Vogelgrippe: »Die Todeszahlen sind erschütternd und beispiellos«
Frau Bell, können Sie abschätzen, wie viele wilde Vögel schon durch den anhaltenden Ausbruch der Vogelgrippe getötet wurden?
Zweifellos sehr viele Millionen. Genaue Zahlen gibt es nicht. Denn wir wissen nicht, wie viele Seevögel unbemerkt im Meer versinken oder in entlegenen Gegenden verenden. Aber allein die unglaublich hohen Todesraten von Tieren, die vor unseren Augen sterben, sind erschütternd und beispiellos. Wir stehen einer Panzootie riesigen Ausmaßes gegenüber, einer Pandemie im Tierreich.
Könnte das Virus das Überleben ganzer Arten bedrohen?
Gut möglich. In Großbritannien brüten zum Beispiel 60 Prozent aller Skuas der Erde, drei Viertel davon sind seit dem Ausbruch der jetzigen Welle vor drei Jahren gestorben. Bei uns brütet auch die Hälfte aller Basstölpel weltweit. Die Vogelgrippe hat ein Viertel davon vernichtet. Viele Vogelarten sind weitaus seltener und haben nur kleine Populationen. Sie sind besonders stark gefährdet. Auch viele Säugetiere sterben massenhaft. In Argentinien wurde gerade fast der gesamte Nachwuchs der See-Elefanten getötet. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Die Artenvielfalt auf der Erde leidet heute schon stark unter der Zerstörung von Lebensraum, Umweltverschmutzung und Klimawandel. Jetzt auch noch Vogelgrippe? Wie ordnen Sie diese Gefahr ein?
Die Vogelgrippe ist eine der größten Bedrohungen für unsere Wildtiere. Und sie kommt zu den von Ihnen genannten Gefahren hinzu. Die besonders stark betroffenen Meeresvögel stehen beispielsweise schon durch Nahrungsmangel auf Grund von Überfischung unter Druck, durch Meeresverschmutzung mit Plastik und Chemikalien – und natürlich durch den Klimawandel, der in ihren Hochburgen in der Arktis und Antarktis besonders stark ausgeprägt ist. Die Vogelgrippe droht ein weiterer Sargnagel für die Natur zu werden, wenn wir nicht entschlossen handeln.
Wird die von ihr ausgehende Gefahr für die globale Biodiversität bisher politisch unterschätzt?
Das ist leider so, ja. Viele Menschen, auch viele Verantwortliche, haben noch nicht begriffen, dass wir hier nicht von einer Geflügelkrankheit sprechen, die auch Auswirkungen auf wilde Tiere hat, sondern von einer globalen Bedrohung für die Artenvielfalt.
Was müsste unternommen werden, um die Seuche zu begrenzen oder gar zu besiegen?
Um das Schlimmste abzuwenden, müssen wir uns mit der Hauptquelle dieses Virus befassen: Das ist die Massenhaltung von Geflügel.
Das Virus ist in der Geflügelzucht entstanden. Gegenwärtig wird aber die Verbreitung über Zugvögel als wichtigster Übertragungsweg angesehen. Fälschlicherweise?
Als Wissenschaftlerin muss ich mich an den Fakten orientieren, und da halte ich den Handel mit Geflügel und auch den illegalen Handel mit Wildvögeln für einen weitaus größeren Faktor. Schon in den 1990er Jahren, als das Virus von China nach Westen kam, wurden Zugvögel verantwortlich gemacht. Die sind aber in der fraglichen Jahreszeit in eine ganz andere Richtung unterwegs gewesen. Die ersten in Europa entdeckten Infektionen stammen dementsprechend auch von illegal im Handgepäck eingeschmuggelten Adlern aus Thailand. Bei Vogelgrippe-Ausbrüchen in vielen Ländern konnten illegale Einfuhren von Geflügel als Ursache nachgewiesen werden, so in Großbritannien, Kanada und Italien. In Spanien führte die Spur direkt zu chinesischen Restaurants.
»Ausbrüche in Farmen befeuern die Epidemie. Aber es ist eben einfacher, wilde Vögel verantwortlich zu machen, als sich mit einer Milliardenbranche anzulegen«
Gerade erst hat die Vogelgrippe die Antarktis erreicht. Über Geflügel?
