Geflüchtete Wissenschaftler: Vom Flüchtlingslager ins Labor
Wie eine gelebte Willkommenskultur aussieht, kann derzeit an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen beobachtet werden. Auch dort hat sich das Leben verändert, seitdem Woche für Woche tausende Menschen aus Krisengebieten in Deutschland Zuflucht suchen. Kaum eine Uni bietet keine Sonderprogramme für Flüchtlinge an: Es gibt Sprach- und Integrationskurse, spezielle Praktikumsplätze, Flüchtlingspatenschaften durch Studierende oder die Möglichkeit, vorläufig als Gasthörer am Unibetrieb teilzunehmen und sogar Leistungspunkte zu erwerben, um irgendwann später einmal ins reguläre Studium einzusteigen. An mehreren juristischen Fakultäten bieten Studenten und Dozenten im Rahmen einer "Refugee Law Clinic" sogar eine kostenlose Rechtsberatung an.
All das sind nur wenige Beispiele für die Ideenvielfalt und das Engagement, mit dem sich viele deutsche Hochschulen inzwischen in Sachen Flüchtlingskrise hervortun. Sie zeigen damit auch: Herkunft spielt in der Wissenschaft keine Rolle.
Für Horst Hippler, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, ist das eine Selbstverständlichkeit: "Wir engagieren uns bereits seit Monaten intensiv für die Integration von Flüchtlingen. Allerdings haben die Hochschulen die Maßnahmen zum Großteil selbst finanziert."
Experten rechnen mit bis zu 50 000 studierfähigen Flüchtlingen
Um zu verhindern, dass die akademischen Integrationsbemühungen an knappen Kassen scheitern, hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) jetzt ein millionenschweres Hilfspaket angekündigt; allein für 2016 stehen 27 Millionen Euro bereit. Die sind auch dringend nötig: Immerhin ist nach Informationen des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) in den nächsten Jahren mit etwa 30 000 bis 50 000 studierfähigen Flüchtlingen zu rechnen.
Das wissen auch die großen Forschungseinrichtungen. Dort steht das Thema seit Wochen ganz oben auf der Tagesordnung. Die Leibniz-Gemeinschaft hat sich zusammen mit der Fraunhofer- und der Max-Planck-Gesellschaft im September zu einer "Wissenschaftsinitiative Integration" zusammengeschlossen. Ab 2016 sollen unter dem Dach der Initiative Förderangebote, Kurse und Praktika starten, die Flüchtlinge fit für das Studium oder den Arbeitsmarkt machen. Auch bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Helmholtz-Gemeinschaft sind ähnliche Hilfsprogramme in Vorbereitung.
"Die Freiheit von Forschung und Lehre ist ein kostbares und nicht selbstverständliches Gut"Barbara Sheldon
Der Bedarf an solchen Förderangeboten ist da. Das kann der Deutsche Akademische Austauschdienst bestätigen. Für die gut 200 Stipendienplätze, die der DAAD zu diesem Wintersemester für junge Flüchtlinge aus Syrien ausgeschrieben hat, gingen mehr als 5 000 Bewerbungen ein. Vor dem Start in das Studium oder die Promotion in Deutschland erhielten die Stipendiaten zunächst einen viermonatigen Intensivsprachkurs.
Für bereits arrivierte Wissenschaftler sollte die Sprache nicht das Hauptproblem sein, um an deutschen Forschungseinrichtungen Fuß zu fassen. Wer in Aleppo oder Damaskus wissenschaftlich gearbeitet hat, der ist in den allermeisten Fällen den Austausch mit internationalen Fachkollegen gewohnt oder hat gar in Europa studiert oder promoviert. "Die Wissenschaft und ihre Institutionen sind heute darin geübt, internationales Publikum aufzunehmen. Und sie ist daran dezidiert interessiert", da ist sich Matthias Kleiner, Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, sicher.
Unterstützung für verfolgte Wissenschaftler
Die FU Berlin sieht das genauso. Die Freie Universität ist Mitglied bei "Scholars at Risk", einem internationalen Zusammenschluss von wissenschaftlichen Institutionen, die sich für die akademische Freiheit starkmachen und verfolgte Forscher unterstützen. Zum Beispiel durch Gastaufenthalte an einer der rund 250 Mitgliedsuniversitäten weltweit. An der FU Berlin haben zurzeit fünf Wissenschaftler aus Syrien und dem Iran ein entsprechendes Stipendium. Das ist bislang allerdings eine große Ausnahme in der deutschen Hochschullandschaft.
An der Uni Köln wird ab Februar 2016 ein syrischer Sozialphilosoph der erste Wissenschaftler sein, der dank des "Scholars at Risk"-Netzwerks seine Arbeit fortsetzen kann. Neben diesen beiden Unis ist lediglich noch die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt bei dem Netzwerk mit dabei – in der Schweiz sind immerhin sieben Universitäten bei "Scholars at Risk" aktiv.
Dass sich daran etwas ändert, hofft man auch bei der Alexander von Humboldt-Stiftung. Einen Beitrag dazu soll die vor wenigen Wochen angekündigte "Philipp Schwartz-Initiative" leisten. In einer ersten Runde sind 20 Stipendien für ausländische Forscher geplant, die in ihren Heimatländern von Krieg und Verfolgung bedroht sind. "Wir wollen so ein Zeichen für die Weltoffenheit der deutschen Wissenschaft setzen", erklärt der Präsident der Humboldt-Stiftung Helmut Schwarz.
