Medizingeschichte: Vervirende Wege
Zum vollständigen Gesamtbild gehören für einen Ahnenforscher unbedingt auch die leider schon verstorbenen Verwandten - oder die zum Glück schon Verstorbenen, wenn es darum geht, den Stammbaum des Pockenerregers aufzuschreiben. Die fragwürdige Herkunft der ausgerotteten globalen Seuche ist dennoch schwer zu durchschauen.
Die Quellenlage ist eindeutig: "Da sprach der HERR zu Mose und Aaron: Füllt eure Hände mit Ruß aus dem Ofen, und Mose werfe ihn vor dem Pharao gen Himmel, dass er über ganz Ägyptenland staube und böse Blattern aufbrechen, an den Menschen und am Vieh in ganz Ägyptenland. Und Mose warf den Ruß gen Himmel. Da brachen auf böse Blattern an den Menschen und am Vieh, sodass die Zauberer nicht vor Mose treten konnten wegen der bösen Blattern; denn es waren an den Zauberern ebenso böse Blattern wie an allen Ägyptern."
So weit, so falsch. Zumindest wenn man es kleinlich nimmt, rein naturwissenschaftlich betrachtet, Gotteswerk einfach mal ausschließt und den Hebräisch-Übersetzer strikt beim Wort nimmt: Der böse Blattern-Erreger, das Variola-Virus VARV kommt natürlich, erstens, sicher nicht aus Ruß. Zweitens befällt die wählerische, für Menschen gefährliche Variante ausschließlich Homo sapiens, nie aber auch dessen Vieh. Die Sache mit den Ägyptern hat dann allerdings rein naturwissenschaftlich wieder einiges für sich: Erwiesenermaßen litten wirklich schon einige altägyptische Könige an Blattern, wie uns pockennarbige Mumien schon aus der Zeit um 1500 v. Chr. erzählen.
Yu Li von den Centers of Disease Control and Prevention in Atlanta und seine Kollegen wollten nun mit Hilfe molekularer Analytik nach Ursprung und Verbreitungswegen des uralten Erregers suchen – bevor es ihn überhaupt nicht mehr gibt. Denn zum Glück für die Menschheit rottete das Impfprogramm der Vereinten Nationen das Virus aus; seit 1980 existiert es offiziell nicht mehr in freier Wildbahn, sondern nur noch in Gendatenbanken.
Genautopsie zur Stammbauaufklärung
Solche plünderten Li und Co jetzt gründlich: Sie suchten sich genetische Proben von 47 Virusstämmen zusammen, die zwischen 1940 und 1977 in aller Herren Länder und Kontinente bei Pockenausbrüchen isoliert worden waren. Dieses Sammelsurium von Virus-DNA-Sequenzen verglichen sie untereinander, mit Tierpockenviren und mit nahen Verwandten des Erregers; etwa einer nur milde Pockensymptome auslösenden zentralafrikanischen Variante aus der Orthopox-Großfamilie. Anhand geringer Sequenzunterschiede, so genannter SNPs, stellten sie dann einen Virenstammbaum auf und versuchten anhand davon die Ausbreitungswege der Vorahnen einzugrenzen.
Schnell wurde eine grobe Zweiteilung der Pockenvirensippe deutlich: ein in Asien dominierender "VARV-major"-Stamm, der durch ein paar ost- und südafrikanische Untergrüppchen komplettiert wird (Stamm P-I) unterscheidet sich deutlich von einem südamerikanisch-westafrikanischen Verwandtschaftsstrang (Stamm P-II). Irgendwann haben diese beiden Stämme offensichtlich alle anderen Pockenvarianten verdrängt, so es diese zuvor überhaupt schon gab.
Mit dieser Verwandtschaftsanalyse waren nun zwar die inneren Familienverhältnisse einigermaßen aufgeklärt, es bleibt aber unklar, wann welcher Sippenstrang wo entstanden war. Beide Arme haben als engsten gemeinsamen Vorfahren einen Gerbile befallenden Tierpockenerreger, der heute noch in Westafrika sein Unwesen treibt. Herauszufinden, wann dieser gemeinsame Virenahne aber zur humanpathogenen Variante wurde und wo, erfordert diffizile und teilweise spekulative Puzzlearbeit, für die Li und Co nun zwei unvereinbare, aber gleich wahrscheinliche Lösungsvorschläge präsentieren.
