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Vogelgrippe-Pandemie: Eine Seuche bedroht die globale Artenvielfalt

Die Vogelgrippe wütet in immer mehr Weltregionen. Entlang von Küsten, Flüssen und Feuchtgebieten breitet sich die Influenza-Pandemie aus. Mit dem Vordringen des Virus auf Inseln im südlichen Ozean wackeln nun auch die letzten Bastionen: die Antarktis und Australien – mit fatalen Folgen für die Biodiversität.
Ein toter Pelikan liegt an einem verschmutzten Strand in Peru, gestorben an der Vogelgrippe
Ein an der Vogelgrippe verendeter Pelikan liegt tot an einem peruanischen Strand: Allein 2022 sollen mehr als zehntausend Pelikane in dem Land an der Seuche gestorben sein.

Rot, wohin man sieht: Ein Blick auf die digitale Europakarte des »Bird Flu Radar« der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) reicht aus, um den Ernst der Lage zu erfassen. Das Frühwarnsystem für Ausbrüche der Vogelgrippe weist seit Monaten extrem hohe Risiken für weite Teile des Kontinents aus. 37 europäische Staaten sind vom Ausbruch der Influenzawelle betroffen. Auch auf fast allen anderen Kontinenten wütet das Virus. Einzige Ausnahmen bis Ende Januar 2024: das Festland der Antarktis und Australien. Doch selbst diese Bastionen gegen die tödliche Welle wackeln. Längst wird die Epidemie von Wissenschaftlern als so genannte »Panzootie« eingestuft: als Pandemie im Tierreich.

In Deutschland nimmt der Erreger gerade wieder Fahrt auf. »Wir haben eine Zunahme von Nachweisen in Wildvögeln, und parallel dazu sehen wir auch wieder einen Anstieg der Fälle in der Geflügelhaltung«, sagt Timm Harder. Der Infektionsmediziner leitet das Nationale Referenzzentrum für die Aviäre Influenza – umgangssprachlich Vogelgrippe – des staatlichen Friedrich-Loeffler-Instituts. Die Zahl der Proben, die Harder und seine Kolleginnen und Kollegen auf der Ostseeinsel Riems aus ganz Deutschland analysieren, sind ein Barometer für den Verlauf der Infektionswelle mit dem hochpathogenen Aviären Influenzavirus (HPAI) in Deutschland.

Zum ersten Mal tauchte der Erreger der derzeit dominierenden Linie H5N1 1996 in einer Geflügelzucht in der südchinesischen Provinz Guandong auf, in der viele Enten auf engem Raum gehalten wurden. Von dort aus trat er seinen Siegeszug um die Erde an. Große Ausbrüche der Krankheit mit Massensterben unter Wildvogelarten und in Geflügelzuchten pflastern seitdem seinen Weg. Hunderte Millionen Vögel und zehntausende Säugetiere sind dem Erreger schon zum Opfer gefallen.

»Wahrscheinlich ist die Vogelgrippe noch schlimmer in ihren Auswirkungen als die DDT-Krise«Ursula Höfle

Geflügeltransporte und Zugvögel verfrachteten das Virus

Deutschland erreichte das Virus über den Geflügelhandel und über Wildvögel. Mit dem Wattenmeer an der Nordsee und der Ostseeküste liegen hier zwei der wichtigsten Drehscheiben des interkontinentalen Vogelzugs. Dort und an großen Seen, die ebenfalls von Zugvögeln zum Überwintern aufgesucht werden, traten in den ersten Jahren fast alle Infektionen auf. Durch beständige Anpassung an seine Umgebung hat der Erreger mittlerweile aber viele seiner Eigenschaften stark verändert und ist damit noch gefährlicher geworden. So hat er eine in der Geschichte der Vogelgrippe bislang beispiellose Fähigkeit erreicht, immer neue Arten zu befallen. Zudem breitet sich H5N1 schneller aus als frühere Subtypen.

