Vogelzug: Die wahre Geschichte vom Pfeilstorch
Im Frühjahr 1822 erregte ein sonderbarer Weißstorch in der Nähe von Klütz, einem zwischen Lübeck und Wismar an der Ostsee gelegenen Städtchen, einiges an Aufsehen. Auf einem »den Hrn. Grafen zu Bothmer gehörigen Gute«, so berichtete später das »Freimüthige Abendblatt«, sei zu jener Zeit ein Storch aufgetaucht, »mit einem dünnen über zwei Fuß langen Stocke am Halse, der senkrecht herunterhing und ihn zwar weder im Fliegen noch in seinen sonstigen Bewegungen zu hindern schien, aber von dem die übrigen Störche durch Schnäbelung und Ziehen, wiewohl vergeblich, ihn zu befreien suchten«. Ein paar Tage oder Wochen lang konnten Schaulustige das Tier bestaunen und über die Natur des 80 Zentimeter langen Stocks an seinem Hals sinnieren, dann hatte das Rätseln ein Ende, wie die Zeitung vermerkt: »Er wurde zur Befriedigung der allgemein erregten Neugier endlich am 21sten Mai d. J. dort geschossen.«
Erlegt hatte den Vogel der Gutsbesitzer Christian Ludwig Reichsgraf von Bothmer (1773–1848), doch als dem Landesherrn gebührte die Trophäe Großherzog Friedrich Franz I. von Mecklenburg-Schwerin (1756–1837). Dieser, ein aufgeklärter Monarch und Förderer der Wissenschaften, ließ den Storch mitsamt dem Stock in seinen eigenen Werkstätten unter akademischer Aufsicht präparieren und schenkte ihn der Zoologischen Sammlung der Universität zu Rostock. Dort machte sich umgehend der Arzt und Botaniker Heinrich Gustav Flörke (1764–1835) an die wissenschaftliche Untersuchung des kurios verletzten und nunmehr ausgestopften Vogels. »Das merkwürdige an diesem Storch ist ein hölzerner, mit breiter eiserner Spitze versehener Pfeil, der dem Thier an der rechten Seite des Halses unter der Haut steckt und unten und oben weit aus dem Körper hervor ragt«, hielt der Professor für Botanik und Naturgeschichte an der Universität Rostock fest. »Da die eiserne Spitze oben eingeklemmt und mit Sehnen an dem Ende des Pfeils befestigt ist, so lässt sich auf ein sehr entferntes Winterquartier schließen, wo dieser Storch den Schuss erhalten hat.«
Der Pfeil sei überdies »aus sehr feinaderigem tropischen Holze«, merkte der Botaniker in seinem ersten, an den Rektor seiner Universität gerichteten Bericht vom August 1822 noch an, ging aber nicht weiter auf den wahrscheinlichen Herkunftsort des Geschosses ein. Wenige Wochen später versuchte Flörke in einem ausführlicheren Beitrag für das »Freimüthige Abendblatt« dann doch, die Frage nach der Lage des Winterquartiers des »armen Thiers« etwas genauer zu beantworten: »Wo er den Pfeil bekommen haben möge, lässt sich nur schließen, wenn man ausmittelt, welche wilde Völkerschaft sich gerade solcher Pfeile bedient.« Er vermute, »der Storch möchte wohl an den oberen Armen des Nils gewesen sein.« Der bedächtige Forscher betonte, er komme zu dem Schluss, »ohne einen Beweis dafür aufstellen zu können«.
