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Geobiochemie: Vitamin B für das Meer

In manchen Meeresgebieten wachsen so gut wie keine Algen, was Forscher vor ein Rätsel stellt. Nun haben Wissenschaftler einen möglichen Grund dafür gefunden: In den entsprechenden Regionen mangelt es an Vitamin B12. Dieses wird von Bakterien hergestellt, deren Einfluss auf die marine Flora und Fauna weitaus größer sein könnte als bisher angenommen.
Algenblüte in der Ostsee

Obwohl manche Meeresgebiete reich an Nährstoffen wie Stickstoff und Phosphat sind, wachsen dort paradoxerweise kaum Algen. Diese so genannten HNLC-(high nutrient low chlorophyll-)Gebiete liegen meist in den Tropen, vereinzelt auch in Polargebieten. Ein Mangel an Mikronährstoffen wie Eisen könnte ein Grund dafür sein, wohl aber nicht der einzige. "Es ist verrückt, dass wir nach 100 Jahren Forschung immer noch nicht genau verstehen, wodurch Algenblüten im Meer kontrolliert werden", klagt Sergio Sañudo-Wilhelmy von der University of Southern California in Los Angeles. Immerhin bietet er mit seinen Kollegen eine Erklärung an: In weiten Bereichen des Weltmeers herrsche Mangel an Vitaminen der B-Gruppe, die für das Wachstum von Algen essenziell seien.

Zu den B-Vitaminen gehören acht chemisch verschiedene Substanzen, die eines gemeinsam haben: Sie dienen Enzymen als Kofaktoren, ermöglichen es ihnen also, ihre jeweiligen Funktionen auszuüben. Vitamin B12 etwa produzieren nur wenige Mikroorganismen. Alle anderen Lebewesen, die es für ihren Stoffwechsel benötigen – darunter auch etwa die Hälfte der Algenarten –, müssen es aus äußeren Quellen beziehen. Aus diesem Grund hatten einige Wissenschaftler bereits 2006 postuliert, dass die Wachstumsdynamik von Phytoplankton, das aus verschiedenen Arten kleiner Algen besteht, von der Verfügbarkeit dieses B-Vitamins abhänge. Untersucht haben Forscher diesen Zusammenhang im antarktischen Rossmeer.

Dort gibt es zwar auch nicht viel Eisen, welches die meisten Organismen – ähnlich wie Vitamin B12 – mit der Nahrung aufnehmen müssen, da einige lebenswichtige Moleküle dieses Element enthalten. Trotzdem gilt das Rossmeer als eine der biologisch produktivsten Gegenden im Ozean. Hier wiesen Erin Bertrand und Kollegen 2007 nach, dass Bakterien sich nicht nur dann vermehrt teilen, wenn man ihnen Eisen gibt, sondern dass auch die Zufuhr von externem Vitamin B12 ihr Wachstum stimuliert [2]. Offensichtlich sind dort beide Nährstoffe begrenzt. Die Wissenschaftler vermuten, die im Rossmeer vorhandenen Vitamin B12-produzierenden Bakterien könnten nicht zur Höchstform auflaufen, wenn ihnen zu wenig Eisen zur Verfügung stehe. Zusätzlich stellten die Forscher fest, dass Algen aus dem betroffenen Gebiet mehr Vitamin B12 aufnahmen, wenn sie ihnen auch Eisen boten.