Ursprung Afrika ...
Für beide Varianten nehmen die Forscher an, dass kurz nach der Entstehung der beiden unterschiedlichen Humanpocken in der entsprechenden Region ein historischer Ausbruch der Krankheit gemeldet sein muss. Zunächst zu Variante eins – dem Out-of-Africa-Modell. Ein vor 250 Jahren in Afrika gemeldeter Pockenausbruch mag in diesem Fall der erste gewesen sein, der von der frischgebackenen süd/ostafrikanischen Pockenvariante P-II verantwortet wurde. Setzt man diesen Zeitpunkt als einen ein, an dem P-I und -II sich schon vollständig genetisch auseinander entwickelt hatten, dann hätten sie sich, rückgerechnet, vor wohl knapp 1500 Jahren begonnen zu teilen; die große Linie der human- und tierpathogenen Formen müsste vor rund 16 000 Jahren auseinander gegangen sein.
Spannend sind die jüngeren historischen Konsequenzen aus dieser Überlegung: Der P-I-Stamm, der heute großflächig dominiert, kann dann allerfrühestens vor gut 400 Jahren begonnen haben, sich von Afrika aus global zu verbreiten. Das würde eine große Merkwürdigkeit der Medizingeschichte erklären – die Tatsache, dass sich in der sonst so reichhaltigen Medizinliteratur der alten Griechen und Römer tatsächlich keinerlei Hinweise auf die Kenntniss der Pocken finden lässt: Die gefährlichen, gerade neu entstandenen P-I-Erfolgsmodelle der Pockeninvasoren waren schlicht noch nicht im Abendland angekommen.
Könnte passen. Andererseits sprechen viele Gründe aber auch für die zweite Variante der Pocken-Familiensaga, die Li und Kollegen anbieten. Für diese gehen die Wissenschaftler davon aus, dass die allerersten gesicherten historischen Berichte über Pockenfälle schon von einer modernen Variante ausgelöst wurden – einer Blattern-Epidemie, die vor 1600 Jahren in China dokumentiert wurde.
... oder doch Asien?
In Ost-Asien – ja ohnehin schon früher als Entstehungsort der heutigen Viren favorisiert – dominiert heute der Stamm P-I; er müsste sich, damit die genetischen Daten übereinstimmen, bereits vor rund 6300 Jahren aus einem gemeinsamen humanpathogenen Ur-Stamm entwickelt haben, der seinerseits vor schon 65 000 Jahren aus der tierpathogenen Urform entstanden war. Auf seinem verheerenden globalen Zug durchquerten in diesem Szenario die P-I-Pocken dann den Mittleren Osten und Indien und gelangten nach Afrika – wo tatsächlich überall zu passender Zeit die erste Epidemien aufgezeichnet wurden.
Ein paar lieb gewonnene Anekdoten der Medizingeschichte wird man nun vielleicht dezent umarbeiten müssen – womit wir wieder bei der Bibel, den bösen Blattern und den Ägyptern angekommen sind: Zur Zeit der alten Reiche mögen sich vielleicht tatsächlich ein paar aus kriegerischen Gründen weit herumgekommene Herrscher an einer Exotenkrankheit angesteckt haben, die sie noch als Mumie verunstaltete. Am Nil selbst waren die Blattern zu ihren Lebzeiten wohl noch nicht die gefährliche Massenerkrankung, zu der sie einmal werden sollten – bevor sie dann in gemeinsamer globaler Anstrengung nach Jahrtausenden endlich in Gendatenbanken weggesperrt wurde. Zumindest die sechste der biblischen Plagen hat damit hoffentlich für immer ein Ende.
