Multiple Sklerose: Die Langzeitfolgen viraler Infektionen
Für Epidemiologen gleicht es einer Schatzkammer, was das US-Verteidigungsministerium in einer weitläufigen Anlage in Silver Spring, Maryland, aufgebaut hat: Begehbare Gefrierkammern, jede von der Größe eines Basketballfelds, beinhalten 72 Millionen Fläschchen mit Blutserum. Wenn die Techniker auch nur 20 Minuten in diese Kammern von minus 30 Grad gehen, ziehen sie einen Wintermantel und Handschuhe an. Die Flaschen, die sie dann herausbringen, bergen ungeahnte Reichtümer für die Forschung. Für Alberto Ascherio, einen Epidemiologen an der Harvard T. H. Chan Medial School in Boston, Massachusetts, enthielten sie ein seltenes Geschenk: Sie halfen ihm, den Wurzeln multipler Sklerose (MS) auf die Spur zu kommen. Im Lauf der Krankheit greift das Immunsystem die Nervenzellen der Betroffenen an.
Forschende vermuteten schon seit Längerem einen Zusammenhang zwischen MS und dem Epstein-Barr-Virus (EBV). Aber es war schwierig, eine eindeutige Verbindung herzustellen – teilweise, weil fast jeder Mensch sich irgendwann mit EBV infiziert. Meistens verläuft eine Infektion aber harmlos. Die Proben in den Gefrierkammern des Verteidigungsministeriums boten eine einmalige Gelegenheit, diese Zusammenhänge zu erforschen. Nachdem er die Daten und Proben von mehr als zehn Millionen Angehörigen der Armee seit 1993 analysiert hatte, fand Ascherio heraus, dass die Infektion mit EBV das Risiko einer MS um das 32-Fache erhöht.
»Ich habe noch nie einen so eindeutigen Zusammenhang gesehen«, sagt Ascherio. Rauchen erhöht das Risiko für Lungenkrebs um das 15- bis 30-Fache. Seine Ergebnisse, kombiniert mit neuen Erkenntnissen darüber, wie das Virus Hirnschäden auslöst, verbessern die Aussichten, MS behandeln und sogar verhindern zu können. Eine Phase-I-Studie mit einem EBV-Impfstoff ist im Gange, auch wenn es noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern wird, bevor größere Studien Aufschluss darüber geben, ob Impfstoffe MS vorbeugen können.
Der lange Schatten von Virusinfektionen
Diese Fortschritte kommen zu einer Zeit, in der Forscherinnen und Forscher mehr denn je daran interessiert sind, was Monate und Jahre nach einer Infektion mit einem Virus geschieht. Zwei Jahre nach Ausbruch der Corona-Pandemie sind viele Menschen mit den Langzeitfolgen einer Infektion mit Sars-CoV-2 konfrontiert. Die Besorgnis über Long Covid wächst sowohl in der Öffentlichkeit als auch bei den Gesundheitsbehörden. Geldgeber haben mehr als eine Milliarde US-Dollar in die Erforschung dieses nebulösen, postviralen Zustands investiert.
Schon lange versucht man, die Ursachen von MS zu verstehen. Dabei wird deutlich, wie schwierig es ist, die komplexen Beziehungen zwischen Infektionskrankheiten und den späteren chronischen Erkrankungen zu entwirren. Es scheint nur langsam voranzugehen, aber Katherine Luzuriaga, eine klinische Forscherin, spezialisiert auf Infektionskrankheiten von Kindern an der University of Massachusetts Chand Medical School in Worcester, vertraut auf den stetigen Fortschritt der Wissenschaft: »Da sich wissenschaftliche Methoden und Techniken weiterentwickeln, denke ich, dass wir viel mehr Einblicke in postvirale Folgen gewinnen werden.«
Seit mehr als einem Jahrhundert versuchen Forscher zu beweisen, dass verschiedene chronische Krankheiten ihre Wurzeln in einer Infektion haben. Der Nobelpreisträger und Mikrobiologe Barry Marshall ging sogar so weit, dass er eine Brühe aus den Bakterien Helicobacter pylori trank, um zu zeigen, dass sie chronische Magengeschwüre verursachen. Andere haben vermutet, dass selbst so komplexe Krankheiten wie die myalgische Enzephalomyelitis, das chronische Fatigue-Syndrom, oder Alzheimer mit bestimmten Krankheitserregern in Verbindung stehen. Aber Beweise sind schwer zu finden. In manchen Fällen könnte das daran liegen, dass mehrere Erreger und Faktoren im Spiel sind; in anderen, dass die Zusammenhänge schlicht nicht vorhanden sind. In diesem Jahr wurde der Nachweis, dass EBV MS verursachen kann, durch zweiStudien gestärkt.
