Viren unter Verdacht: Eine Impfung gegen Diabetes
Warum sind allergischer Schnupfen, Hautausschläge und Asthma im zurückliegenden Jahrhundert häufiger geworden? Ende der 1980er Jahre stellte der britische Epidemiologe David P. Strachan eine einfache und überraschende These dazu auf. Es liege daran, so Strachan, dass die Lebensbedingungen seit der industriellen Revolution immer besser geworden seien; insbesondere habe es einen drastischen Rückgang der Infektionen im frühen Kindesalter gegeben. Der Epidemiologe vermutete, der Kontakt mit Bakterien und Viren in den ersten Lebensjahren schütze vor späteren allergischen Erkrankungen – vorausgesetzt natürlich, die Kinder überlebten diese Infektionen.
Strachans Idee ist heute unter dem Namen Hygienehypothese bekannt. Obwohl sie sich ursprünglich nur auf allergische Reaktionen bezog, haben Forscher die Grundannahme, wonach das Fehlen bestimmter Umwelteinflüsse zu Gesundheitsproblemen führt, mittlerweile auch auf andere Erkrankungen übertragen. Dazu zählen Poliomyelitis (Kinderlähmung), multiple Sklerose und Diabetes Typ 1. Zahlreiche epidemiologische Studien belegen, dass solche Komplikationen umso häufiger wurden, je weiter die Industrialisierung fortschritt. Wo immer die Infektionsrate im Kindesalter (und damit die Kindersterblichkeit) sank, tauchten bestimmte Erkrankungen, die zuvor selten gewesen waren, zunehmend öfter auf – wenn auch nicht überall in gleichem Maß.
Im Fall der Kinderlähmung gab es die ersten größeren Ausbrüche im späten 19. Jahrhundert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdoppelte sich mancherorts die Neuerkrankungsrate der multiplen Sklerose. Bei dieser immunologisch bedingten Reaktion greift das Immunsystem die Markscheiden von Nervenzellen an, was zu schweren Behinderungen führen kann. Diabetes Typ 1 ist (zumindest in der immunologischen Form) ebenfalls eine Autoimmunerkrankung, bei der der Körper die Insulin produzierenden Betazellen der Langerhans-Inseln in der Bauchspeicheldrüse zerstört. Die Krankheit verbreitete sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst langsam, ab den 1950er Jahren dann dramatisch.
Diabetes breitet sich dramatisch aus
Auf welche Weise der Kontakt mit Viren oder Bakterien vor derart unterschiedlichen Krankheiten schützt, ist bis heute ungeklärt. Anscheinend lernt der sich entwickelnde Organismus im Zuge solcher Infektionen, wie er mit Erregern umzugehen hat. Möglicherweise verleitet ihn das Fehlen körperfremder Eindringlinge sogar dazu, sich selbst zu attackieren. Inzwischen hat die Forschung zahlreiche Hinweise darauf geliefert, dass Enteroviren – eine wichtige Gruppe von Krankheitserregern – an der Zunahme von Poliomyelitis- und Diabetes-Typ-1-Fällen beteiligt sind.
Im Gegensatz zum viel weiter verbreiteten Diabetes Typ 2, der häufig mit Ernährung und Übergewicht assoziiert ist und oft erst im Erwachsenenalter auftritt, prägt sich Typ-1-Diabetes vielfach schon bei unter 20-Jährigen aus. Wir experimentierten mit Mäusen, die dazu neigen, spontan diesen Diabetestyp zu entwickeln, und förderten dabei einen komplexen Mechanismus zu Tage. Unseren Daten zufolge können dieselben Enterovirenstämme die Krankheit sowohl verhindern als auch fördern – je nachdem, in welchem Alter das Tier damit infiziert wird. Sollte das bei Menschen ebenfalls zutreffen, könnte ein Impfstoff, der auf solchen Viren basiert, möglicherweise zahlreiche Personen vor Diabetes Typ 1 schützen.
Wir begannen unsere Untersuchungen mit einer Grundsatzfrage ähnlich der, die Strachan einst aufwarf: Warum war diese Variante der Zuckerkrankheit früher so selten, und wieso stieg ihre Häufigkeit in den 1950er Jahren drastisch an? Schon in der Antike haben griechische, arabische, indische und chinesische Ärzte eine seltene Kombination von Symptomen beschrieben, bei der es sich nahezu sicher um Diabetes Typ 1 handelte: rascher Gewichtsverlust, abnorm starkes Durstgefühl und süß schmeckender Urin. Gestützt auf Angaben aus Heilanstalten und Krankenhäusern haben Forscher abgeschätzt, dass im frühen 20. Jahrhundert etwa 1 bis 2 von 100 000 unter 15-Jährigen daran litten. Heute liegt dieses Verhältnis in einigen Gegenden der USA bei 20 zu 100 000 und in Finnland bei mehr als 60 zu 100 000. Besonders erschreckend: Die Zahlen steigen weiter.
