nein. Man muss ganz realistisch sagen, dass bereits im Juni 1947, als die Ministerpräsidenten der Ostländer die Ministerpräsidenten-Konferenz in München verlassen hatten, die Trennung zwischen Ost und West weit vorangeschritten war und mit der Währungsform 1948 schließlich faktisch vollzogen wurde. Es war absehbar, dass es unter den Besatzungsmächten unterschiedliche Ziele für Deutschland gab und keine Einigung erreicht werden könnte.
Doch ich finde es fantastisch, dass es gelang, zwei Optionen für die deutsche Einheit in die Verfassung einzubauen. Zum einen Artikel 23, in dem hieß: Weitere – also auch die östlichen Länder – können dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten. Zum anderen Artikel 146, wonach das Grundgesetz so lange gelte, bis eine verfassungsgebende Versammlung zusammentrete und eine neue Verfassung erarbeite.
»Mit ihrer cleveren, aber auch oberlehrerhaften Art gingen die Bayern den anderen Teilnehmern mitunter auf die Nerven«
Artikel 23 war es dann, der 1990 die Wiedervereinigung ermöglichte. Aber gehen wir noch einmal zurück nach Bayern und Herrenchiemsee. Dass der Verfassungskonvent ausgerechnet dort tagte, lag wohl nicht allein am malerischen Ambiente?
Nein, das wohl nicht. Die Einladung war ein strategischer Schachzug der bayerischen Landesregierung.
Dadurch brachten sie unter anderem ihren Staatssekretär Anton Pfeiffer als Leiter des Konvents in Stellung, die Bayern reisten auch direkt schon mit einem eigenen Entwurf für eine Verfassung an. Wie viel Bayern steckt im Grundgesetz?
Mit ihrer Landesverfassung waren die Bayern längst keine Ausnahme mehr. Etliche Länder hatten damals bereits eigene Verfassungen. Und von etlichen waren die Erarbeiter zum Konvent angereist. Nun weiß man allerdings: Wer schreibt, der bleibt. Deshalb haben die Bayern ihren eigenen Entwurf für eine Verfassung mitgebracht und immer wieder darauf verwiesen, dass sie dieses und jenes bereits dazu geschrieben hätten. Mit dieser cleveren, aber auch oberlehrerhaften Art gingen sie den anderen Teilnehmern mitunter auf die Nerven, die ihre eigenen Erfahrungen und Interessen hatten.
Eine größere Rolle für die Nachwelt spielte letztlich jedoch der Umstand, dass mit dem Vorsitzenden Pfeiffer ein Bayer den Konventsbericht redigiert hat. Er hat das nicht allein getan, trotzdem sind da manchmal Dinge etwas akzentuiert worden, die in den Diskussionen eigentlich offener geblieben waren. Es rutschten auch hier und da Kommentare hinein, die vielleicht nicht die volle Zustimmung von allen Teilnehmern erhalten hätten. Insgesamt war aber vor allem der ausformulierte Grundgesetzentwurf eine gewaltige Leistung, die von allen erbracht wurde.
Warum stimmte Bayern dann später als einziges Bundesland gegen das Grundgesetz?
Die Deutungen sind unterschiedlich. Die einen sagen, dass die Stimmung im Bayerischen Landtag nicht grundsätzlich gegen das Grundgesetz war, doch man sah, dass zu wenig föderalistische Elemente – insbesondere bei der Finanzverwaltung – durchgesetzt wurden. Die andere Sicht akzentuiert innenpolitische Probleme. Man wusste, dass das Grundgesetz auch ohne die Zustimmung des Bayerischen Landtags gelten würde, also konnte man sich quasi mit einem Veto als stark eigenständig innerhalb der neuen Bundesrepublik positionieren und so in Bayern innenpolitisch Punkte sammeln, ohne die neue Verfassung auf Bundesebene zu gefährden.
