Mathematische Unterhaltungen: Wie Parkettierungen an Dynamik gewinnen
In den alten Zeiten, als 50 Zeichen pro Sekunde noch als akzeptable Datenübertragungsrate galten, gab es immerhin schon ein Mittel für die verzögerungsfreie elektronische Kommunikation: den Fernschreiber, auch Telex genannt. Äußerlich glich das Gerät einer Schreibmaschine. Ein Tastendruck schickte ein Signal auf die Reise, das im Gerät des Empfängers das zugehörige Zeichen aufs Papier schlug – so, als hätte der Empfänger die entsprechende Taste gedrückt. Wer längere Texte vorbereiten und dann rasch übertragen wollte, verwendete als Datenträger den so genannten Lochstreifen, ein 17,4 Millimeter breites Band aus reißfestem, in der Regel leuchtend gelb gefärbtem Papier (Telexband).
Heinz Strobl, Jahrgang 1946, gelernter Physiker und Softwareentwickler aus Aichach bei Augsburg, hat in seinen frühen Berufsjahren noch Lochstreifen als Eingabemedium für Computer verwendet. Die wurden allerdings schon bald durch die Lochkarten abgelöst; in den 1990er Jahren machte das Faxgerät dem Fernschreiber binnen kurzer Zeit den Garaus, und wenig später fielen die letzten Reste des Telexnetzes dem Internet zum Opfer. Übrig blieben größere Mengen an unverbrauchtem Telexband. Für sie fand Strobl eine kreative Verwendung: Origami mit langen Streifen an Stelle der üblichen quadratischen Papierblätter.
Mit der Zeit entwickelte er eine Technik, mehrere solcher langen Streifen kunstvoll miteinander zu verflechten und zu verknoten, die er »Knotologie« nannte. Unweigerlich bleibt beim Abschluss eines knotologischen Werks dieses oder jenes Stück Streifen übrig, an dem der Künstler den letzten Knoten zugezogen hat und das er am Ende abschneidet. Da er als sparsamer Mensch diese Reststücke nicht wegwerfen mochte, fand er eine neue Verwendung für sie: eine unkonventionelle Darstellung geometrischer, von ebenen Flächen begrenzter Körper (Polyeder).
Strobl fertigt nicht, wie sonst üblich, die Flächen des Körpers aus Papier. Vielmehr knickt er einen Streifen in regelmäßigen Abständen, die gleich der Streifenbreite sind, so dass eine Folge aneinanderhängender Quadrate entsteht. Legt man nun zum Beispiel das sechste Quadrat auf das erste, entsteht so etwas wie ein fünfeckiger Ring, geometrisch gesprochen: ein fünfseitiges Prisma ohne Boden und Deckel. Dieses Gebilde vertritt eine fünfeckige Seitenfläche des darzustellenden geometrischen Körpers. Man kann sich auch vorstellen, dass die Kanten dieser Seitenfläche nach außen verbreitert (»extrudiert«) werden, bis sie zu Quadraten werden. An die Stelle eines Fünfecks tritt entsprechend ein fünfseitiges Prisma ohne Boden und Deckel oder, anders ausgedrückt, fünf Quadrate, die eine kurze Röhre mit fünfeckigem Querschnitt bilden. Der Symmetrie und vor allem der Stabilität zuliebe führt Strobl alle diese Röhren doppellagig aus.
Nun wollen die so ausgeführten Flächen noch an ihren gemeinsamen Kanten verbunden werden. Zu diesem Zweck fädelt Strobl an jeder der beiden beteiligten Kanten einen v-förmig gefalteten Streifen (das »Kantenmodul«) ein. Die mittlere Falte dieses Kantenmoduls bildet ein Scharnier an der Seite der Röhre, welche die Kante repräsentiert. Die an der anderen Seite der Röhre überstehenden Streifenenden lässt er einfach in den Zwischenraum zwischen den Quadraten benachbarter Röhren einschnappen. So kommt er zur »Schnappologie«.
Von der Unterhaltungsmathematik in die Materialwissenschaften
Dieses Prinzip lässt sich nicht nur auf einzelne geometrische Körper anwenden, sondern auch auf Zusammensetzungen derselben oder, was auf dasselbe hinausläuft, auf Kantengerüste mit sehr vielen Kanten.
Dreieckige Seitenflächen eines geometrischen Körpers sind starr, selbst dann, wenn sie nur in Form von Stangen oder extrudierten Flächen entlang der Kanten realisiert werden. Für Flächen mit mehr als drei Ecken gilt dies nicht mehr. Vielmehr kann zum Beispiel ein extrudierter Würfel so deformiert werden, dass seine Seitenflächen sich in mehr oder weniger schmale Rauten verwandeln, bis er im Extremfall gänzlich platt gedrückt ist. Wenn man es geschickt anstellt, bleiben sogar Körper aus sehr vielen Vierecken im Ganzen deformierbar.