Diese Entwicklung verlief jedoch keineswegs geradlinig. Nach Jahren der langsamen Zunahme in einigen Ländern sprang die Neuerkrankungsrate für Typ-1-Diabetes in der Mitte des 20. Jahrhunderts plötzlich steil nach oben. Seither beobachten Epidemiologen weltweit ein durchschnittliches jährliches Wachstum zwischen 3 und 5 Prozent. Zwischen 1998 und 2010 nahm die Zahl neu auftretender Fälle pro Zeitraum (Inzidenz) um schockierende 40 Prozent zu!
Einem derart steilen Anstieg liegt höchstwahrscheinlich keine Veränderung im menschlichen Genpool zu Grunde, denn DNA mutiert nicht so rasch. Das individuelle Diabetes-Typ-1-Risiko hängt von zahlreichen Erbanlagen ab, die auf komplizierte Weise zusammenwirken. Soweit wir aus Untersuchungen wissen, hat sich die Häufigkeit genetischer Profile, die ein hohes Erkrankungsrisiko bergen, nicht verändert. Vielmehr leiden mehr und mehr Menschen an der Zuckerkrankheit, die auf Grund ihrer Erbanlagen eigentlich gar nicht dafür prädestiniert sind. Nur wenige Fälle lassen sich als rein genetisch bedingt klassifizieren. Diese und andere weltweit erhobene Befunde lassen stark vermuten, dass hier relativ neue Umwelteinflüsse am Werk sind.
Vieles deutet auf Viren hin
Welche Einflüsse das sein könnten, dazu sind über die Jahre viele Möglichkeiten in Betracht gezogen und wieder verworfen worden. Während Diabetes Typ 2 klar mit Ernährung und Übergewicht zusammenhängt, trifft das auf Typ-1-Diabetes nicht zu. Verblüffenderweise haben mehrere Studien ergeben, dass er mit zunehmendem Abstand zum Äquator immer häufiger auftritt. Könnte es vielleicht sein, dass ein Mangel an Vitamin D, das der Körper unter Einstrahlung von Sonnenlicht produziert, hier eine Rolle spielt? Diese Idee erwies sich rasch als unzutreffend – unter anderem deshalb, weil Diabetes Typ 1 in manchen Regionen Finnlands mit höherer Sonneneinstrahlung häufiger auftritt als in sonnenärmeren Gebieten.
Vieles deutet stattdessen auf einen viralen Auslöser hin, und zwar vermutlich auf ein oder zwei Virenspezies, die in Abwasser oder in verunreinigtem Trinkwasser auftreten. Zahlreiche Studien legen nahe, dass es sich hierbei um Enteroviren handelt – so bezeichnet, weil sie normalerweise im Darm (altgriechisch »énteron«) vorkommen. Einige Enteroviren können sich in der Bauchspeicheldrüse vermehren und dabei in Geweberegionen nahe den Insulin produzierenden Inselzellen Entzündungen auslösen. Das lockt autoreaktive T-Lymphozyten an, die die Inselzellen angreifen und deren Fähigkeit zerstören, Insulin zu bilden. Die Folge: Diabetes.
Heute sind mehr als 100 Subtypen von Enteroviren bekannt. Keiner davon scheint allein für die weltweite Zunahme der Diabeteshäufigkeit verantwortlich zu sein. Vielmehr haben Wissenschaftler mehrere Kandidaten hierfür identifiziert, allen voran sechs Subtypen, die als Coxsackie-B-Viren bezeichnet werden. Allerdings ist nicht genau geklärt, wie Infektionen mit diesen Erregern den Körper dazu veranlassen, sich selbst zu attackieren. Der Prozess muss kompliziert sein, denn epidemiologischen Studien zufolge treiben bestimmte Enterovirussubtypen die Erkrankung nicht nur voran, sondern können auch vor ihr schützen.