Vor allem in den Jahren seit 2020 hat das Virus einen massiven Sprung gemacht, der Expertin und Expertinnen weltweit alarmiert. Von Europa aus erreichte das Virus seitdem den Nahen Osten, Afrika und 2021 über die Britischen Inseln und Island die USA. Von dort breitete es sich 2022 nach Mittel- und Südamerika aus. Inzwischen sind mehr als 80 Länder betroffen. Auf all seinen Etappen hinterließ das Virus eine verheerende Todesspur unter Wildvögeln und zunehmend auch unter Säugetieren, die verendete Vögel gefressen oder sich über deren Kot infiziert hatten. Im Nahen Osten und im ungarischen Hortobagy-Nationalpark starben tausende ziehende oder überwinternde Kraniche aus Europa, in Afrika traf es ungeheure Zahlen von Seeschwalben, auf den Britischen Inseln und im gesamten Ostatlantik bis zu den USA raffte das Virus ganze Kolonien mit hunderttausenden Seevögeln dahin, und in Südamerika starben zehntausende Kormorane, Pinguine und Tölpel.

Tote und sterbende Kraniche in Israel | Im Winter 2021/2022 starben tausende Kraniche im israelischen Hula-Tal an der Vogelgrippe; 2023 suchte ein Massensterben die Art im ungarischen Hortobagy-Nationalpark heim. Auslöser war in beiden Fällen eine hochansteckende Variante von H5N1.

Schlimmer als DDT?

Vogelexperten stellen die Gefahr durch die Vogelgrippe inzwischen in eine Reihe mit den fatalen Folgen des Pestizids DDT, dessen massenhafter Einsatz bis zu seinem Verbot in den 1970er Jahren zahlreiche Vogelarten an den Rand des Aussterbens brachte. »Wahrscheinlich ist die Vogelgrippe noch schlimmer in ihren Auswirkungen als die DDT-Krise«, vermutet Ursula Höfle. Die Professorin am spanischen Nationalen Wildforschungsinstitut an der Universität von Castilla-La Mancha erforscht die Panzootie seit vielen Jahren. Die Tierseuche betreffe viel mehr Arten, und es sei noch völlig unklar, welche Konsequenzen der mit den Massensterben einhergehende große Verlust im Genpool der betroffenen Populationen habe, argumentiert sie. Möglicherweise mache die Schwächung die Vögel weniger widerstandsfähig auch gegen andere Krankheiten.

»Wir erleben weltweit eine so schwierige Situation für viele Wildvogelarten, wie wir das noch nie gehabt haben«Timm Harder

Höfle fürchtet bei einer Fortsetzung der Pandemie das Aussterben ganzer Arten – mit unabsehbaren Folgen für die Ökosysteme, in denen jede einzelne Spezies eine wichtige Rolle für das Funktionieren des gesamten Lebensnetzes einnimmt. »Wir erleben weltweit eine so schwierige Situation für viele Wildvogelarten, wie wir das noch nie gehabt haben«, sagt auch Virenexperte Harder vom Loeffler-Institut. Das Ausmaß der Pandemie sei zu groß, als dass man den Tod unzähliger Wildvögel als eine Art Kollateralschaden akzeptieren dürfte, mahnt er.

Der gegenwärtige Ausbruch der Vogelgrippe wird von Seuchenexperten, Umweltwissenschaftlern und Naturschützen einhellig als eine bislang beispiellose neue Dimension angesehen. Dass die Vogelgrippe sich zu einer akuten Bedrohung für einige Arten entwickeln konnte, liegt unter anderem daran, dass Wildtiere durch viele weitere Stressfaktoren bereits geschwächt sind und in ihren Populationen seit Langem zurückgehen, weil ihre Lebensräume schwinden oder sie durch Umweltgifte aus der Landwirtschaft oder Industrie belastet sind. Hinzu kommt, dass die industrielle Tierhaltung, in der das Virus höchstwahrscheinlich entstanden ist, die Ausbreitung der Seuche ständig befeuert. Wissenschaftler fordern von der Politik deshalb, die Massentierhaltung grundsätzlich zu überdenken und durch einen besseren Naturschutz Rückzugs- und Erholungsräume für Wildtiere zu schaffen.