Kein Mann für Sensationsmeldungen
Der Botaniker, der auch als lutherischer Pfarrer tätig war und dem in einem Nachruf durchaus wohlwollend »eine seltene Biederkeit und Anspruchslosigkeit« attestiert werden sollte, »die ihm die Herzen aller derjenigen gewonnen, welche das Glück hatten, ihn näher kennen zu lernen«, war kein Mann für Sensationsmeldungen. Dabei war seine Entdeckung zweifellos außergewöhnlich. Der Rostocker Pfeilstorch, wie der Vogel nach seinem Aufbewahrungsort genannt wird, hatte die Antwort auf eine uralte Frage buchstäblich unter der Haut getragen. »Er war der erste lebendige Beweis für den Fernzug der Störche bis ins äquatoriale Afrika«, betont Ragnar Kinzelbach, Professor emeritus für Biologie und Ökologie an der Universität Rostock, ein ausgesprochener Kenner der Geschichte des Pfeilstorchs. »Er ist ein Markstein für einen Paradigmenwechsel und für den allmählichen Beginn der wissenschaftlichen Vogelzugforschung.«
Bereits unsere urzeitlichen Vorfahren werden über das alljährliche Verschwinden einzelner Vogelarten und ihr Wiederauftauchen gerätselt haben. Auch den frühesten bekannten Dichtern entging das saisonale Schauspiel nicht, das die Vögel bei ihrer An- und mehr noch bei der Abreise boten. Homer etwa verglich in der »Ilias« den Aufmarsch der griechischen Krieger vor Troja mit »der Gevögel unzählbar fliegenden Scharen«, die sich während des Vogelzugs am Fluss Mäander in Kleinasien versammelten, wo sie »hierhin flattern und dorthin, mit freudigem Schwunge der Flügel« – Jahr für Jahr ein spätsommerlich-herbstliches Naturspektakel am Bosporus etwa, an den Dardanellen oder den Küsten der heutigen Türkei. Von ebendort stammte auch Herodot (um 480–420 v. Chr.), der bereits zu berichten wusste, wohin ein Teil der Vögel weiterzog. Schwalben und Störche würden in Ägypten überwintern, so der weit gereiste Historiker und Geograf, andere zögen sogar noch weiter. »Die Kraniche verlassen, wenn der Winter kommt, das Skythenland und ziehen in die Quellgebiete des Nils.«
Als Aristoteles irrte
Offenbar verfügten schon die alten Griechen früh über einige den jahreszeitlichen Zug der Vögel betreffende Erkenntnisse. Irgendwie aber auch nicht. Aristoteles (384–322 v. Chr.) etwa vermutete, ein Teil der Vögel würde Winterschlaf halten – Störche beispielsweise im Inneren von hohlen Bäumen und Schwalben auf dem Grund von Sümpfen oder Seen. Wieder andere Vogelarten durchliefen einen saisonalen Transformationsprozess. Gartenrotschwänze etwa, so der antike Philosoph und Naturforscher, verwandelten sich über den Winter in Rotkehlchen und im Frühjahr wieder zurück in ihre ursprüngliche Form. Ein naheliegender Gedanke: Während Gartenrotschwänze, wie man heute weiß, Langstreckenzieher sind und in Afrika überwintern, verbringen Rotkehlchen aus Nord- und Osteuropa die kalte Jahreszeit am Mittelmeer – etwa in Griechenland.
Störche bevorzugen feuchte Graslandschaften und verbreiteten sich wahrscheinlich auch im Gefolge des Menschen. Wo unsere Vorfahren Wälder rodeten, um Äcker anzulegen, ließen auch sie sich gerne nieder und bauten ihre Nester in der Nähe menschlicher Siedlungen oder gleich auf den Dächern von Häusern. Da die Vögel Schlangen und Frösche jagen, waren die Tiere den Hausbewohnern stets willkommen. Auf Grund ihrer ausgeprägten Brutpflege galten Störche den Griechen und Römern zudem als Vorbilder sowohl für elterliche Hingabe bei der Aufzucht als auch für die tätige Dankbarkeit der Jungen, von denen man annahm, sie kümmerten sich später ebenso aufopfernd um ihre dann betagten Eltern – etwa indem sie diese auf der langen Reise in den Süden huckepack nehmen würden. Für diese Frömmigkeit gegenüber ihren Vorfahren, so schrieb um 200 n. Chr. der römische Autor Aelian in seinem Werk »De natura animalium« (Vom Wesen der Tiere) unter Berufung auf ein älteres, heute verschollenes Werk, würden die Störche von den Göttern damit belohnt, dass sie, selbst alt geworden, auf ozeanische Inseln zögen, um dort ihren Lebensabend als Menschen zu verbringen. Auch im islamischen Kulturkreis stand und steht der Storch als Hadschi Laklak, der jedes Jahr nach Mekka pilgert, in hohem Ansehen.
Unklares Ziel
Viele der Mythen und Legenden rund um die Störche und ihr alljährliches Verschwinden verraten neben vielem anderem auch, dass die Menschheit bereits sehr früh ein grundsätzliches Wissen vom Vogelzug hatte. »Der Wegzug war unbestritten, das Ziel jedoch unklar«, so der Zoologe Kinzelbach. Auch der vogelkundige Stauferkaiser Friedrich II. (1194–1250) berichtete in seinem Werk »De arte venandi cum avibus« (Von der Kunst, mit Vögeln zu jagen) davon und benannte das Phänomen mit dem Begriff »transitus«. Sein Zeitgenosse, der deutsche Gelehrte Albertus Magnus (Albert von Lauingen, um 1200–1280), hingegen war der Meinung, Störche überwinterten in Sümpfen oder Höhlen.
In der frühen Neuzeit bestand jedoch kaum noch Zweifel am Vogelzug. Einzelne Naturforscher hatten durchaus schon eine Ahnung, wohin die Reise der Vögel ging. Der französische Arzt, Botaniker und Reisende Pierre Bellon (1517–1564) etwa hatte persönlich in Ägypten und der Levante ziehende Störche und Pelikane beobachtet und von ihnen berichtet. Conrad Gessner (1516–1565), ein Schweizer Mediziner und Naturgeschichtler, war einer von mehreren Autoren seiner Epoche, die es wert fanden, die Geschichte des Storchs von Oberwesel für die Nachwelt festzuhalten, der dem Herrn des Hauses, auf dessen Dach er jeden Sommer nistete, eines Frühjahrs wie zum Dank eine Ingwerwurzel als Gastgeschenk aus der Ferne zu Füßen gelegt haben soll – eindeutig ein Mitbringsel aus fremdländischen, überseeischen Gebieten.