Als wir darüber nachdachten, mit welchen Experimenten wir Diabetes Typ 1 verursachenden Enteroviren auf die Spur kommen könnten, nahmen wir zunächst eine andere Krankheit ins Visier, nämlich die Kinderlähmung. Sie wird von Polioviren ausgelöst, die ebenfalls zu den Enteroviren zählen. Polioviren scheinen schon seit Jahrtausenden zu existieren, denn eine antike ägyptische Stele, die heute in einem Kopenhagener Museum ausgestellt ist, zeigt ganz offensichtlich einen Poliomyelitispatienten. Die schrecklichen Symptome, etwa schwere Lähmungen und deformierte Gliedmaßen, wurden lange Zeit recht selten beschrieben. Im späten 19. Jahrhundert jedoch änderte sich das: Zunächst kam es zu sporadischen, später zu jährlich ausbrechenden Epidemien. Im 20. Jahrhundert tötete die Kinderlähmung zehntausende Kinder und verursachte schwere Behinderungen bei Millionen anderen. Noch im Jahr 1988 trugen täglich rund 1000 Kinder schwere Schäden infolge einer Polioinfektion davon. Dank einer massiven Impfkampagne kursiert die Krankheit heute nur noch in drei Ländern.
Welche Rolle spielt die Hygiene?
Die Hygienehypothese hilft, den plötzlichen Anstieg der Poliomyelitisfälle zu erklären. Wir vergessen oft, dass viele Annehmlichkeiten des heutigen Alltags in den entwickelten Ländern erst seit etwa 100 Jahren existieren. Bevor es in Europa und Nordamerika eine flächendeckende kommunale Wasserversorgung gab, entnahmen die Menschen das Wasser aus Quellen, Teichen sowie öffentlichen Brunnen und benutzten es oft direkt vor Ort – nicht bloß zum Trinken, sondern auch zur Körperpflege und zum Waschen von Kleidung. Trinkwasser war daher oft mit menschlichem oder tierischem Unrat verschmutzt. Der Mangel an fließendem Wasser und Seife brachte es zudem mit sich, dass sich die Menschen nach dem Toilettengang wesentlich seltener die Hände wuschen als heute. Beim Zubereiten von Mahlzeiten oder beim Händeschütteln wurden Krankheitskeime daher zahlreich und weitläufig verbreitet.
Fast jeder war deshalb von Beginn seines Lebens an Polioviren ausgesetzt, die über menschliche Fäkalien in die Umwelt gelangt waren. Neugeborene erkrankten dennoch meist nicht, denn ihre Mütter waren immunisiert und gaben ihren Schutz über Antikörper an den Nachwuchs weiter – sowohl während der Schwangerschaft an den Fötus als auch beim Stillen an das Baby. Als die Kinder abgestillt waren, ging der Schutz durch die mütterlichen Antikörper allmählich verloren. Die Kinder bildeten nun eigene Antikörper gegen das Poliovirus aus, da sie immer wieder mit ihm in Kontakt kamen. Obwohl die Erreger also praktisch allgegenwärtig waren, erkrankten nur wenige Menschen an Kinderlähmung, weil sie erst von den mütterlichen und dann von ihren eigenen Antikörpern geschützt wurden.
Dieser Mechanismus, der wohl schon seit Jahrtausenden am Werk gewesen war, begann zu versagen, als die Hygiene Einzug hielt. In einer weitgehend sauberen Umgebung aufwachsend, kamen viele Kinder zunächst nicht mit Polioviren in Berührung. Wenn sie später im Leben doch einmal damit infiziert wurden, hatten sie deshalb keinen Immunschutz und liefen Gefahr, schwer zu erkranken. Etwa eine von 100 bis 200 Infektionen nimmt einen so genannten paralytischen Verlauf mit Lähmungserscheinungen. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt, der im Alter von 39 Jahren an paralytischer Poliomyelitis erkrankte, als er Ferien auf einer Insel in New Brunswick machte.
Polio als Vorbild?
Zum Glück gibt es heute einen Impfstoff gegen die Kinderlähmung, der sich als sicher und ungemein wirkungsvoll erwiesen hat. Er bewahrte zahllose Kinder vor gravierenden Gesundheitsschäden. Wenn es aber möglich ist, eine Vakzine gegen das Poliovirus zu entwickeln, warum sollte das nicht auch bei anderen Enteroviren gelingen? Falls sich der Verdacht erhärtet, dass Diabetes Typ 1 von solchen Erregern verursacht wird, würde sich damit eine neue Behandlungsoption eröffnen: ein Impfstoff gegen die Zuckerkrankheit nämlich, der Menschen mit besonders hohem Infektionsrisiko schützt.