Wieso lösen Viren bei manchen Menschen eine Autoimmunerkrankung aus?
Die Autoimmunerkrankung MS betrifft weltweit etwa 2,8 Millionen Menschen. Das Immunsystem greift hierbei die Nerven im Gehirn und Rückenmark an, indem es die schützende Myelinscheide ablöst. Das kann mit Müdigkeit, Taubheit, Schmerzen, Verlust der Sehkraft und Depressionen einhergehen. Diese Symptome verschlimmern sich über die Zeit und können zu Behinderungen und einer verkürzten Lebenserwartung führen. Medikamente verlangsamen das Fortschreiten der Krankheit, können aber die Symptome nicht vollständig verhindern.
Mehrere Faktoren scheinen das Immunsystem fehlzuleiten und die Erkrankung voranzutreiben. Die geografische Verteilung der Fälle und andere Daten legen nahe, dass der Mangel an Sonnenschein und an Vitamin D eine Rolle spielen. Genetische Faktoren erhöhen das Risiko zumindest ein wenig. EBV, zuerst 1964 entdeckt, steht ebenfalls mindestens seit den 1970er Jahren im Verdacht, Auslöser zu sein.
EBV ist überall: Mehr als 95 Prozent der Erwachsenen tragen das Virus in sich. Die meisten Infektionen verursachen keine Symptome, können aber eine Krankheit namens infektiöse Mononukleose auslösen. Niemand kann das Virus vollständig loswerden. Dennoch entwickelt nur ein kleiner Anteil der Menschen MS – 0,2 Prozent in Großbritannien zum Beispiel. Dies stellt die Forscher vor ein Rätsel: Wie kann man beweisen, dass ein nahezu allgegenwärtiges Virus nur in wenigen Unglücklichen eine Autoimmunerkrankung auslöst?
Der epidemiologische Ansatz von Ascherio bestand darin, den Status der MS- und EBV-Erkrankungen von Militärrekruten zu verfolgen – und das anhand ihrer Krankenakten und der vom Verteidigungsministerium aufbewahrten Blutserum-Proben. Sein Team und er ermittelten 955 Personen, bei denen während ihrer Zeit beim Militär MS diagnostiziert wurde, wie sie im Fachblatt »Science« schreiben. Alle bis auf einen hatten sich bis zum Zeitpunkt ihrer MS-Diagnose mit dem Virus infiziert – eine Rate von 97 Prozent. Im Gegensatz dazu lag die Infektionsrate bei den Personen, die keine MS entwickelt hatten, bei 57 Prozent. Anschließend maß das Team die Konzentration eines Proteins namens Neurofilament Light Chain, eines Biomarkers, der eine Neurodegeneration anzeigt. Nach einer EBV-Infektion zeigten diejenigen, die daraufhin MS entwickelten, höhere Werte an Neurodegeneration als diejenigen, die die Krankheit nicht entwickelten.
»Uns allen wurde der Gedanke eingeimpft, dass ein Zusammenhang nicht eine Kausalität bedeutet. Okay, aber dann gib mir eine alternative Erklärung für die Daten«
Alberto Ascherio, Epidemiologe
Für Ascherio beweist die Analyse, dass das Virus die chronische Krankheit verursacht, selbst wenn mehr Arbeit nötig ist, um herauszufinden, warum nur ein Bruchteil der Infektionen zu MS führt. »Uns allen wurde der Gedanke eingeimpft, dass ein Zusammenhang nicht eine Kausalität bedeutet. Okay, aber dann gib mir eine alternative Erklärung für die Daten«, sagt er.
Eine mögliche alternative Erklärung ist, dass ein schwächelndes Immunsystem ein frühes Anzeichen für MS ist und dass virale Eindringlinge – einschließlich EBV – diese Gelegenheit nutzen. Ascherio gelang es allerdings nicht, Zeichen für andere Viren in den Serumproben zu finden. Kritiker von Marshall brachten ähnliche Argumente gegen seine Idee vor. Sie vermuteten, dass Geschwüre das Umfeld für eine Infektion mit H. pylori schaffen könnten und nicht umgekehrt. Bill Robinson, Leiter der Immunologie und Rheumatologie an der Stanford University in Kalifornien lehnte die EBV-MS-Hypothese zunächst aus diesem Grund ab: »Ich war sehr skeptisch, dass EBV beteiligt war«, sagt er. Nachdem er aber fünf Jahre eine Reihe immunologischer Techniken zur Untersuchung der Antikörper von Menschen mit MS angewendet hatte, vollzog er eine Kehrtwende.