So weit, so falsch. Zumindest wenn man es kleinlich nimmt, rein naturwissenschaftlich betrachtet, Gotteswerk einfach mal ausschließt und den Hebräisch-Übersetzer strikt beim Wort nimmt: Der böse Blattern-Erreger, das Variola-Virus VARV kommt natürlich, erstens, sicher nicht aus Ruß. Zweitens befällt die wählerische, für Menschen gefährliche Variante ausschließlich Homo sapiens, nie aber auch dessen Vieh. Die Sache mit den Ägyptern hat dann allerdings rein naturwissenschaftlich wieder einiges für sich: Erwiesenermaßen litten wirklich schon einige altägyptische Könige an Blattern, wie uns pockennarbige Mumien schon aus der Zeit um 1500 v. Chr. erzählen.
Zu der damaligen Zeit hatte das Variola-Virus sich offenbar schon auf den Weg gemacht, die Welt zu erobern, ermittelten schon früh Forscher, die sich für die globale Evolutionsgeschichte des Pockenerregers interessierten. Sie förderten Textpassagen aus medizinhistorischen Aufzeichnungen zu Tage, die typische Pockensymptome schon im China des 12. und Indien des 15. Jahrhunderts v. Chr. belegen könnten. Einiges deutete darauf hin, dass der erste humanpathogene Pocken-Virusstamm ein Ost-Asiate war – sicher ist dies indes nicht.
Yu Li von den Centers of Disease Control and Prevention in Atlanta und seine Kollegen wollten nun mit Hilfe molekularer Analytik nach Ursprung und Verbreitungswegen des uralten Erregers suchen – bevor es ihn überhaupt nicht mehr gibt. Denn zum Glück für die Menschheit rottete das Impfprogramm der Vereinten Nationen das Virus aus; seit 1980 existiert es offiziell nicht mehr in freier Wildbahn, sondern nur noch in Gendatenbanken.
Genautopsie zur Stammbauaufklärung
Solche plünderten Li und Co jetzt gründlich: Sie suchten sich genetische Proben von 47 Virusstämmen zusammen, die zwischen 1940 und 1977 in aller Herren Länder und Kontinente bei Pockenausbrüchen isoliert worden waren. Dieses Sammelsurium von Virus-DNA-Sequenzen verglichen sie untereinander, mit Tierpockenviren und mit nahen Verwandten des Erregers; etwa einer nur milde Pockensymptome auslösenden zentralafrikanischen Variante aus der Orthopox-Großfamilie. Anhand geringer Sequenzunterschiede, so genannter SNPs, stellten sie dann einen Virenstammbaum auf und versuchten anhand davon die Ausbreitungswege der Vorahnen einzugrenzen.
Schnell wurde eine grobe Zweiteilung der Pockenvirensippe deutlich: ein in Asien dominierender "VARV-major"-Stamm, der durch ein paar ost- und südafrikanische Untergrüppchen komplettiert wird (Stamm P-I) unterscheidet sich deutlich von einem südamerikanisch-westafrikanischen Verwandtschaftsstrang (Stamm P-II). Irgendwann haben diese beiden Stämme offensichtlich alle anderen Pockenvarianten verdrängt, so es diese zuvor überhaupt schon gab.
Mit dieser Verwandtschaftsanalyse waren nun zwar die inneren Familienverhältnisse einigermaßen aufgeklärt, es bleibt aber unklar, wann welcher Sippenstrang wo entstanden war. Beide Arme haben als engsten gemeinsamen Vorfahren einen Gerbile befallenden Tierpockenerreger, der heute noch in Westafrika sein Unwesen treibt. Herauszufinden, wann dieser gemeinsame Virenahne aber zur humanpathogenen Variante wurde und wo, erfordert diffizile und teilweise spekulative Puzzlearbeit, für die Li und Co nun zwei unvereinbare, aber gleich wahrscheinliche Lösungsvorschläge präsentieren.
Ursprung Afrika ...