Trotz der zahlreichen Indizien setzte sich das Wissen um den Vogelzug jedoch weder unter Gelehrten noch in der Allgemeinheit bleibend durch. Oder es ging wieder verloren, »ganz besonders während des kulturellen Umbruchs im Dreißigjährigen Krieg«, vermutet Kinzelbach. Neue Theorien wurden entwickelt, neue Antworten auf die Frage gesucht, wohin die Vögel entschwinden. Der Naturforscher Charles Morton (1627–1698), Autor der ersten englischen Studie zu dem Thema, kam auf einen besonders originellen Gedanken. Er vermutete, Störche überwinterten – wie auch Kraniche und Schwalben – auf dem Mond. Einen Monat, so schätzte Morton, bräuchten die Vögel für die Strecke zwischen der Erde und ihrem Trabanten. Eine recht kurze Reise also, die sie dank des Fehlens von Luftwiderstand und Schwerkraft recht bequem und meist schlafend bewältigten. Ganz so weit daneben wie der Engländer lag Carl von Linné (1707–1778) zwar nicht, doch selbst der schwedische Begründer der systematischen Biologie war überzeugt davon, Schwalben würden die Winter im Schlamm auf dem Grunde von Seen verbringen.
Die letzten Rätsel des Weißstorchzugs
Mit dem Pfeilstorch von der Ostsee war die Frage nach dem Verbleib der Vögel im Winter zwar noch nicht restlos geklärt, doch an der langen Reise nach Afrika an sich bestand nach dem Mai 1822 zumindest in Fachkreisen kein Zweifel mehr. Mittlerweile ist das Wissen um den Vogelzug schon seit Jahrzehnten Bestandteil der Grundschulbildung, und der Umstand, dass die Tiere auf unterschiedlichen Wegen nach Afrika ziehen, ist heute selbst mäßig interessierten Laien bekannt. Doch Experten rätseln noch immer, warum beispielsweise ein Teil der mittel- und nordeuropäischen Störche für die bis zu 5000 Kilometer lange Reise zu den Winterquartieren auf dem Schwarzen Kontinent die westliche Route über Frankreich, Spanien und die Meerenge von Gibraltar wählt und ein anderer die östliche über den Bosporus, Kleinasien, die Levante und den Sinai.
Unerklärlich ist den Vogelforschern bislang zudem, warum sogar Geschwistervögel unterschiedliche Routen nach Afrika wählen oder warum manche Störche in einem Jahr im Osten um das Mittelmeer ziehen, im nächsten aber die westliche Route bevorzugen. Eine weitere, allerdings bedeutend kleinere Gruppe von Tieren nimmt schließlich die extrem beschwerliche und äußerst gefährliche Überquerung des Mittelmeers von Sizilien nach Nordafrika auf sich. Der Flug über das offene Meer ist für die Vögel lebensbedrohlich, da sich dort die Luftthermik nicht bilden kann, auf die sie als Segelflieger angewiesen sind.
Im Zeitalter von Miniatursendern, Satelliten und GPS sind die Wissenschaftler heute jedoch in der Lage, Tiere auf wenige Meter genau zu lokalisieren, ihren Bewegungen zu folgen und somit viele der individuellen Entscheidungen, die einzelne Störche im Lauf ihres bis zu etwa 35 Jahre langen Lebens treffen, nachzuvollziehen und ihre Konsequenzen zu beobachten. Und wir mit ihnen.
Dank der Animal-Tracker-App des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie in Radolfzell konnten beispielsweise deren rund 300 000 Nutzer während der letzten Monate unter anderem den Weg Alwins verfolgen. Das Weißstorchweibchen war im Frühjahr 2021 in Vorarlberg am östlichen Ende des Bodensees geschlüpft und hatte für den ersten Herbstzug seines Lebens nicht wie die meisten seiner Artgenossen aus dieser Region die Westroute nach Afrika gewählt, sondern sich ausgerechnet für die Monstertour über die Alpen, entlang der italienischen Küste nach Sizilien und von dort über das offene Meer nach Afrika entschieden. Am 1. September landete das Tier sicher auf der Insel und unternahm in den Wochen danach mehrere Versuche, die mindestens 150 Kilometer lange Strecke über das Mittelmeer zu überwinden – vergeblich. Schließlich gab Alwin auf und verbrachte den Winter auf Sizilien. Dort fand die Störchin im Frühjahr 2022 offenbar Anschluss. Alwin lebt seit Ende März zusammen mit 19 Artgenossen zwischen Olivenplantagen und blühenden Wiesen auf der Mittelmeerinsel und machte Mitte Mai noch immer keine Anstalten, an den Bodensee zurückzukehren.
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