Vogelgrippe H5N1: Auf tödlichem Erfolgskurs
Die seit mehr als zwei Jahren fast ununterbrochen grassierende Vogelgrippe entwickelt sich in rasantem Tempo zu einer ernsten Gefahr für die globale Artenvielfalt. Die Viren der hochpathogenen Vogelgrippetypen (HPAIV) haben sich nicht nur massiv ausgebreitet, sie befallen inzwischen auch deutlich mehr Tierarten als noch zu Beginn: Starben in den ersten Wellen Mitte der 1990er Jahre fast ausschließlich Wasservögel, trifft es mittlerweile ebenso viele andere Vogelarten und ein immer größeres Spektrum an Säugetieren.
Die Welt erlebe gerade eine Panzootie, eine Pandemie unter Tieren, warnt die Veterinärwissenschaftlerin Ursula Höfle von der spanischen Universidad de Castilla-La Mancha. Die Seuche habe für viele Tierarten bereits bedrohliche Maße angenommen und könne ganze Ökosysteme gefährden: »Was wir erleben, ist brandgefährlich«, sagt die Expertin für aviäre Influenza, wie die ursprünglich in China aufgetretene Vogelgrippe im Fachjargon heißt. Es treffe nun auch solche Vogel- und Säugetierarten, die durch Lebensraumzerstörung und andere menschliche Einflüsse ohnehin schon selten geworden seien. »In Spanien sagt man: ›Es regnet, wo es bereits nass ist‹«, meint Höfle. Dieses Virus habe das Zeug, ganze Ökosysteme durcheinanderzubringen.
Das zeigte sich etwa in der weltgrößten Brutkolonie des Krauskopfpelikans in Griechenland im vergangenen Jahr. Dort brüteten bis vor Kurzem noch 1000 Paare. Innerhalb weniger Wochen reduzierte das Virus ihre Zahl auf einige Dutzend. Ähnliche Entwicklungen hatte es ebenso an der Nordseeküste in Deutschland und anderen Wattenmeer-Anrainerstaaten gegeben, wo tausende Paare und Jungvögel der bedrohten Brandseeschwalbe vom Virus dahingerafft wurden. Zudem war die einzige deutsche Kolonie einer weiteren Hochseevogelart, des Basstölpels, im vergangenen Jahr erstmals von der Vogelgrippe heimgesucht und erheblich reduziert worden.
Vögel werden in ihren wichtigsten Brutgebieten dezimiert
In Schottland fürchten Vogelschützer um das Überleben der Skuas. Die Vogelgrippe hat hier eine dreistellige Zahl der seltenen Raubmöwen getötet – und das in ihrem weltweit wichtigsten Brutgebiet. Und auf Spitzbergen dezimierte das Virus die Population der dort brütenden Weißwangengänse um mehr als ein Drittel: Mehr als 16 000 Vögel starben bei einem einzigen Ausbruch.
Von einem »Drama«, wie sie es noch nie erlebt habe, spricht Höfle. Inzwischen schließe sie nicht einmal mehr aus, dass ganze Arten durch die Vogelgrippe aussterben.
Allein in Europa sind akut 37 Staaten von Vogelgrippeausbrüchen betroffen, weit über 70 Vogelarten haben sich auf dem Kontinent bereits als anfällig für die todbringenden Viren erwiesen. »Wir haben es jetzt mit einem Virus oder einer Gruppe von Viren zu tun, die sehr promiskuitiv sind und sich munter in vielen Vogelarten weiterentwickeln«, sagt Ian H. Brown. Der britische Wissenschaftler leitet das Referenzlabor der Welternährungsorganisation FAO für die aviäre Influenza. Promiskuitive Viren tauschen besonders leicht untereinander Erbgut aus. Dadurch entwickeln sie schnell neue Fähigkeiten, etwa andere Tierarten zu befallen oder das Immunsystem zu unterlaufen. Die Variante mit dem Kürzel H5N1 zählt dabei zu den aktuell gefährlichsten Erregerstämmen.
Doch es ist beileibe nicht der einzige. Das Virus verändere sich schneller, als man es in den Laboren charakterisieren könne, weshalb sich die Forschung einer ganzen »Wolke von Viren« gegenübersehe, sagt Martin Beer, Leiter der Vogelgrippeforschung am Friedrich-Loeffler-Institut für Tiergesundheit. Gemeinsam mit Brown und Höfle informierte er am 10. Februar über den aktuellen Kenntnisstand zu der Tierseuche. Das Pressegespräch hatte das Science Media Center organisiert.