Neue Analytik erhärtet alte Vermutungen

Was bisher jedoch fehlte, um diese experimentellen Beobachtungen wirklich zu verstehen, waren Messwerte von Vitamin B12-Konzentrationen im Meer. Diese lieferten Sañudo-Wilhelmy und Kollegen nun in einer Studie, für die sie ein verbessertes Analyseverfahren entwickelt hatten [1]. Nachdem sie die Wasserproben aufkonzentriert hatten, konnten sie mittels Flüssigkeitschromatograf und Massenspektrometer die Vitamine B1, B2, B6, B7 und B12 noch bei Konzentrationen von unter einem Pikomol pro Liter messen. Als Untersuchungsgebiet wählten die Forscher eine rund 600 Kilometer lange Küstenregion vor Kalifornien und Mexiko. Es stellte sich heraus, dass die Konzentrationen der einzelnen Vitamine sowohl zwischen einzelnen Orten als auch von der Wasseroberfläche bis in mehrere hundert Meter Tiefe stark schwankten. Die jeweiligen Gradienten waren aber offenbar voneinander unabhängig, was dafür spricht, dass für die einzelnen Vitamine stets andere Produzenten und Konsumenten zum Zuge kommen. Das wichtigste Ergebnis: Die Konzentration einiger Substanzen – auch die von B12 – lag an vielen Stellen unter der Detektionsgrenze von weniger als einem Pikomol pro Liter. Weil gleichzeitig nur sehr geringe Mengen Chlorophyll in den Proben waren, lässt sich ausschließen, dass dieser Mangel mit einem großen Verbrauch der Vitamine durch das Phytoplankton zu erklären wäre. Im Gegenteil: In den betreffenden Bereichen dürften kaum Algen vorkommen, denn die meisten benötigen B12-Konzentrationen von mindestens sieben Pikomol pro Liter und können auch andere B-Vitamine nicht selbst herstellen.

Wie Bakterien das Algenwachstum beeinflussen

"Da die Mengen an Vitaminen, die von Algen benötigt werden, winzig sind, hat man bisher vermutet, dass im Meer davon überall ausreichend vorhanden ist. Seit Kurzem gibt es jetzt die eben publizierte Methode, um die Vitaminkonzentrationen im Meer tatsächlich zu bestimmen. Damit konnte man erstmals nachweisen, dass in großen Meeresgebieten Vitamin B-Mangel herrscht", erklärt Irene Wagner-Döbler, die am Helmholtz-Institut für Infektionsforschung in Braunschweig die Arbeitsgruppe "Mikrobielle Kommunikation" leitet. 2010 hatten Forscher unter ihrer Federführung das Genom des Vitamin B12-produzierenden marinen Bakteriums Dinoroseobacter shibae entschlüsselt. "Es könnte sein, dass wir bisher vollkommen unterschätzt haben, wie wichtig der Austausch von Vitaminen zwischen Bakterien und Algen für die Ökologie der Meere ist", merkt Wagner-Döbler an. Da man die genauen Konzentrationen der kritischen Substanzen erst mit Hilfe der neuen Analytik bestimmen kann, weiß bisher niemand, wie groß die Mangelgebiete im Meer wirklich sind und zu welchen Jahreszeiten sie auftauchen.

"Es könnte sein, dass wir bisher vollkommen unterschätzt haben, wie wichtig der Austausch von Vitaminen zwischen Bakterien und Algen für die Ökologie der Meere ist."Irene Wagner-Döbler

Wie beim Eisen liegt es auch bei den B-Vitaminen an natürlichen Ursachen, dass manche Gegenden so arm an diesen Nährstoffen sind. Trotzdem stellt sich unweigerlich die Frage, ob der Mensch, nachdem er diese Erkenntnis nun gewonnen hat, in das System eingreifen sollte. Kürzlich hatten Forscher 27 Algenarten, die in ihrer Blüte gefährliche Toxine produzieren, auf ihren Vitamin-B-Bedarf hin getestet. Bis auf eine benötigten alle eine äußere Quelle von Vitamin B12, 20 waren auf Vitamin B1 angewiesen und 10 auf Vitamin B7. Offenbar ist die Abhängigkeit dieser gefährlichen Arten von entsprechenden Nährstoffen größer als bei Algen mit harmlosen Blüten [3]. Könnte ein Mangel an B-Vitaminen im Meer also vielleicht sogar sein Gutes haben und davor schützen, dass nicht noch mehr toxische Algenblüten entstehen? Oder sollte man doch den Ozean künftig zusätzlich zum Eisen auch mit Vitamin B düngen, um das Phytoplankton zum Wachstum und damit zur vermehrten Umwandlung von CO2 in Biomasse anzuregen? "Per se kann man den Vitaminmangel weder als gut noch als schlecht bezeichnen", meint Wagner-Döbler zu diesen Fragen. "Bevor wir das im Einzelfall besser beurteilen können, müssen wir noch genauer untersuchen, in welchem Ausmaß die Zusammensetzung der Bakterienarten im Meer die Zusammensetzung der Algen beeinflusst." Um dies herauszufinden, möchte die Wissenschaftlerin zunächst die Genome einer größeren Anzahl an marinen Bakterien daraufhin untersuchen, ob sie B12 synthetisieren können. Die nächsten Schritte bestünden dann darin, herauszufinden, wo die B12-Produzenten genau vorkommen und wie stark sie das Wachstum einzelner Algenarten beeinflussen.