400 verschiedene Vogelarten wurden bereits befallen

Tötete die Infektion in den Anfangsjahren fast ausschließlich Wasservögel wie Schwäne und Enten, weitet sich das Spektrum der befallenen Tiere seit einigen Jahren beständig aus. In Deutschland dezimiert die Seuche mittlerweile ebenso Wanderfalken; Seeadler, Bussarde und vor allem Lachmöwen starben in großer Zahl. »Inzwischen wissen wir von 400 Vogelarten, die betroffen sind«, bestätigt Höfle. Wie genau sich das Virus seine Opfer »auswählt«, sei immer noch nicht vollständig geklärt.

Massensterben auch in Deutschland | Martin Kühn, Nationalpark-Ranger beim Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz (LKN), trägt Schutzkleidung beim Sammeln von toten Vögeln an der Küste zwischen Schlüttsiel und Dagebüll. Zehntausende Gänse, Enten, Seeschwalben und andere Vögel starben seit 2020 an den deutschen Küsten an der Seuche.

Selbst unter nahe verwandten Arten gibt es Unterschiede. Während etwa die stark bedrohten europäischen Krauskopfpelikane durch Ausbrüche in existenzielle Gefahr gerieten, erwiesen sich die nahe verwandten Rosapelikane als deutlich weniger anfällig, berichtet Höfle. Das könne sich aber jederzeit ändern, wie andere Beispiele zeigten. »Wir haben schon sehr viele Überraschungen mit diesem Virus erlebt«, so die Wissenschaftlerin. »Das Virus scheint in der Lage zu sein, so gut wie jede Vogelpopulation zu infizieren, auf die es trifft«, glaubt auch Ian Brown, Chefwissenschaftler der britischen Tiergesundheitsbehörde APHA (Animal and Plant Health Agency).

Das Virus sortiert sich ständig neu

Dass in der Zwischenzeit eine so hohe Zahl an unterschiedlichen Vogelarten von der Tierseuche betroffen ist, liegt an der Wandlungsfähigkeit des Erregers. Timm Harder und seine Kollegen auf Riems haben festgestellt, dass das Virus seine genetische Ausstattung turnusmäßig verändert und darum besser auf neue Arten überspringen kann. In Deutschland vollziehe sich gerade wieder ein solcher Wechsel des Genotyps, erklärt der Infektionsmediziner. Der neue Typ befalle Gänse leichter, während die zuvor vorherrschende Genkombination vor allem für Lachmöwen sehr tödlich war. Das könnte für einige Seeschwalbenarten eine gute Nachricht sein, die durch die massiven Ausbrüche vor allem 2022 enorm dezimiert wurden, für andere Arten dagegen eine schlechte: »Es kann dazu führen, dass neue Arten besonders gefährdet sind«, so Harder. In den vergangenen Jahren waren in Deutschland mit dem Wechsel der Genotypen stets neue Arten betroffen.

Weltweit befällt das Virus seit einiger Zeit zudem immer mehr Säugetiere. Der Weltgesundheitsorganisation wurden bereits 26 betroffene Arten gemeldet. Das Spektrum reicht von streunenden Katzen und Hunden über Nerze in Pelzfarmen bis zu Füchsen und Bären oder im Zoo gehaltenen Tigern und Leoparden. Vor Kurzem wurde der erste Fall eines Eisbären in Alaska bestätigt. Wie bei den Vögeln sind bei Säugetieren diejenigen Arten besonders anfällig, die am oder im Wasser leben. Immer mehr Robben, Seelöwen und Seeelefanten zählen zu den Opfern. Auch diese Säugetiere leben häufig eng an eng in Kolonien, was es dem Virus erleichtert, von einem Individuum zum anderen überzuspringen. Im Jahr 2023 starben am Kaspischen Meer rund 700 der weltweit nur dort vorkommenden Kaspischen Robben an dem Virus. In Südamerika fielen entlang der Küste Patagoniens in Argentinien zuletzt nach Schätzungen von Wissenschaftlern rund 17 000 junge Seeelefanten der Zoopathie zum Opfer – beinahe der gesamte Nachwuchs der Art in der Saison 2023. In Chile, Uruguay und Ecuador kam es ebenfalls zu Massensterben.