Die so genannten B-Zellen des Immunsystems produzieren im Verlauf von EBV-Infektionen Antikörper gegen ein Protein des Virus, EBNA1. Dieses Protein weist zufällig einige strukturelle Ähnlichkeiten mit einem Protein im zentralen Nervensystem namens GlialCAM auf. Mit der Zeit beginnen einige B-Zellen, Antikörper zu bilden, die sowohl an EBNA1 als auch an GlialCAM binden. Das Ergebnis ist ein Beschuss der Neuronen aus den eigenen Reihen. Etwa 20 bis 25 Prozent der Menschen mit MS tragen diese schießwütigen Antikörper in sich, berichteten Robinson und seine Kollegen dieses Jahr in »Nature«.
Womöglich lässt sich multiple Sklerose verhindern
»Das ändert alles«, sagt Robinson. Die Kombination aus soliden epidemiologischen Daten und einer Erklärung zur Wirkweise ist ein überzeugendes Argument für die postvirale Theorie, sagt Paul Lieberman, Molekularvirologe am Wistar-Institut in Philadelphia, Pennsylvania. Er war schon vor der Veröffentlichung der jüngsten Daten überzeugt, aber sie »schoben die Nadel noch tiefer rein«, sagt er. Sie brachten ihre Ergebnisse also auf ein höheres Level. Der sicherste Weg, um Zweifler zu überzeugen, wäre der Nachweis, dass die Vorbeugung oder Behandlung von EBV MS verhindert. »Eine klinische Studie ist definitiv einen Versuch wert«, sagt Lieberman: »Es ist noch nicht ganz klar, wie man diese durchführt.«
Ein erster Schritt besteht darin, Wege zu finden, EBV in Schach zu halten. Im Januar beobachtete Luzuriaga, wie ein gesunder Freiwilliger einen sterilen Untersuchungsraum betrat, um an einem Versuch zu einem möglichen Impfstoffkandidaten teilzunehmen. Es ging um ein Vakzin namens mRNA-1189, hergestellt vom Biotechnologie-Unternehmen Moderna in Cambridge, Massachusetts. Moderna hoffte, auf den bisherigen Erfolg des Covid-19-Impfstoffs aufzubauen. mRNA-1189 beinhaltet den Code für vier EBV-Proteine, die das Immunsystem lehren könnten, sich gegen eine Infektion zu wehren. Ein anderer Impfstoffkandidat von Moderna, mRNA-1195, wurde entwickelt, damit das Immunsystem das Virus bei jenen Menschen kontrolliert, die es bereits in sich tragen. Zwei Impfstoffkandidaten von den US-Gesundheitsinstituten nähern sich ebenfalls der klinischen Erprobung.
»Das ist ungeheuer spannend«, sagt Luzuriaga, die leitende Forscherin der mRNA-1189-Studie. Das Ziel der ersten Versuche ist es, zu zeigen, dass die Impfstoffe sicher sind und die Belastung durch eine infektiöse Mononukleose verringern können. Dieser Infekt, auch bekannt als Mono, Drüsenfieber oder Kusskrankheit, kann Symptome wie extreme Müdigkeit und Fieber verursachen und betrifft 30 bis 50 Prozent der Menschen, die sich erstmals als Teenager oder junge Erwachsene mit EBV infizierten.
Studiendesign ist ein schier unlösbares Problem
Es wird viel schwerer zu beweisen sein, dass EBV-Impfstoffe einen Vorteil gegen MS bringen. Jeffrey Cohen, Leiter des Labors für Infektionskrankheiten am National Institute of Allergy and Infectious Diseases in Bethesda, Maryland, schätzt, dass für eine entsprechende Studie zehntausende junge Erwachsene bis zu zehn Jahre beobachtet werden müssten. Auf Grund der Allgegenwärtigkeit des Virus würde sogar die Auswahl von noch nicht an EBV Erkrankten ein logistisches Problem darstellen.
