Amerigo Vespucci : Vom Banker zum Entdecker
"Es ist nicht einzusehen, warum dieser neue Erdteil nicht Amerige, Land des Americus, oder America genannt werden sollte – nach seinem Entdecker, einem Mann von höchstem Scharfsinn." Als der Kartograf Martin Waldseemüller diese Worte veröffentlicht, ist Christoph Kolumbus gerade ein Jahr tot. Doch nicht den bekanntesten Entdecker der Neuzeit machte Waldseemüller auf seiner 1507 veröffentlichten Weltkarte zum Namenspatron jenes neuen Kontinents, sondern einen Mann, über dessen Leistungen bis heute kontrovers debattiert wird: Amerigo Vespucci.
Mit Waldseemüllers Karte beginnt die Namensgeschichte des neuzeitlichen Amerikas. Doch war Vespucci tatsächlich der eigentliche Entdecker der Neuen Welt? Oder doch nur ein guter Selbstdarsteller, der seine eher mäßigen Leistungen mit großem Geschick aufzubauschen wusste? Fest steht, dass Vespuccis Entdeckerkarriere einen eher ungewöhnlichen Verlauf nahm, selbst nach den Maßstäben jener turbulenten Epoche, in der der Wettlauf zwischen Spanien und Portugal um die einträglichsten überseeischen Besitzungen Heerscharen von Glücksrittern auf die Ozeane trieb. Nichts deutete zunächst darauf hin, dass der 1452 oder 1454 in Florenz geborene Amerigo sein Glück auf schwankenden Schiffsdecks finden sollte. Als Banker in Diensten der mächtigen Medici ist sein Alltag zunächst mehr geprägt von trockenen Zahlenkolonnen als von lockenden Abenteuern.
Dafür hält er sich in seiner Freizeit schadlos: Er liest, was immer ihm über die Reisen der großen Kapitäne seiner Zeit in die Finger kommt, schult sich selbst in Astronomie und Kartografie, sammelt Wissen über den Umgang mit nautischen Instrumenten. Viele Jahre später, in seinem berühmten Reisebericht Mundus Novus, wird er der Welt stolz verkünden, dass er "mehr von Navigation verstand als alle Navigatoren der Welt". Die Grundlagen für den Erwerb dieser Fähigkeiten legt der Autodidakt in jenen Jahren.
Der Finanzier von Kolumbus
Als ihn die Medici 1491 nach Sevilla schicken, kommt Vespucci endlich in direkten Kontakt mit der für ihn so faszinierenden Welt der Entdecker. Die Stadt ist auf dem Weg, sich den Rang des wichtigsten Seehandelsplatzes des Landes zu erobern, hier werden Schiffe ausgerüstet, die die Reichtümer fremder Welten nach Spanien bringen sollen. Das Geld dafür liefern unter anderem italienische Bankhäuser, liefern auch die Medici über ihren Vertreter vor Ort, Amerigo Vespucci. Dass Kolumbus im August 1492 zu seiner großen Entdeckungsfahrt aufbrechen kann, verdankt er auch dem Geschick des Bankiers aus Florenz, der mit ihm eine Gesellschaft zur Finanzierung der Reise gründet.
Überhaupt Kolumbus: Zu dem Admiral entwickelt Vespucci über die Jahre ein Verhältnis, das von tiefer Wertschätzung geprägt ist. In einem Brief ein Jahr vor seinem Tod gibt Kolumbus seinem Sohn den Rat, sich bei Problemen vertrauensvoll an Vespucci zu wenden. Ihre gemeinsamen Finanzgeschäfte enden allerdings bereits 1495. Vespucci, inzwischen zum Chef der Medici-Filiale in Sevilla aufgestiegen, will nicht mehr die Fahrten anderer finanzieren, ihn drängt es selbst aufs Meer.
Und damit wird die Überlieferung dunkel. Für viele Details seiner Entdeckerbiografie haben wir nur Vespucci selbst als Gewährsmann. Bis heute streiten sich die Gelehrten über den Wahrheitsgehalt etlicher der von ihm geschilderten Episoden. Hat Vespucci zwei, drei oder vier Reisen unternommen? Und wie weit ist er dabei tatsächlich in unbekannte Regionen vorgestoßen? Als gesichert gelten nur zwei Expeditionen: 1499 mit einer spanischen Flotte an die Nordküste Südamerikas, wo er die Mündung des Amazonas erkundet und auf "die viehischste und wildeste Menschengattung trifft, die man nur finden kann".
Vom Geldgeber zum Konkurrenten
Wild reagiert auch der einstige Geschäftspartner Kolumbus, inzwischen Gouverneur auf Hispaniola, als die Schiffe der Flotte seinen Machtbereich erreichen. Nicht ganz zu Unrecht vermutet er, dass nicht nur Entdeckerneugier hinter dem Unternehmen steckt: Alte Rivalen des Admirals sind die Geldgeber der Expedition, Kolumbus fürchtet, man könnte ihm seine Position in der Neuen Welt streitig machen. Ehe die Auseinandersetzung blutig eskaliert, lässt der Kapitän der Flotte, Alonso de Ojeda, seine Schiffe Kurs Richtung Heimat nehmen.