Warum vor allem Küsten und Feuchtgebiete?

Feuchtgebiete und Küsten sind aus zwei Gründen sehr stark durch die Seuche betroffen. Sie sind in erster Linie während des Winters und in den Zugzeiten häufig Treffpunkte für sehr viele Vögel aus sehr unterschiedlichen Regionen. Außerdem überlebt und überträgt sich das Virus besonders gut im Wasser. »Bei niedrigen Temperaturen kann das Virus im Wasser mehrere Tage oder sogar Wochen infektiös bleiben«, sagt Harder. Wenn dann nach Nahrung unter der Wasseroberfläche gründelnde Enten oder Schwäne im flachen Wasser eines Sees Sand aufwirbeln, könnten damit abgesunkene Viren wieder freigesetzt werden. So kann selbst dann noch eine Infektion ausgelöst werden, wenn der Vogel, der die Infektion eingeschleppt hat, schon lange nicht mehr auf dem See schwimmt. »Die Übertragbarkeit dieser Viren mit dem Oberflächenwasser ist so gut, dass sie sich vor allem in Wasservogelpopulationen sehr rasch ausbreiten«, erläutert Harder.

Tote Seelöwen | Die Vogelgrippe kann auch für Säugetiere tödlich enden. Betroffen sind vor allem Meeressäuger, die in unmittelbarer Nachbarschaft von Seevögeln leben oder deren Kadaver fressen. Seit 2023 starben zehntausende Seelöwen an den südamerikanischen Küsten an der Seuche.

In einer weiteren Anpassung des Virus sehen Wissenschaftler den wohl wichtigsten Grund dafür, dass sich die Aviäre Influenza von einem Problem einzelner Bestände zu einer Katastrophe für weite Teile des Tierreichs entwickelt hat. Das Virus kennt anders als früher keine Jahreszeiten mehr: Wissenschaftler sprechen vom Verlust der Saisonalität. Wütete die Vogelgrippe in den ersten Jahren – ganz wie die Grippe bei Menschen – ausschließlich in den kalten Wintermonaten und verschwand zwischen einzelnen Massenausbrüchen jahrelang von der Bildfläche, hat sich der Erreger mittlerweile vielerorts dauerhaft festgesetzt und schlägt das ganze Jahr über zu.

»Es herrscht international Konsens darüber, dass das Virus in europäischen Wildvogelpopulationen inzwischen endemisch geworden ist«, sagt Harder. »Wir haben in jeder Woche durchgehend infizierte Wildvögel, mal mehr, mal weniger – aber das Virus verschwindet nicht mehr vollständig.« Die verheerende Folge dieser Entwicklung ist, dass die Vogelgrippe jetzt auch in der besonders sensiblen Brutzeit ausbricht und dabei Elterntiere sowie den Nachwuchs tötet.

Wie katastrophal solche Ausbrüche in der Fortpflanzungssaison sind, zeigte sich 2022 in Deutschland und den Niederlanden: Tausende Paare der hier zu Lande vom Aussterben bedrohten Brandseeschwalben wurden Opfer der Pandemie. Auch in der weltweit größten Kolonie von Basstölpeln in Schottland starben 70 Prozent der Altvögel: Viele Küken verhungerten oder wurden ebenfalls durch das Virus getötet. Und in Griechenland wurden mit einem Schlag fast die Hälfte der in Europa lebenden Krauskopfpelikane vernichtet – einer ohnehin stark vom Aussterben bedrohten Vogelart. Im folgenden Frühling 2023 brüteten deshalb in vielen Kolonien in Europa viel weniger Vögel als normalerweise. Einige Kolonien verwaisten sogar komplett, weil der gesamte Nachwuchs im Vorjahr umgekommen war.