Neben der konkreten Hilfe für die Wissenschaftler, die dank der Stipendien für zwei bis drei Jahre an deutschen Instituten weiterforschen können, will die Initiative auch generell auf die Situation von Forschern mit Fluchterfahrungen aufmerksam machen, etwa mit Informationsveranstaltungen und Konferenzen. "Wir hoffen, mit dem Projekt ein stärkeres Bewusstsein dafür zu schaffen, dass gefährdete Forschende auch eine wichtige Rolle für Universitäten in Deutschland spielen können. Und wir möchten daran erinnern, dass die Freiheit von Forschung und Lehre ein kostbares und nicht selbstverständliches Gut ist", ergänzt Barbara Sheldon, die die Initiative seitens der Humboldt-Stiftung betreut.
Nicht zufällig erinnert das Programm dabei mit seinem Namen an Philipp Schwartz. Der Pathologe mit jüdisch-ungarischen Wurzeln musste 1933 vor den Nazis fliehen und gründete daraufhin zuerst eine Beratungsstelle für deutsche Wissenschaftler, aus der später die "Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland" hervorging. Mehr als 2000 aus Deutschland vertriebenen Forschern konnte diese Vereinigung eine Arbeitsstelle im Ausland vermitteln. Für die 20 Stipendien, die nun zur Verfügung stehen, können nach aktuellem Zeitplan ab Mitte Dezember Anträge gestellt werden.
Belastbare Informationen zum Bildungsstand der Flüchtlinge fehlen
Doch wie viele solcher Hilfsangebote werden tatsächlich benötigt? Sprechen wir von 50 oder von 500 hochqualifizierten Wissenschaftlern, die mit ihrem Knowhow unsere Forschungslandschaft potenziell bereichern könnten? Irgendwo dazwischen wird sich die Zahl vermutlich bewegen, schätzen Experten. "Die Datenlage zum Bildungshintergrund von geflüchteten Menschen in Deutschland ist allgemein leider sehr dünn. Über die Anzahl geflüchteter Wissenschaftler wissen wir fast nichts", gesteht Katharina Maschke vom DAAD ein.
"Über die Anzahl geflüchteter Wissenschaftler wissen wir fast nichts"Katharina Maschke
Ob es sich am Ende also nur um eine zweistellige oder vielleicht doch eine mittlere dreistellige Anzahl handelt, darauf vermag derzeit niemand eine Antwort zu geben. Auch die Experten beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) müssen hier passen, selbst das Ausländerzentralregister (AZR) hilft nicht weiter.
Kontakte knüpfen über Onlinenetzwerke
Für die Wirtschaftswissenschaftlerin Carmen Bachmann von der Uni Leipzig ist die Frage nach der konkreten Anzahl geflüchteter Forscher ziemlich nebensächlich. Sie hat im September die Plattform "Chance for Science" gestartet und erklärt: "Uns geht es um den direkten Kontakt zwischen geflüchteten und in Deutschland lebenden Wissenschaftlern. Es ist wahnsinnig zermürbend, wenn man eigentlich geistige Arbeit gewohnt ist und dann keine Möglichkeit mehr dazu hat."
Im Moment besteht die große Herausforderung noch darin, eben solche Kontakte herzustellen. Das kleine ehrenamtliche Team von "Chance for Science" ist deshalb seit Wochen in Flüchtlingsunterkünften unterwegs, um dort aktiv nach Akademikern zu suchen. Das Engagement trägt erste Früchte. Carmen Bachmann berichtet über positive Erfahrungen: "Wenn sich Hochschullehrer gelegentlich mit geflüchteten Fachkollegen treffen oder sie mit Fachartikeln versorgen, kann das eine Bereicherung für beide Seiten sein."
Auch die EU-Kommission hat das zwischenzeitlich erkannt. Im Portal "science4refugees" können sich Asyl suchende Wissenschaftler anmelden und ein Profil mit ihrem akademischen Werdegang und ihren Arbeitsschwerpunkten erstellen. Umgekehrt können Forschungseinrichtungen offene Positionen und Praktika mit dem Label "science4refugees" kennzeichnen. Insgesamt 140 davon sind dort aktuell europaweit verzeichnet. Das ist freilich nur ein erster Schritt. Bis ein geflüchteter Forscher hier in Europa oder Deutschland tatsächlich seinen Job im Labor antreten kann, sind oft noch weitere Hürden zu überwinden.
Grenzen der akademischen Hilfsbereitschaft
Und dafür braucht es nicht zuletzt auch Geduld und Glück. Denn es ist keineswegs damit getan, dass aufnahmebereite Hochschulen und Wissenschaftler aneinander Interesse haben, wie der Fall einer jungen Archäologin aus Syrien zeigt. Bereits vor zwei Jahren hatte sie als Studentin bei Ausgrabungen in Jordanien einige Wissenschaftler aus Köln kennen gelernt. Der Kontakt blieb bestehen, auch nachdem die junge Frau ihr Studium erfolgreich absolviert hatte. An der Universität Köln wurde für sie ein Platz im Promotionsprogramm organisiert, die Garantie für ein dreijähriges Stipendium inklusive.
Doch die syrische Archäologin hat die Domstadt bis heute nicht gesehen: Nach ihrer Flucht über die Balkanroute landete sie in einem Flüchtlingslager in der Lüneburger Heide. Das ist in Niedersachsen und nicht in Nordrhein-Westfalen – und somit im falschen Bundesland.
In solchen Fällen nützen auch Förderprogramme und Absichtserklärungen der großen deutschen Forschungseinrichtungen nichts. Und auch nicht das Engagement von Johannes Müller, der an der Uni Köln die Abteilung für Internationale Wissenschaft leitet und sich seit Wochen intensiv bemüht, der syrischen Archäologin den Weg nach Köln zu ebnen. Die junge Wissenschaftlerin wird sich weiter gedulden müssen, bis irgendwann ihr Asylverfahren beendet ist. Der Sonderforschungsbereich 806, an dem die Doktorandin erwartet wird, trägt übrigens den Titel "Our way to Europe".
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