Paläoökologie: Verlorene Welt
Von wegen Täler des Todes: Wo sich heute eine gefriergetrocknete antarktische Ödnis ausdehnt, sprudelten früher tatsächlich lebensbejahende Quellen, wucherten Moose und blühten Algen. Eiseskälte bewahrte dieses einzigartige Ökosystem über 14 Millionen Jahre nahezu unverändert auf.
Temperaturen bis minus 50 Grad Celsius im Winter, im Sommer nur wenige Tage über dem Gefrierpunkt, stetige orkanartige Fallwinde, die über die Landschaft peitschen und noch den letzten Rest an Feuchtigkeit aus dem Boden saugen, den die ohnehin extrem seltenen Niederschläge hier vergossen haben: Es gibt lebensfreundlichere Regionen auf der Erde als die antarktischen Trockentäler in der Nähe des McMurdo-Sunds im Osten des Eiskontinents. Nur die härtesten Geschöpfe können überleben – der Rest hat keine Chance, wie die Skelette ab und an verirrter Robben oder Seevögel belegen.
Doch die Gegend war nicht immer ganz so trostlos, öd und leer, wie sie sich heute dem Beobachter präsentiert. Zumindest vor rund 15 Millionen Jahren tobte auch hier so etwas wie Leben, schließen Adam Lewis von der Boston University und sein Team aus Bodenkundlern, Paläontologen und Biologen aus ihren Funden. Sie wagten eine Expedition in die westliche Olympus-Kette, um in den dortigen Trockentälern nach Spuren prähistorischen Lebens zu forschen.
Und sie wurden fündig: Mitten in der heutigen Wüste erstreckte sich bis zum Mittleren Pliozän vor 14 Millionen Jahren offensichtlich eine Seenkette, die aus den umliegenden Gebirgsgletschern gespeist wurde. Sie ermöglichte eine vergleichsweise üppige Fauna und Flora, deren fossile Reste in den Seesedimenten bis heute überdauerten – in "exquisitem Detailreichtum", wie sich die Wissenschaftler in ihrer Veröffentlichung freuen. Kieselalgen sorgten für die Biomasse am Anfang der Nahrungskette, kleine Muschelkrebse, auch Ostrakoden genannt, durchwühlten den Schlamm auf dem Seegrund oder im unmittelbaren Uferbereich, den Laubmoose grün einrahmten. Zwischen ihren Stämmchen und Blättern verfingen sich zahllose Ostrakoden unterschiedlichen Alters und deren harte Körperhüllen, die das Moos offensichtlich als perfekte Kinder- und Häutungsstube schätzten.
All diese Arten repräsentieren ein Süßwasserökosystem, das im Verlaufe der Jahrtausende bisweilen schrumpfte, bis nur noch ein moosiges Moor übrig war. Zu anderen Zeiten floss aus tauenden Gletschern und ergiebigen Niederschlägen so viel Wasser in den See, dass er bis zu einer Tiefe von acht Metern anschwoll – Artenzuwachs inklusive: Zu den Algen aus flachgründigen Tümpeln gesellten sich verwandte Spezies, die tiefere Zonen bevorzugen. Es entwickelte sich ein relativ komplexes Biotop, das eine lange Zeit überdauerte und vor allem auch saisonal immer eisfrei war, was unter heutigen lokalen Bedingungen unvorstellbar erscheint.
Leben siedelte sich damals aber auch noch im weiteren Umfeld der Seen an, wie darin eingewehte Pflanzen- und Insektenreste belegen – darunter Pollen von Laub- und Lebermoosen, einer Nelkenart und einem Südbuchengewächs. Umschwirrt wurden sie von Mücken, während Rüsselkäfer zwischen den Pflanzen wuselten. Insgesamt konnte Lewis Team allerdings relativ wenig Kohlenstoff von Landlebewesen nachweisen, sodass der Bewuchs zumindest in den Lagen über 1000 Meter Höhe über dem Meeressspiegel eher spärlich ausfiel. Doch war er deutlich arten- und individuenreicher als heute, da Einzeller die Trockentäler dominieren und einzelne Moose, Würmer, Springschwänze, Bärtierchen und Milben nur an sehr geschützten Flecken überleben.
Ermöglicht wurden die vergleichsweise blühenden Landschaften durch ein damals wesentlich milderes und feuchteres Klima, welches die Wissenschaftler über die Ansprüche der Pflanzen und Tiere rekonstruieren konnten. Eines der Moose besitzt beispielsweise noch heute lebende Verwandte an der Nordspitze der Antarktischen Halbinsel, wo die Sommertemperaturen im Schnitt minus 1,7 Grad Celsius erreichen – genug, um an frostfreien Tagen ausreichendes Wachstum zu ermöglichen. Die Muschelkrebschen und Insekten deuten sogar an, dass die Sommer sogar noch wärmer waren: Auf dem momentan südlichsten Käfervorposten auf der Insel South Georgia liegen die Mittelwerte während der warmen Jahreszeit bei plus 5 Grad Celsius.
Innerhalb weniger tausend Jahre war es allerdings vorbei mit der Herrlichkeit: Womöglich verschwanden große Mengen an Kohlendioxid aus der Atmosphäre, weshalb sich der wärmende Treibhauseffekt abschwächte. Alternativ leiteten vielleicht tektonische Kräfte die Meeresströmungen im globalen Maßstab um, weil sich ozeanische Passagen verengten oder weiteten und sich dadurch die Klimazonen der Erde verschoben. Von dem dauerhaften und raschen Temperatursturz um acht Grad Celsius allein während der Sommermonate erholte sich das Ökosystem jedenfalls nie mehr. Doch immerhin: Schockgefrostet überdauerten seine Bestandteile bis heute nahezu unzerstört.
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