Die letzten Bastionen gegen das Virus wackeln

Vor einer ähnlichen Situation wie Europa steht derzeit Südamerika, wo große Teile des Nachwuchses einiger Vogel- und Säugetierarten gestorben sind. Seit ein paar Wochen wankt mit der Antarktis sogar das neben Australien letzte Bollwerk gegen die Tierpandemie. Seit Oktober 2023 melden Wissenschaftler Infektionen von Wildtieren auf Inseln in gefährlicher Nähe zur Antarktischen Halbinsel. Die ersten toten Vögel fanden Forscher auf Bird Island, einer für ihren Vogelreichtum bekannten, Südgeorgien vorgelagerten Insel. Mittlerweile sind auch von Südgeorgien selbst zahlreiche Fälle toter Braunskuas – nur in der Antarktis vorkommender Raubmöwen –, Dominikanermöwen und der ebenfalls für die Region endemischen Antarktisseeschwalbe bestätigt. Hunderte Seeelefanten und Robben sind in den vergangenen Wochen verendet.

Wissenschaftler warnen, das hochansteckende Virus könnte beim Erreichen der riesigen antarktischen Pinguinkolonien »eine der größten ökologischen Katastrophen der Neuzeit« auslösen. Norman Ratcliffe vom britischen Polarforschungsinstitut British Antarctic Survey ist einer der Entdecker des Ausbruchs auf Südgeorgien. Auch er geht davon aus, dass das antarktische Festland mit den Infektionen auf den vorgelagerten Inseln nun in Reichweite der Pandemie geraten ist. Die größte Sorge machen ihm die Ergebnisse der Genanalyse der tot aufgefundenen Vögel.

Bedrohte Artenvielfalt | Zu den besonders bedrohten Arten gehören die Raubmöwen – hier der Große Skua (Stercorarius skua). Sie sterben auch in großer Zahl an der Vogelgrippe, aber ihr Weltbestand ist relativ klein.

Die Laboruntersuchungen hatten ergeben, dass sich die Vögel mit großer Wahrscheinlichkeit in Südamerika infiziert und das Virus von dort aus auf die antarktischen Inseln eingeschleppt hatten. »Die Entfernung, die diese Vögel von ihrem Herkunftsgebiet in Südamerika bis Südgeorgien zurückgelegt haben, ist größer als die Strecke, die sie fliegen müssten, um das antarktische Festland zu erreichen«, rechnet er vor.

Australien in Reichweite

Selbst die für ihre einmalige Tierwelt berühmten ozeanischen Inseln und Australien geraten mit dem Vordringen des Virus in die Antarktis in Gefahr, so eine Analyse. Wanderalbatrosse könnten die 10 000 Kilometer Distanz zwischen Feuerland an der Südspitze Südamerikas bis Neuseeland in sechs Tagen bewältigen. Weil dieser Zeitraum innerhalb der Inkubationszeit des Virus liege, sei es möglich, dass infizierte Vögel die weite Strecke überwinden könnten, bevor sie dem Virus erliegen.

Für noch wahrscheinlicher als über die antarktischen Inseln halten Ratcliffe und Dewar es aber, dass das Virus Australien über Südostasien erobert. Dort verläuft eine der weltweit wichtigsten Vogelzugrouten entlang des Ostpazifiks; Millionen von Watvögeln ziehen dort jeden Herbst auf ihrem Weg von Sibirien südlich bis nach Australasien.

»Ein existenzielles Risiko besteht vor allem für die vielen Arten, die nirgendwo sonst vorkommen«Norman Ratcliffe

Welche Folgen der Ausbruch der Vogelgrippe in der Antarktis oder in Australien haben könnte, ist völlig offen. Doch das Virus fände ideale Bedingungen vor: Viele nur dort lebende Vogelarten, von Pinguinen bis zu Seevögeln, brüten konzentriert in wenigen, dafür aber riesigen Kolonien mit Hunderttausenden, manchmal Millionen von Paaren. Und die bislang nie mit dem Virus in Kontakt gekommenen Tiere sind »immunnaiv«, verfügen also über keine Abwehr. »Ein existenzielles Risiko besteht vor allem für die vielen Arten, die nirgendwo sonst vorkommen«, warnt Ratcliffe.