Vom Phytoplankton zu Küstenvögeln

Zudem beschränkt sich ihr Einfluss wohl nicht auf das Phytoplankton. Vieles spricht dafür, dass ein entsprechender Mangel in angrenzenden Meeresgebieten über die Nahrungskette auch Küstenvögel erreichen kann. So beobachtet man im baltischen Raum seit Anfang der 1980er Jahre immer häufiger Tiere mit Lähmungserscheinungen, die erst nur die Flügel betrafen und schließlich zum Tod führten. 2009 brachte ein Team aus schwedischen und isländischen Forschern diesen Befund mit einem Mangel an Vitamin B1 (Thiamin) in Verbindung [4], dessen Hauptproduzenten ebenfalls Bakterien sind. Die Wissenschaftler stellten fest, dass sich von den Symptomen betroffene Möwen nach einer Thiamininjektion im Lauf von 14 Tagen wieder vollständig erholten. Der Zustand von Vögeln, die keine Injektion erhalten hatten, verbesserte sich im Gegensatz dazu nicht. Darüber hinaus wiesen die Wissenschaftler nach, dass Eidotter, Gehirn und Leber von Möwen, Staren und Eiderenten an den Südküsten Schwedens und Finnlands signifikant weniger Thiamin enthielten als die entsprechenden Gewebe von Vögeln an der isländischen Küste. Werte für Vitamin B1-Konzentrationen in den entsprechenden Meeresgebieten hatten die Autoren dieser Studie leider nicht angegeben. Dennoch liegt die Vermutung nahe, dass die Mangelerscheinungen der südschwedischen Vögel durch einen niedrigen Gehalt des Vitamins in ihrer Nahrung zu Stande kam – welche zumindest bei Möwen und Eiderenten größtenteils marinen Ursprungs ist. Wenn sich mit Hilfe der von Sañudo-Wilhelmy entwickelten Analytik nachweisen lässt, dass im Baltischen Meer tatsächlich Vitamin B1-Mangel herrscht, hätte man dadurch weit mehr gewonnen als eine Lösung für das Paradoxon des ausbleibenden Algenwachstums in den HNLC-Gebieten: Die Rolle vitaminproduzierender Meeresbakterien müsste vollkommen neu definiert werden.

  • Quellen

[1] Sañudo-Wilhelmy, S. A. et al.:Multiple B-vitamin depletion in large areas of the coastal ocean. In: Proc. Natl. Acad. Sci. USA, 10.1073/pnas.1208755109, 2012

[2] Bertrand, E. M. et al.:Vitamin B12 and iron colimitation of phytoplankton growth in the Ross Sea. In: Limnol. Oceanogr. 52, S. 1079–1093, 2007

[3] Tang, Y. Z. et al.:Most harmful algal bloom species are vitamin B1 and B12 autotrophs. In: Proc. Natl. Acad. Sci. USA 107, S. 20756–20761, 2010

[4] Balk, L. et al.: Wild birds of declining European species are dying from a thiamine deficiency syndrome. In: Proc. Natl. Acad. Sci. USA 106, S. 12001–12006, 2009

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