Eine Präventionsstudie, die mit der Impfung von Säuglingen beginnt, würde die Auswahl erleichtern oder eine Trennung in verschiedene Gruppen unnötig machen, sagt Ruth Dobson, Neurologin an der Queen Mary University in London. Aber MS tritt typischerweise im Alter zwischen 20 und 40 auf. Die Wissenschaftler würden Jahrzehnte auf die Ergebnisse warten. »Ich bräuchte unendlich viel Geld und Nachuntersuchungen, um diese Studie durchzuführen«, sagt sie.
»Ich bräuchte unendlich viel Geld und Nachuntersuchungen, um diese Studie durchzuführen«
Ruth Dobson, Neurologin
Für Cohen ist der wahrscheinlichste Weg, um belastbare Daten zur MS-Prävention zu erhalten, auf die Zulassung eines EBV-Impfstoffs zu warten. Damit könnte gegen infektiöse Mononukleose vorgebeugt, aber auch geschaut werden, ob die Empfänger des Impfstoffs MS entwickeln. Im Durchschnitt dauert es etwa zehn Jahre, bis ein Vakzin alle klinischen Studien hinter sich hat. Nach der Zulassung würde es noch viele Jahre dauern, um die Daten zu sammeln. Gesundheitsinstitutionen wie die US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA) müssen möglicherweise nach der Zulassung Studien vorschreiben; andernfalls hätten Unternehmen kaum Anreize, die Daten zu erheben: »Das ist eine sehr wichtige Lehre«, sagt Cohen.
Im besten Fall werden Impfstoffe eine lang anhaltende Immunität garantieren, die die Infektion gänzlich verhindert. Vakzine gegen humane Papillomviren verhindern so Gebärmutterhalskrebs. Aber bisherige EBV-Impfstoffkandidaten haben dieses Level noch nicht erreicht (dasselbe gilt für Covid-19-Impfstoffe, die zwar den Schweregrad der Krankheit verringern, aber nicht eine Infektion mit Sars-CoV-2 verhindern).
Teilweise gegen EBV schützende Impfstoffe könnten immer noch MS vorbeugen, sagt Robinson, aber ihr Erfolg wird davon abhängen, welche nachgeschalteten Effekte die Infektion auslöst. Löst ein einzelner Infekt schon die Probleme aus oder sind die Virusmenge und das langfristige Überdauern der Krankheitserreger entscheidend? Für EBV-MS und viele andere vermutlich postvirale Erkrankungen sind dies offene Fragen mit großer Tragweite.
Ein antivirales Abenteuer
Wenn die Viruslast und das Überdauern eine Rolle spielen, sind antivirale Medikamente eine weitere gute Möglichkeit, um postvirale Beschwerden zu verhindern. Antivirale Mittel, die zum Beispiel Hepatitis-C-Viren beseitigen, haben auch dazu beigetragen, die Belastung durch chronische Lebererkrankungen zu verhindern, die das Virus verursachen kann.
Aber damit das funktioniert, müssen antivirale Mittel hervorragend funktionieren. Im Moment ist noch keines mit ausreichender Stärke zugelassen, um EBV abzutöten. »Wir haben kein echtes antivirales Medikament, das auf die mit EBV infizierten Zellen abzielt«, sagt Cohen. Ein paar Medikamente verlangsamen die Vervielfältigung des Virus, fügt er hinzu, aber nicht in dem Maß, um es aus dem Körper zu entfernen oder den klinischen Verlauf der Mononukleose zu verändern.
Dies könnte daran liegen, dass das Virus zwei Phasen in seinem Lebenszyklus aufweist: eine lytische Phase, in welcher es sich rasant vermehrt, und eine latente Phase, in der es sich vor dem Immunsystem versteckt. Latente Viren sind offensichtlich kaum abzutöten. Es ist schwer, die virale Maschine zu zerstören, wenn sich die Zahnräder kaum noch drehen.
»Ich würde nicht sagen, dass es einfach sein wird«, sagt Lieberman, der antivirale Medikamente entwickelt, die auf das EBNA1 abzielen, um das latente Virus auszuschalten. Wenn die Forschung die Beiträge beider Phasen entschlüsseln kann und wie das latente Virus reaktiviert wird, könnte dies neue Türen öffnen. Eine andere Strategie besteht darin, die Brutstätte des Virus zu zerstören: die B-Zellen. Atara Biotherapeutics in South San Francisco, Kalifornien, versucht dies mit ATA188, einer Therapie, die aus T-Zellen des Immunsystems entwickelt wurde, um die B-Zellen zu jagen und zu zerstören, die EBV beherbergen.