Eine gute Nachricht hält der Forscher jedoch bereit: Auf Südgeorgien seien trotz des Virusausbruchs unter anderen Vögeln bislang weder Pinguine noch Albatrosse von der Seuche betroffen. Allerdings meldeten die Behörden der nahe gelegenen Falkland-Inseln Anfang Februar den Tod von mehr als 200 Eselspinguinen durch das Virus. Weil diese Art aber nicht zieht, sehen Experten darin keine zusätzliche Gefahr für das antarktische Festland. Gleichwohl sei die Infektion der Vögel ein Beleg dafür, dass Pinguine anfällig sein könnten.

Biodiversitätsverlust rückt ins Blickfeld

Weltweit wird die Viruspandemie bisher vor allem als ein ökonomisches Problem der Geflügelwirtschaft angesehen. Entsprechend fließen Geld, Material und Personal in erster Linie in die Überwachung und Beseitigung von Ausbrüchen in Geflügelhaltungen. Während es zur Bekämpfung der Vogelgrippe in der kommerziellen Haltung mittlerweile ein eingespieltes System zur Eindämmung von Ausbrüchen und viel Geld aus Steuermitteln gebe, werde der Schutz der Biodiversität vor der Seuche immer noch vernachlässigt, kritisiert der Zugvogelexperte des internationalen Naturschutz-Dachverbands BirdLife International, Willem van den Bossche. So hätten Helfer besonders in ärmeren Weltregionen manchmal nicht einmal genug Geld, um den Treibstoff für Boote zu bezahlen, mit denen sie die Kadaver von Wildvögeln einsammeln. »Dabei ist bei der Vogelgrippe wie bei jeder Infektionskrankheit die Beseitigung der Infektionsherde die wichtigste Maßnahme zur Eindämmung eines Ausbruchs«, sagt er. »Für die Welt der wilden Vögel gibt es aber weder Geld noch ein Prozedere«, kritisiert van den Bossche.

»Eine existenzielle Bedrohung für die biologische Vielfalt der Welt«Chris Walzer

Dabei sind sich Veterinärexperten, Populationsforscher und Naturschützer einig, dass die Vogelgrippe sich inzwischen »zu einer existenziellen Bedrohung für die biologische Vielfalt der Welt« entwickelt hat, wie Chris Walzer, Direktor der internationalen Naturschutzorganisation Wildlife Conservation Society, warnt.

»Auch in Europa gibt es Arten, die unter großem Risiko stehen«, warnt Ursula Höfle mit Blick auf Spezies, die bereits durch andere Faktoren wie die Zerstörung ihrer Lebensräume, Verfolgung durch Menschen oder den Klimawandel unter Druck stehen. Die kleine europäische Population des Waldrapps zählt sie ebenso dazu wie den Krauskopfpelikan. »Das sind Arten, bei denen es nicht viel Reserve gibt, und wenn das Virus dort kräftig zuschlägt, kann es durchaus dazu beitragen, die Art über den Abgrund zu schieben.«

Opfer und Täter zugleich | Mit hoher Wahrscheinlichkeit entstand die hochansteckende Variante von H5N1 auf einer Geflügelfarm in China. Dort werden oft zehntausende Gänse, Enten und Hühner in unmittelbarer Nähe zu Wasservögeln gehalten, so dass Krankheiten leicht überspringen können. Betroffenes Geflügel wird dann gekeult, wodurch auch ein sehr hoher finanzieller Schaden für die Landwirte entsteht.

Die Pandemie schreckt sogar politische Institutionen weltweit auf. Dass die für den Vogelzug, aber ebenso für die menschliche Ernährung so wichtigen Feuchtgebiete der Erde zu Virenfallen werden könnten, sei »eine riesige Besorgnis«, sagt Musonda Mumba, die Chefin der UN-Konvention zum Schutz der Feuchtgebiete. Auch die Welternährungsorganisation FAO und die UN-Organisation zum Schutz wandernder Arten CMS forderten die Politik auf, dem Problem mehr Aufmerksamkeit zu widmen. »Die Vogelgrippe darf nicht mehr nur als Gefahr für die Geflügelproduktion und die Wirtschaft angesehen werden, sondern muss als erhebliche Bedrohung für die gesamte Wildtierwelt ernstgenommen werden«, fordern sie.