Das Poliovirus können wir übrigens als Ursache von Typ-1-Diabetes ausschließen. Obwohl Poliomyelitisepidemien im 20. Jahrhundert oft auftraten, gab es keine zeitlich dazu passende Zunahme von Diabetes Typ 1. Zudem ist die Zuckerkrankheit in diversen Ländern weiter auf dem Vormarsch, obwohl dort die Kinderlähmung mittlerweile ausgerottet ist.
Wenn man nachweisen will, dass ein Virus eine bestimmte Krankheit verursacht, ist es das Beste, den Erreger zunächst aus erkranktem Gewebe zu isolieren – im Fall des Typ-1-Diabetes also aus der Bauchspeicheldrüse. Allerdings stellt es eine große chirurgische Herausforderung dar, Gewebeproben aus dem Drüsenorgan zu gewinnen, weshalb Mediziner solche Eingriffe bei gesunden Menschen nur selten durchführen. Ferner ist es sehr schwierig, den richtigen Zeitpunkt für eine solche Probenentnahme abzupassen: Sie muss genau dann erfolgen, wenn das Immunsystem beginnt, die Bauchspeicheldrüse zu attackieren und die Inselzellen zu zerstören. Wenn der Diabetes sich bereits ausgeprägt hat und ärztlich diagnostiziert wird, sind für gewöhnlich alle Anzeichen einer aktiven Infektion verschwunden.
Trotz dieser Schwierigkeiten sind schon mehr als 40 Studien veröffentlicht worden, die überzeugend belegen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Anwesenheit verschiedener Enterovirentypen und dem Aufkommen eines Diabetes Typ 1. Dabei gelang es, entweder das Virus oder sein Erbgut aus der Bauchspeicheldrüse von Verstorbenen zu isolieren. Anderen Studien zufolge beeinflussen manche Enterovirusinfektionen auch den langfristigen Verlauf der Erkrankung.
Mäuse eines bestimmten Stamms mit der Bezeichnung »NOD« (für »non-obese diabetic«, zu Deutsch: zuckerkrank, aber nicht fettleibig) erkranken ohne jedes äußere Zutun an Diabetes Typ 1. Merkwürdigerweise geschieht das bei Tieren, die unter hygienischen Bedingungen gehalten werden, viel schneller als bei solchen, die in schmutzigen Käfigen leben. Wir vermuten, dass NOD-Mäuse bis zu einem gewissen Grad mit Menschen vergleichbar sind, die genetisch bedingt ein höheres Diabetesrisiko tragen. Dies macht die Nager zu geeigneten Modellorganismen, um den Zusammenhang zwischen Enteroviren und der Zuckerkrankheit zu erforschen. Begünstigend kommt hinzu, dass Coxsackie-B-Viren, die erwiesenermaßen am Entstehen von Diabetes Typ 1 mitwirken, sich gut in lebenden Mäusen vermehren.
Der Zusammenhang mit Enteroviren
Im Jahr 2002 infizierten wir sehr junge NOD-Mäuse mit Coxsackie-B-Viren, hielten sie sonst aber in steriler Umgebung. Es zeigte sich, dass die Tiere mit zunehmendem Alter deutlich seltener einen Typ-1-Diabetes ausprägten als nicht infizierte Kontrolltiere. Das stützte die These, wonach ein früher Kontakt mit den Erregern vor der Erkrankung schützen kann. Interessanterweise war dieser Effekt nicht auf bestimmte Typen der Coxsackie-B-Viren beschränkt, wenn auch manche eine stärkere Schutzwirkung zu vermitteln schienen als andere. Experimente eines Teams um den Virologen Heikki Hyöty von der Universität Tampere (Finnland) haben ähnliche Ergebnisse geliefert.
Drei Erklärungen kommen für diesen Effekt in Betracht. Erstens könnte die frühe Virusinfektion den Organismus dazu veranlassen, schützende Antikörper herzustellen, so dass ein späterer Kontakt mit denselben Enterovirentypen nicht zum Krankheitsausbruch führt. Auf diesem Mechanismus beruhen die Polio- und etliche weitere Impfungen, die Mediziner heute einsetzen. Zweitens: Weil Coxsackie-B-Viren vielen anderen Enteroviren molekular stark ähneln, könnte die Infektion mit ihnen dazu führen, dass die Immunreaktion gegen Enteroviren künftig schneller einsetzt – auch gegenüber solchen, mit denen der Körper noch nie in Berührung gekommen ist. Drittens könnte eine enterovirale Infektion die Bildung regulatorischer Immunzellen, so genannter T-Regs, stimulieren. Diese Zellen arbeiten wie eine Körperpolizei, indem sie schädliche Autoimmunreaktionen dämpfen.