Der erste Fall wurde nahe der argentinischen Forschungsstation bei einer Skua entdeckt, einem Aasfresser. Argentinien ist stark von der Vogelgrippe betroffen. Möglicherweise sind Geflügelprodukte über die Versorgungsschiffe in die Region gekommen oder sie wurden durch die vielen Touristengruppen eingeschleppt. Fragen Sie doch mal, warum das Virus bisher Australien nicht erreicht hat, obwohl sehr viele Zugvögel aus der Arktis dorthin ziehen: Australien importiert eben nur ein Prozent des Geflügels, das es konsumiert. Wir sollten uns nicht stur an eine einmal formulierte Hypothese klammern, sondern alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.
Bezweifeln Sie generell, dass Zugvögel das Virus verbreiten?
Nein, aber ihnen wird ein zu großer Anteil zugeschrieben. Es ist eben einfacher, wilde Vögel verantwortlich zu machen, als sich mit einer Milliardenbranche wie der Geflügelindustrie anzulegen. Gleichzeitig wird die Epidemie durch Ausbrüche in Farmen beständig befeuert. Und auch durch die Transporte: Milliarden Vögel wandern jedes Jahr um die Erde. Ein menschengemachter Vogelzug sozusagen. In Geflügelfarmen leben hunderttausende Tiere oft unter schlechten Bedingungen auf engstem Raum. Virenbelastete Rückstände werden als Dünger verwendet, um nur ein Beispiel zu nennen. So etwas nenne ich eine sehr effektive Methode, ein Virus wie einen Tsunami zu verbreiten.
Ohne ein Ende der Massentierhaltung werden wir die Seuche nicht bewältigen können?
Wir müssen unsere Art der Geflügelfleischproduktion überdenken. Die Betriebe sollten ihre Küken selbst aufziehen und ihre Eier von den eigenen Tieren legen lassen, anstatt Küken und Eier weltweit herumzuschieben. Der Trend zu Megafarmen mit über einer Million Tieren muss gestoppt werden. Kleinere Betriebe ermöglichen auch mehr Tierwohl. Wir haben – angetrieben durch eine veränderte Nachfrage von Verbrauchern – bei der Produktion von Eiern schon viele Verbesserungen erreicht. Dasselbe muss mit Geflügelfleisch geschehen. Nicht zuletzt ist das auch die beste Prävention gegen eine neue Pandemie.
Dass sich Säugetiere anstecken, ist bislang eher die Ausnahme. Und wenn doch, geben sie das Virus in der Regel nicht an Artgenossen weiter. Die Weltgesundheitsorganisation sieht darum nur eine geringe Gefahr, dass das Virus massenhaft auf Menschen übergreift und sich zu einer neuen Pandemie auswächst. Sie sehen das anders?
Offen gestanden überrascht mich diese Haltung. In den letzten 20 Jahren wurden aus zwei Dutzend Ländern fast 900 Fälle von menschlichen Infektionen mit dem H5N1-Virus gemeldet, die Hälfte verlief tödlich. Meist waren es Arbeiter in Hühnerfarmen. Und es gibt neben H5 auch andere Subtypen der Vogelgrippe, die gefährlich sind. Vor wenigen Wochen starb in China eine Frau nach Kontakt zu Geflügel an einem H10-Virus.
Was muss geschehen, um die Gefahr zu senken?
Wir müssen den Verlauf der Epidemie genau beobachten und viel mehr testen, um mitzubekommen, wie sich das Virus verändert. Es hat sich bereits als sehr anpassungsfähig erwiesen. Ich gehe zumindest für See-Elefanten und Zuchtnerze davon aus, dass es sich dort inzwischen auch von Tier zu Tier verbreitet. Das verstärkt die Gefahr einer Pandemie, denn Säugetiere stehen uns Menschen viel näher als Vögel.
Sie halten nach Corona eine Pandemie durch die Vogelgrippe für eine akute Gefahr?
Wir sollten das Problem ernst nehmen, denn es ist sehr ernst. Für Tier und Mensch. Wir müssen mehr tote Vögel testen und das Virus sequenzieren, damit wir sehen, ob es gefährliche Mutationen gibt. Es ist gut möglich, dass wir nur ein oder zwei Mutationen von der nächsten Pandemie entfernt sind. Wir haben gerade Covid hinter uns. Wie oft müssen wir es noch auf die harte Tour lernen? Wir sollten schleunigst daran arbeiten, einen Impfstoff für Menschen gegen das Virus zu entwickeln und das Hauptproblem an der Wurzel packen: die Massentierhaltung.
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