Massentierhaltung ermöglicht Pandemie

Neben mehr Geld für Forschung und Eindämmungsmaßnahmen nach einem Ausbruch fordern Naturschützer und Veterinärexperten konkrete Konsequenzen. Sie plädieren dafür, der Natur mehr von menschlicher Nutzung ungestörte Rückzugsräume zur Regeneration zu geben. »Wir müssen dafür sorgen, dass die Vögel nicht nur in wenigen großen Kolonien brüten können, sondern verteilt auf viele Orte«, betont van den Bossche. »Selbst riesige Seevogelkolonien mit Hunderttausenden von Paaren können in wenigen Tagen ausgelöscht werden. Deshalb brauchen wir überall so viel Natur wie möglich und nicht nur wenige isolierte Schutzgebiete.«

Auch Höfle sieht in mehr Naturschutz eine Antwort auf die Krise. »Es muss auf jeden Fall mehr für den Schutz der Lebensräume und der Kolonien getan werden«, fordert sie. Die Anfälligkeit für das Virus hänge bei einigen Arten wahrscheinlich damit zusammen, dass sie wegen anderer Umweltprobleme bereits unter einem großen Stress stünden. »Es ist sehr wichtig, alles zu tun, um andere Stressfaktoren für die Vogelpopulationen abzumildern. Einige können wir nicht ändern, wie den Klimawandel, doch andere können wir beeinflussen.«

Dazu zählt die Forscherin etwa unsere Art des Umgangs mit Geflügel. »Diese Panzootie hat ihren Ursprung in der Hühnerhaltung und in unserer Art von Tierproduktion, bei der Hunderttausende oder sogar Millionen von Hühnern auf einem einzigen Hof gehalten werden«, berichtet sie. »Das ist eine Fabrik für solche Viren. Solche Systeme müssen wir überdenken.«

Als Hoffnungsschimmer sieht Virologe Harder die Möglichkeit, dass die überlebenden Vögel einen Immunschutz aufbauen und zur geringeren Anfälligkeit künftiger Generationen beitragen. Hinweise darauf gibt es. So zeigen Basstölpel offenbar durch eine schwarze Färbung ihrer gewöhnlich hellen Iris an, dass sie eine Infektion überstanden haben. Als Fortschritt sieht es Harder zudem an, dass die Europäische Union inzwischen die Impfung von Geflügel gegen die Vogelgrippe erlaubt. Das eröffne die Option, Geflügel besser gegen Viruseinfälle aus der Natur zu schützten. Für Wildvögel wünscht er sich einen »Sprung nach vorne« in den internationalen Bemühungen, auch für sie einen Impfstoff zu entwickeln, der unschädlich über eine große Fläche ausgebracht werden kann. »Bislang ist das im großen Maßstab nicht realistisch«, bedauert Harder.

Pionier der Wildvogelimpfung gegen das Virus sind die USA. Dort wurden gerade mehrere Dutzend der vom Aussterben bedrohten Kalifornischen Kondore geimpft. Schließlich leben nur noch rund 300 der Geier in Freiheit.

Naturschützer van den Bossche schöpft Hoffnung aus der Tatsache, dass die Vogelgrippe keine dauerhaften Auswirkungen auf Lebensräume wie Feuchtgebiete habe. »Wenn das Virus einmal verschwunden ist, können sie sich wieder zu wertvollen Refugien zurückentwickeln, in die Vögel zurückkehren können. Bei menschlichem Raubbau wird der Lebensraum dagegen oft so zerstört, dass es keinen Weg zurück gibt.«

Transparenzhinweis des Autors: Die Recherche zu diesem Beitrag wurde durch die Andrea von Braun Stiftung gefördert.

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