Um herauszufinden, was davon zutrifft, infizierten wir Mäuse zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrem Leben und beobachteten sie anschließend mindestens 30 Wochen lang. Dabei kam heraus: Eine Coxsackie-B-Infektion von älteren NOD-Mäusen führt dazu, dass die Tiere häufiger an Diabetes Typ 1 erkranken – genau andersherum als bei jungen Mäusen.
Wir vermuten, dass bei den älteren Nagern die Bauchspeicheldrüse bereits entzündet gewesen war, die Inselzellen also schon unter Beschuss seitens körpereigener T-Lymphozyten standen. Die Enteroviren konnten die Inselzellen daher leichter infizieren und somit die Ausprägung des Diabetes beschleunigen. Anders ausgedrückt: Möglicherweise muss erst ein genetisch bedingter körpereigener Angriff auf die Bauchspeicheldrüse begonnen haben, bevor die Coxsackie-B-Viren den Diabetes wirkungsvoll triggern können. Je älter die Maus und je schwerer die Entzündung, umso schneller ginge das vonstatten. Tatsächlich hatten sich bei Versuchen mit besonders alten Mäusen oft schon ein bis zwei Tage nach der viralen Infektion die Diabetessymptome ausgebildet, während Kontrolltiere, die unter sterilen Bedingungen lebten, erst viel später erkrankten.
Ein Forscherteam um den Immunologen Matthias von Herrath am La Jolla Institute for Allergy and Immunology (Kalifornien) hat Belege dafür gefunden, dass Enterovirusinfektionen in einem frühen Lebensalter – bevor Autoimmunreaktionen eingesetzt haben – den Organismus zur Produktion von T-Regs anregen. Diese Zellen zirkulieren bis ins Erwachsenenalter im Körper, unterdrücken die Bildung Autoimmunreaktionen vermittelnder T-Lymphozyten und schützen so vor Typ-1-Diabetes. Ist die Bauchspeicheldrüse aber infolge von Autoimmunprozessen bereits entzündet, wie es bei den älteren NOD-Mäusen in unseren Experimenten wohl der Fall war, dann können die Viren offenbar leichter in die Inselzellen eintreten, sie zerstören und Diabetes auslösen. Es hängt mithin vom Alter der Nager ab, ob die Infektion mit den Erregern vor Diabetes schützt oder ihn begünstigt.
Vorausgesetzt, ähnliche Prozesse spielen sich bei Menschen ab, die genetisch bedingt zu Diabetes Typ 1 neigen – wie können wir diese Überlegungen dann nutzen, um ihnen zu helfen? Niemand wünscht sich die alten Zeiten mangelnder Hygiene zurück. Aber das ist auch gar nicht nötig. Die Erfahrungen mit dem Polioimpfstoff zeigen, dass die Entwicklung sicherer und wirksamer Enterovirusvakzine möglich ist.
Antivirale Impfstoffe gibt es grundsätzlich in drei Varianten: als abgeschwächten Lebendimpfstoff, als Totimpfstoff und als Toxoidimpfstoff. Lebendimpfstoffe wurden ursprünglich hergestellt, indem man das betreffende Virus zunächst bestimmte Zellen oder ein Wirtstier passieren ließ, wobei sich seine krank machende Wirkung abschwächte. Solche Vakzine erzeugen den stärksten Immunschutz, weil sich die aktiven Viren im Körper vermehren und eine normale Immunreaktion hervorrufen. Der Nachteil: Die Erreger können rasch mutieren und dabei wieder gefährlicher werden. Mit Hilfe der Gentechnik lassen sich heute bestimmte Bereiche im Virusgenom verändern oder herausschneiden, um die Wahrscheinlichkeit für ein solches Ereignis zu minimieren, doch ein Restrisiko bleibt. Bei den Totimpfstoffen werden die Viren inaktiviert, so dass sie sich nicht mehr vermehren können, aber immer noch eine gewisse Immunität vermitteln. Allerdings ist der Immunschutz schwächer, und die Impfung muss regelmäßig aufgefrischt werden, weil die inaktivierten Erreger im Körper nicht überdauern. Die Toxoidimpfstoffe schließlich sind eine Untergruppe der Totimpfstoffe; sie enthalten nur jene Teile eines Virus, von denen bekannt ist, dass sie das Immunsystem zur Produktion von Antikörpern anregen.