Die zweite Reise führt Vespucci, diesmal als Navigator einer portugiesischen Flotte, im Jahr 1501 erneut an die Ostküste Südamerikas. Wieder geht es entlang der Küste nach Süden: "Und so segelten wir ungefähr 600 Leguas [zirka 3500 Kilometer, Anm. d. Red.] die Küste entlang und gingen oft an Land. Dabei unterhielten wir uns mit den Einwohnern dieser Länder und wurden von ihnen wie Brüder empfangen", heißt es im Mundus Novus. Dass die fremden Brüder gelegentlich ihresgleichen verspeisen, vergisst Vespucci allerdings nicht zu erwähnen, ebenso wie gewisse galante Details, die fremden Schwestern betreffend.
Es ist vor allem diese Reise, die Vespuccis Entdeckerruhm begründet – genauer: jener Reisebericht Mundus Novus, der in zahlreiche Sprachen übersetzt nach Drucklegung im Jahr 1503 rasche Verbreitung fand. Ursprünglich als Brief an seinen Mentor Lorenzo di Pierfrancesco Medici konzipiert, zeichnet er ein lebendiges Bild des neu entdeckten Landes und seiner Bewohner. Dass es sich tatsächlich um einen Kontinent und nicht um eine große Insel handeln muss, ist Vespucci nach der monatelangen Fahrt entlang der brasilianischen Küste bewusst. Und so ist der lateinische Titel dieses frühneuzeitlichen Bestsellers denn auch sehr bewusst gewählt: Mundus Novus – neue Welt.
Doch welche Rolle spielte Vespucci tatsächlich bei der Erkundung dieser Welt? War er nur eine Art privilegierter Passagier an Bord, der seine unter dem Kommando anderer gemachten Beobachtungen geschickt als Eigenleistung verpackt unters Volk brachte – wie es jene Historiografen unterstellen, die Kolumbus den alleinigen Entdeckerruhm zubilligen möchten? Tatsächlich war Vespucci – anders als Kolumbus – auf beiden Reisen nicht Kommandant der Flotte: 1499 diente er unter Ojeda, 1501 hieß der Kapitän Goncalo Coelho.
Wegweiser bei der Irrfahrt
Seine tatsächliche Funktion verdeutlicht eine Passage aus dem Mundus Novus: "Und wenn sich die Gefährten nun nicht an mich gewendet hätten, der ich Kenntnisse in Kosmografie besaß, hätte kein Navigator unsere Position auf 500 Leguas bestimmen können. Denn wir waren vom Kurs abgekommen und irrten umher, einzig die Instrumente Quadrant und Astrolabium lieferten uns exakte Werte." Als Kosmografen bezeichneten Zeitgenossen Vespuccis jene kleine Elite von Männern, die über die aktuellsten geografischen und astronomischen Erkenntnisse jener Zeit verfügten und mit Hilfe von Instrumenten auch auf hoher See in der Lage waren, eine einigermaßen genaue Positionsbestimmung vorzunehmen – anders als der klassische Navigator alter Schule, der sich unter anderem anhand von Landmarken orientierte und dessen Künste für die Hochseeschifffahrt nur bedingt tauglich waren.
Tatsächlich müssen wir uns Vespucci wohl als eine Art Lotsen vorstellen, der immer dann zum Einsatz kam, wenn der hauptamtliche Navigator mit seinem Latein am Ende war. Dass ihn diese Aufgabe nicht vollständig ausfüllte, belegen die ausgedehnten Landgänge, die er immer wieder unternahm und die ihn insgesamt über mehrere Monate von Bord fernhielten. Nicht zuletzt die dabei gewonnenen Einblicke in das Leben der indigenen Bevölkerung verhalfen seinem späteren Bericht zu solcher Popularität.
Für Martin Waldseemüller, der zu den eifrigsten Lesern der Schriften Vespuccis zählte, bestand jedenfalls kein Zweifel darüber, wem der Entdeckerruhm gebührte – und damit das Recht, dem neuen Kontinent seinen Namen zu geben. Und so ist seine Weltkarte von 1507 das erste historische Dokument, das die Neue Welt als "America" bezeichnet. Ein Dokument, das bis heute nichts von seiner Faszination verloren hat: Stolze zehn Millionen Dollar war der Bibliothek des US-Kongresses das letzte noch existierende Exemplar dieser Karte wert. 2001 erstand man das inzwischen zum UNESCO-Weltkulturdokument erklärte Kartenwerk von seinem deutschen Vorbesitzer. Heute ist es in den Räumen der Bibliothek in Washington zu bewundern – eine viel bewunderte Geburtsurkunde des neuzeitlichen Amerikas.
Für Vespucci sollten sich die Reisen übrigens nicht nur in Ruhm und Ehre auszahlen. Spaniens König Ferdinand II. verzieh dem Exbankier mit Entdeckergenen seine Tändelei mit dem portugiesischen Erzrivalen und ernannte den nach Sevilla Zurückgekehrten zum königlichen Chefnavigator – ein gut dotierter Titel, den Vespucci bis zu seinem Tod am 22. Februar 1512 behalten sollte.
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