Nachdem Strobl seine Arbeiten auch in englischer Sprache ins Internet gestellt hatte, sprang die Kunde von »knotology« und »snapology« über den Atlantik. Eine Gruppe von Materialwissenschaftlern an der renommierten Harvard University, allen voran der damalige Doktorand Johannes Overvelde, hat das Prinzip weiterentwickelt. Die Idee ist, die Elemente der schnappologischen Strukturen periodisch in einer Art Kristallgitter anzuordnen.
Bekanntlich kann man würfelförmige Klötze so nebeneinanderlegen und aufeinanderstapeln, dass keine Lücken bleiben. Auf dieselbe Weise kann man auch extrudierte Würfel anordnen, muss jedoch zwischen ihnen für die Vierkantröhren, die durch Extrusion der Kanten entstehen, Platz lassen. Verbindet man nun jeweils aneinanderstoßende Röhren miteinander, lassen sich alle Würfel synchron deformieren – eine sehr spezielle Form von Square Dance.
Das Prinzip lässt sich verallgemeinern. Es gibt viele Möglichkeiten, den Raum lückenlos mit Polyedern, das heißt von ebenen Flächen begrenzten Körpern, zu füllen. Selbst wenn man die Auswahl auf Füllungen beschränkt, die periodisch sind (deren Muster sich also in regelmäßigen Abständen wiederholen) und aus einigermaßen regelmäßigen Körpern bestehen, die einander jeweils mit ganzen Flächen berühren, bleiben immerhin noch 28 verschiedene Möglichkeiten übrig. Dabei sind unter »einigermaßen regelmäßig« sowohl die sehr regelmäßigen platonischen Körper als auch die archimedischen Körper einschließlich der Prismen und Antiprismen zu verstehen. Diese halbregelmäßigen Körper dürfen verschiedenartige Flächen enthalten; die Flächen selbst müssen jedoch regelmäßig sein und sich um jede Ecke in gleicher Weise gruppieren. Insbesondere haben alle beteiligten Körper dieselbe einheitliche Kantenlänge.
Eine solche Füllung lässt man jetzt in Gedanken explodieren: Man schiebt alle Einzelkörper ein Stück weit auseinander, so dass die extrudierten Kanten, sprich die eckigen Röhren, Platz finden. Aus zwei Flächen verschiedener Teilkörper, die ursprünglich einander berührten, werden zwei Röhren, die einander gegenüberstehen. Diese verbindet man so miteinander, dass sie sich nur noch gemeinsam deformieren können. Damit die ursprüngliche Anordnung der Polyeder erhalten bleibt, müssen gelegentlich die Verbindungen von unterschiedlicher Länge sein. Darüber hinaus darf man die ganze Anordnung in verschiedenen Raumrichtungen unterschiedlich weit explodieren lassen.
Macht man es richtig, wird das ganze Ensemble aus – theoretisch unendlich vielen – Polyedern beweglich. Meistens. Wenn die Körper, die den Raum füllen, sämtlich aus Dreiecken bestehen (es gibt eine solche Raumfüllung aus Tetraedern und Oktaedern), hat keine der Flächen Gelegenheit, sich zu deformieren. Aber wenn sich überhaupt etwas bewegt, sind die Ergebnisse spektakulär. Overvelde und Kollegen haben das für sämtliche 28 Raumfüllungen durchgerechnet und für einige mit professionellen Materialien realisiert (siehe Online-Videomaterial). Es geht aber auch mit bescheideneren Mitteln: In einer kleinen Gruppe Begeisterter haben wir einige dieser beweglichen Anordnungen nachgebaut.
Nach dem Staunen über die wahrhaft unglaublichen Formänderungen, zu denen diese Ensembles aus einfachen Flächen fähig sind, kommt unweigerlich die Frage auf, wozu das Ganze nutze sein soll. Zwei Antworten liegen relativ nahe.
Erstens könnte man eine vergleichbare Konstruktion, in solidem Material ausgeführt und mit echten Scharnieren an Stelle der Knicke im Papier, in zusammengefaltetem Zustand platzsparend verpackt in den Weltraum schießen, wo sie sich zu voller Schönheit auffalten und zum Beispiel als Sonnensegel dienen kann. Eine oder zwei zusätzliche Streben würden der Sache dann die nötige Stabilität verschaffen.
Zweitens könnte man auch die einzelnen Bauteile mikroskopisch klein machen und auf diese Weise Materialien mit ungeahnten Eigenschaften erhalten. Wenn man ein gewöhnliches Stück Knete oder ein ähnlich weiches Material zusammendrückt, quillt es senkrecht zur Druckrichtung heraus – irgendwo muss das Volumen ja bleiben. Eine der hier beschriebenen Konstruktionen würde auf Druck vielleicht in allen drei Raumrichtungen zugleich schrumpfen und sich auf Zug entsprechend allseits ausdehnen. Materialien mit dieser Eigenschaft heißen auxetisch, und allem Anschein nach gibt es davon noch nicht allzu viele. Möglicherweise finden die zahlreichen untersuchten Konstruktionen hier interessante Anwendungen.
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