Inzwischen sind zudem tödlich verlaufende Fälle bei zahlreichen Säugetieren nachgewiesen worden. Betroffen sind vor allem solche Arten, die im Wasser leben oder eng an diesen Lebensraum gebunden sind. Sie infizieren sich nach Einschätzung der Wissenschaftler durch den Verzehr erkrankter oder an Vogelgrippe gestorbener Vögel. Nachgewiesen sind Todesfälle unter anderem bei Seehunden, verschiedenen Delfinarten, einem Schweinswal, Fischottern, Füchsen, einem Grizzlybären und Katzen. Im Dezember berichteten russische Forscher von einem Massensterben unter Seehunden im Kaspischen Meer und zuletzt meldeten die Naturschutzbehörden in Peru den Tod von gleich 600 Seelöwen. »Es kann sein, dass die Seelöwen ein Festmahl mit toten Seevögeln begangen haben«, sagt Brown. Eine Übertragung von Säugetier zu Säugetier sei zwar nicht auszuschließen und müsse dringend überprüft werden, gelte aber als unwahrscheinlicher; darin sind sich die Forscher einig.
Bei seiner rasanten Ausbreitung kommt dem Virus eine weitere Anpassung zugute. Es toleriert nun auch klimatische Bedingungen, die Influenzaviren bislang nicht überstanden. Ebbten die Ausbrüche früher mit dem aufziehenden Frühling ab, so hat es der Erreger spätestens seit vergangenem Jahr geschafft, das ganze Jahr über oder zumindest bis weit in den Sommer hinein zu überdauern. Dadurch sucht er viele Vogelpopulationen in der besonders wichtigen Brutzeit heim, in der die Infektionen neben den Altvögeln auch die Küken töten.
Mit ihrer Flexibilität haben die HPAI-Viren bereits alle Kontinente außer Australien und der Antarktis erobert. Dass die Vogelpandemie bei dieser Grenze Halt machen wird – das glauben die Fachleute kaum. Womöglich wiesen nun sämtliche Vogelarten ein gewisses Maß an Anfälligkeit auf, sagt Brown. Ein Vordringen in die letzten vogelgrippefreien Bastionen sei wahrscheinlich. »Wir haben so viele überraschende Dinge mit diesem Virus erlebt, dass wir alles erwarten können«, so Höfle.
Möwen könnten das Virus bis in die Antarktis tragen
»Superspreader« der Vogelwelt könnten regelrechte Kettenreaktionen auslösen. Möwen sind allgegenwärtig und pendeln zwischen den Populationen. Der Lebensraum der stark betroffenen Dominikanermöwe reicht beispielsweise von Südamerika bis zur Südküste Afrikas und in die Antarktis. Damit verbindet dieser Vogel einige der artenreichsten Ökosysteme der Erde mit einem der fragilsten. Gerade für Möwen habe das Virus eine besondere Vorliebe entwickelt, warnt Brown. In der Antarktis könnte H5N1 die Artenvielfalt massiv in Gefahr bringen.
Auch Australien mit seiner einmaligen Tierwelt sieht der Experte bedroht. Bisher war der Kontinent vergleichsweise sicher, weil er abseits der Zugwege liegt und die Behörden auf konsequente Bekämpfungsmaßnahmen setzten. »Aber jetzt müssen wir das alles neu überdenken, denn dieses Virus scheint in der Lage zu sein, so gut wie jede Vogelpopulation zu infizieren, auf die es trifft«, sagt Brown.
Dass auch Menschen Opfer des Virus werden oder die Vogelgrippe sich sogar zum pandemischen Erreger entwickelt, ist aktuell eher nicht zu befürchten. Die Wahrscheinlichkeit dafür bewerten die drei Experten als nicht sonderlich hoch. Im Vergleich zur Masse infizierter Vögel sei die Zahl der Fälle, in denen nachweislich Säugetiere oder gar Menschen erkrankten, sehr klein.
Noch seltener wurden Fälle beobachtet, in denen das Virus von Säugetier zu Säugetier zu springen scheint. Dazu bedarf es Mutationen in seinem Erbgut, die ihm diese Fähigkeit verleihen. Dass das möglich ist, legt ein Ausbruch vom Oktober 2022 in einer spanischen Nerzfarm nahe. Dort steckten sich sehr wahrscheinlich zahlreiche Tiere gegenseitig an und starben an der Infektion. Durch konsequente Eindämmungsmaßnahmen gelang es aber wohl, den Erregerstamm auszurotten. Erst wenn ein Virus diese Fähigkeit dauerhaft beibehält, könnte es sich auch in Säugetierpopulationen, einschließlich dem Menschen, ausbreiten. Allerdings bestehen zumindest für die Behandlung infizierter Menschen bereits wirksame Medikamente zur Verfügung.
»Wir müssen vorsichtig und wachsam sein, aber es ist nicht die Zeit, zu sagen, dass wir kurz vor einer H5-Pandemie stehen«, sagt Beer. »Wir sprechen hier hauptsächlich über eine Panzootie unter Vögeln.«
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