T-Zellen jagen B-Zellen
2022 läuft eine Phase-I/II-Studie mit Menschen mit fortgeschrittener MS, in der Hoffnung, den Verlauf der Krankheit zu verlangsamen. »Falls sie eine Wirkung sehen, bedeutet das, dass das Spiel beginnt«, sagt Robinson. Aber neurologische Krankheiten sind schwer zu behandeln, wenn schon eine Hirnschädigung besteht. T-Zell-Therapien sind vielleicht am besten, wenn sie in einem früheren Stadium der Krankheit eingesetzt werden. Aber sie sind eine neue Therapieform, verbunden mit Ungewissheiten – und somit ein unwahrscheinlicher Kandidat für eine groß angelegte Präventionsstudie.
Erin Longbrake, Neurologin an der Yale University in New Haven, Connecticut, überlegte sich, wie man ein Gleichgewicht zwischen der Notwendigkeit eines frühen Eingreifens und den möglichen Nebenwirkungen einer Behandlung herstellen kann. Die Therapie ihrer Wahl ist das von der FDA zugelassene MS-Medikament Ocrelizumab, das B-Zellen abtötet, um das gestörte Immunsystem wieder in Gang zu bringen. Es wurde nicht als Antivirusmittel entwickelt, aber es setzt zumindest einen Teil des EBV-Reservoirs außer Gefecht. Da es das Immunsystem schwächt, haben die behandelten Personen ein hohes Risiko für andere Infektionen. Somit ist es ein hoher Preis für jemanden, der nicht erkrankt ist. Also hat Longbrake nach denjenigen gesucht, die am meisten zu gewinnen haben: eine kleine Gruppe von Menschen mit geschädigten Hirnregionen, die denen von MS-Patienten ähneln, die aber keine der begleitenden Symptome haben. Solche Läsionen werden manchmal zufällig in einem Hirnscan entdeckt. Fast die Hälfte dieser Menschen werden innerhalb der nächsten zehn Jahre nach der Entdeckung MS entwickeln.
»Wenn Sie mir sagen würden, dass ich eine Fifty-fifty-Chance habe, MS zu bekommen, würde ich etwas dagegen tun wollen«, sagt Longbrake. Eine Studie, die untersucht, ob Ocrelizumab die Entwicklung von MS in 100 Menschen mit solchen Läsionen verlangsamen kann, sucht gerade nach Teilnehmern. Die Forschenden arbeiten auch daran, Menschen mit hohem Risiko für postvirale Komplikationen zu identifizieren.
Gut vorbereitet sein
Es könnte Jahrzehnte dauern, bis eine auf EBV gerichtete Intervention MS abwehren kann. Und obwohl Long Covid ein breites Interesse an den lang anhaltenden Auswirkungen einer Infektion geweckt hat, ist es aufwändig zu überprüfen, ob es eine Verbindung zwischen einem Virus und einer Krankheit gibt. Für Dobson ist der Schlüssel zum Erfolg gute Vorbereitung und Geduld. Ascherios Entdeckung wurde zum Beispiel durch die jahrzehntelange Sammlung von biologischen Proben des Verteidigungsministeriums ermöglicht – eine teure Methode, die Jahre braucht, um Erkenntnisse zu liefern.
»Biobanken sind wirklich aufwändig und unbeliebt. Aber wenn die harte Arbeit getan ist, dann liebt sie jeder«, sagt Dobson. Ähnliche Ressourcen zur Krankheitsdiagnose – die während der Pandemie gesammelt wurden – werden Erkenntnisse über die Langzeitfolgen anderer Viren liefern. Die Arbeit mit der UK Biobank hat schon gezeigt, wie das Sars-CoV-2-Virus die Gehirnstrukturen beeinträchtigen kann.
Für klinische Studien ist eine längere Betrachtung erforderlich, fügt sie hinzu. Für diese müsste man die richtigen Leute und Mittel zum Messen eines Erfolgs finden – dies ist bei einer Krankheit wie MS einfacher, die Ärzte präzise diagnostizieren und überwachen können, als bei Long Covid, das keine klare klinische Definition hat. Trotzdem sei es wichtig, sagt Dobson: »Wenn wir nicht anfangen, über diese Studien nachzudenken, werden wir in 15 bis 20 Jahren an derselben Stelle stehen.«
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