Für beide Varianten nehmen die Forscher an, dass kurz nach der Entstehung der beiden unterschiedlichen Humanpocken in der entsprechenden Region ein historischer Ausbruch der Krankheit gemeldet sein muss. Zunächst zu Variante eins – dem Out-of-Africa-Modell. Ein vor 250 Jahren in Afrika gemeldeter Pockenausbruch mag in diesem Fall der erste gewesen sein, der von der frischgebackenen süd/ostafrikanischen Pockenvariante P-II verantwortet wurde. Setzt man diesen Zeitpunkt als einen ein, an dem P-I und -II sich schon vollständig genetisch auseinander entwickelt hatten, dann hätten sie sich, rückgerechnet, vor wohl knapp 1500 Jahren begonnen zu teilen; die große Linie der human- und tierpathogenen Formen müsste vor rund 16 000 Jahren auseinander gegangen sein.
Spannend sind die jüngeren historischen Konsequenzen aus dieser Überlegung: Der P-I-Stamm, der heute großflächig dominiert, kann dann allerfrühestens vor gut 400 Jahren begonnen haben, sich von Afrika aus global zu verbreiten. Das würde eine große Merkwürdigkeit der Medizingeschichte erklären – die Tatsache, dass sich in der sonst so reichhaltigen Medizinliteratur der alten Griechen und Römer tatsächlich keinerlei Hinweise auf die Kenntniss der Pocken finden lässt: Die gefährlichen, gerade neu entstandenen P-I-Erfolgsmodelle der Pockeninvasoren waren schlicht noch nicht im Abendland angekommen.
Könnte passen. Andererseits sprechen viele Gründe aber auch für die zweite Variante der Pocken-Familiensaga, die Li und Kollegen anbieten. Für diese gehen die Wissenschaftler davon aus, dass die allerersten gesicherten historischen Berichte über Pockenfälle schon von einer modernen Variante ausgelöst wurden – einer Blattern-Epidemie, die vor 1600 Jahren in China dokumentiert wurde.
... oder doch Asien?
In Ost-Asien – ja ohnehin schon früher als Entstehungsort der heutigen Viren favorisiert – dominiert heute der Stamm P-I; er müsste sich, damit die genetischen Daten übereinstimmen, bereits vor rund 6300 Jahren aus einem gemeinsamen humanpathogenen Ur-Stamm entwickelt haben, der seinerseits vor schon 65 000 Jahren aus der tierpathogenen Urform entstanden war. Auf seinem verheerenden globalen Zug durchquerten in diesem Szenario die P-I-Pocken dann den Mittleren Osten und Indien und gelangten nach Afrika – wo tatsächlich überall zu passender Zeit die erste Epidemien aufgezeichnet wurden.
"... werfe ihn vor dem Pharao gen Himmel, dass er über ganz Ägyptenland staube und böse Blattern aufbrechen ..."
(Exodus 9,8)
Beide Ausbreitungsmodelle haben ihren Charme – und ihre Schwächen, besonders dort, wo es ins Detail geht, geben die Wissenschaftler zu. Zumindest scheint relativ sicher zu sein, dass sich die noch im 20. Jahrhundert wütenden Pockenstämme schon seit längerer Zeit als gedacht auf den Weg durch die Welt gemacht hatten und frühere Varianten, die ähnliche, mildere Krankheiten verursacht hatten, großräumig verdrängen konnten. (Exodus 9,8)
Ein paar lieb gewonnene Anekdoten der Medizingeschichte wird man nun vielleicht dezent umarbeiten müssen – womit wir wieder bei der Bibel, den bösen Blattern und den Ägyptern angekommen sind: Zur Zeit der alten Reiche mögen sich vielleicht tatsächlich ein paar aus kriegerischen Gründen weit herumgekommene Herrscher an einer Exotenkrankheit angesteckt haben, die sie noch als Mumie verunstaltete. Am Nil selbst waren die Blattern zu ihren Lebzeiten wohl noch nicht die gefährliche Massenerkrankung, zu der sie einmal werden sollten – bevor sie dann in gemeinsamer globaler Anstrengung nach Jahrtausenden endlich in Gendatenbanken weggesperrt wurde. Zumindest die sechste der biblischen Plagen hat damit hoffentlich für immer ein Ende.
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