Wie aus den Studiendaten hervorgeht, wird Typ-1-Diabetes offensichtlich nicht nur von einem einzigen oder einigen wenigen Enterovirustypen getriggert. Ebenso wissen wir, dass die Krankheit historisch immer dann selten auftrat, wenn Enterovirustypen nahezu überall vorkamen. Deshalb sollte ein Mehrfachimpfstoff mit multiplen Enteroviren den besten Immunschutz vermitteln. Anfangs könnte man aus Sicherheitsgründen einen Totimpfstoff verwenden. Später ließe sich zwecks stärkerer Immunisierung ein stark abgeschwächter Lebendimpfstoff einsetzen.
Ein Impfstoff in Reichweite?
Eine solche Vakzine gegen Diabetes Typ 1 ist sogar schon in Entwicklung. Hyötys Team arbeitet zusammen mit dem finnischen Pharmaunternehmen Vachtec Oy an einem Impfstoff gegen einen einzelnen Coxsackie-B-Virus-Typ. Nachdem die Forscher untersucht haben, inwieweit sich damit Typ-1-Diabetes bei Mäusen verhindern lässt, soll der Totimpfstoff auf sichere Anwendbarkeit bei Erwachsenen geprüft werden. Bis man daraufhin testen kann, ob er Kinder vor Diabetes schützt, dürften noch mindestens zehn Jahre ins Land gehen. Angesichts dessen, dass wahrscheinlich etliche Enterovirenstämme daran mitwirken, die Krankheit auszulösen, bleibt nur zu hoffen, dass das Ziel richtig gewählt wurde, damit der Impfstoff die Häufigkeit von Diabetes Typ 1 tatsächlich deutlich senkt.
Darüber hinaus gibt es viele Bemühungen, die Symptome der Zuckerkrankheit einzudämmen, sobald sie ausgebrochen ist. Paolo Fiorina vom Boston Children's Hospital und seine Kollegen haben bei Mäusen gezeigt: Die Krankheit lässt sich zurückdrängen, indem man den Tieren Stamm- und Vorläuferzellen verabreicht, die mit Prostaglandinen behandelt wurden. Denn die Prostaglandinbehandlung führt dazu, dass die Zellen vermehrt das Molekül PD-L1 herstellen, das an der Hemmung der Immunantwort mitwirkt und somit Autoimmunreaktionen dämpfen kann. Eine andere Gruppe um Denise Faustman vom Massachusetts General Hospital untersucht, inwieweit ein Lebendimpfstoff gegen Tuberkulose namens Bacille Calmette-Guérin (BCG) auch gegen Diabetes wirkt. Mehrere Forschergruppen in den USA und in Großbritannien konzentrieren sich wiederum auf eine Immunisierung mit Hilfe von Proinsulin, einer Vorstufe von Insulin. Laut Arbeiten einer Gruppe um Mark Peakman vom King's College London, die 2017 veröffentlicht wurden, hilft ein Proteinfragment des Proinsulins bei einem neu diagnostizierten Typ-1-Diabetes. Alle zwei bis vier Wochen in die Haut der Patienten injiziert, verhindert das Proteinfragment, dass die Zerstörung der Inselzellen fortschreitet – offenbar, indem es die Immuntoleranz des Organismus verbessert und somit Autoimmunreaktionen entgegenwirkt.
In den USA diagnostizieren Ärzte jedes Jahr 40 000 neue Diabetes-Typ-1-Erkrankungen; in Deutschland sind es allein bei den unter 20-Jährigen jährlich bis zu 3700. Impfstoffe werden die Krankheit zwar niemals völlig ausrotten, denn einige Menschen bekommen sie offenbar allein auf Grund ihrer genetischen Veranlagung. Es bleibt daher wichtig, die Behandlungsmethoden weiterzuentwickeln und so die Lebensqualität von Patienten zu verbessern, die nicht mehr selbst Insulin herzustellen vermögen. Doch auch wenn nicht alle Betroffenen mit Impfstoffen geschützt werden können, wird eine effektive Vakzine dennoch sehr vielen Menschen ein besseres Leben ermöglichen. Millionen könnten profitieren, wenn es uns gelänge, die Krankheit wieder so selten zu machen, wie sie es einst war.
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