Beim Herrenchiemseer Konvent waren Frauen – von einer Justizangestellten abgesehen – nur als Sekretärinnen oder Ehefrauen vertreten. Und auch im Parlamentarischen Rat saßen gerade einmal vier Frauen. Welche Rolle spielten sie bei der Ausarbeitung unserer Verfassung?
Das ist wirklich sehr auffällig. Wir können nicht beurteilen, wie stark der Einfluss der elf mitreisenden Ehefrauen war. Susanne Suhr, die Frau des Berliner Abgeordneten, war Journalistin und am Konvent dabei. Es ist also kein Wunder, dass ihr Mann Otto Suhr zu denen gehörte, welche die Rechte von Frauen in den Entwurf einpflegen wollten. Die explizit ausformulierte Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau schaffte es erst durch Elisabeth Selbert, die im Parlamentarischen Rat saß, ins Grundgesetz.
Vorher waren Frauen sozusagen nur »mitgemeint«?
Ein Fokus der Konventsteilnehmer lag darauf, dass sich das, was unter den Nationalsozialisten möglich geworden war, nämlich die abgründige Verletzung aller Menschen- und Grundrechte, nicht mehr wiederholen konnte. Dass jeder Mensch Würde besitzt, ihm Freiheitsrechte zustehen und er individuelle Abwehrrechte gegenüber dem Staat besitzt. Diese Annahme denkt alle Menschen – also auch Frauen – mit, es wurde aber nicht explizit ausgesprochen. Die Tatsache, dass diese Grundrechte nun an die oberste und erste Stelle gesetzt wurden und auch für den Staat und Gesetzgeber bindend waren, war ein Durchbruch.
Beim Verfassungskonvent von Chiemsee saß der ehemalige KZ-Häftling Hermann Brill neben NS-Täter Justus Danckwerts, um gemeinsam an einer demokratischen Verfassung zu arbeiten. Wie kann man sich diese Zusammenarbeit vorstellen?
Auch innerhalb des Museumsteams waren wir darüber erstaunt. Von der NS-Vergangenheit einiger Teilnehmer wussten wir, bei anderen haben wir es durch unsere Recherchen erfahren. Es war erst nicht klar, an wie vielen Stellen Täter und Opfer scharfkantig aufeinandergestoßen sein müssen. Wir sind alle Historikerinnen und Historiker, aber keinem von uns wäre deutlich aufgefallen, dass dieser Umstand explizit angesprochen oder dass die Teilnehmer sich gegenseitig blockiert hätten.
Hermann Brill, der als Widerstandskämpfer im KZ Buchenwald inhaftiert war, hat zwar immer wieder gemahnt, dass sich die Verbrechen des NS nie mehr wiederholen dürften. Doch im Prinzip wurde nach vorne geschaut. Es ist erstaunlich, dass Menschen wie Danckwerts oder der Abgeordnete Badens, Theodor Maunz, ihre vormaligen ideologischen Ausrichtungen in den Verfassungsberatungen nicht mehr durchscheinen ließen.
Laut einer Umfrage sieht die Mehrheit der Befragten im Rechtsextremismus und -populismus die größte Gefahr für die Demokratie in Deutschland. Gleichzeitig ist das Vertrauen in unsere Verfassung groß – berechtigterweise? Ist das Grundgesetz den neuen Herausforderungen gewachsen?
Ich glaube, dass vieles, wie der wehrhafte Charakter, sehr gut im Grundgesetz angelegt ist. Aber: Es reicht nicht. Die größte Gefahr, die ich auch in der Begegnung mit Museumsbesuchern bemerke, ist das Sichausruhen, die Selbstverständlichkeit; dieses »Wir besitzen diese Rechte doch sowieso«. Das stimmt nicht. Wir müssen alle dafür Sorge tragen, dass bestimmte Dinge nicht verharmlost oder unterdrückt werden. Auch der Gesetzgeber ist gefragt, hier und da nachzujustieren, damit keine Unterhöhlung des Systems stattfindet. Die im Grundgesetz festgeschriebenen Rechte und Werte sind keine Selbstverständlichkeit.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.