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Pharmaforschung: Vom Risiko vorbeugender HIV-Medikamente

Eine besondere Art von Nebenwirkung sahen die US-Gesundheitsbehörden 1998 nicht voraus, als sie der Viagra-Pille 1998 die Zulassung erteilten: die Zunahme von Geschlechtskrankheiten unter Männern, die dank des Medikamentes sexuell wieder deutlich aktiver sein konnten. Ein ähnlich gelagertes Problem könnten schon bald neue, hochwirksame Mittel gegen eine HIV-Ansteckung aufwerfen: Haben sie womöglich negative Folgen für die Eindämmung der Krankheit, weil sich mit der Einnahme der Mittel durch Gesunde deren Sexualverhalten ändert?
HI-Viren knospen aus einer T-Zelle
Mehrere Studien haben im vergangenen Jahr belegt, dass manche der Wirkstoffe, die in HI-Infizierten das Virus eindämmen, auch die Infektion mit dem Erreger verhindern. Nun könnten Menschen, die sich durch die Medikamente geschützt wähnen, aber riskanteren Sexualpraktiken zuneigen – ein als Risikoenthemmung bekanntes Phänomen. Das würde die Vorteile der Medikation zunichte machen und am Ende den Kreis der Betroffenen vielleicht sogar erweitern. Zudem könnte sich in all jenen, die das Medikament nehmen und mit dem Virus in Kontakt kommen, resistente Virenstämme entwickeln – und in der Folge ausbreiten.

"Da ist uns ein wunderbarer wissenschaftlicher Durchbruch gelungen", konstatiert Kevin Frost, Leiter der Foundation for AIDS Research in New York City, "nur: was ist er in der Praxis eigentlich wert?" Nicht nur diese Frage wird die AIDS-Forscher in den kommenden Tagen auf einem Meeting beschäftigen, das vom HIV-Kooperationsforschungforum nach Washington DC einberufen wurde. Antworten werden umso dringlicher gesucht, seit im Januar das Pharmaunternehmen Gilead aus Foster City in Kalifornien neue Pläne vorgestellt hat: Noch in diesem Jahr möchte Gilead die US-Gesundheitsbehörde FDA um eine Zulassung des HIV-Medikaments Truvada auch für Gesunde bitten. Dann soll das Mittel auch zur Präexpositionsprophylaxe (PrEP) eingesetzt werden.

Ein wunderbarer wissenschaftlicher Durchbruch. Aber was ist er wert?
(Kevin Frost)
Truvade vereint die beiden Wirkstoffe Tenofovir und Emtricitabin und ist schon in mehreren klinischen PrEP-Studien getestet worden. In drei klinischen Tests, in denen ein positiver Effekt der PrPE gezeigt werden konnte, hatten die tägliche Einnahme der Pille das Risiko der Probanden, sich mit HIV zu infizieren, um 44 bis 73 Prozent gesenkt – die Wirksamkeit hing dabei vor allem davon ab, wie strikt die Probanden die Einnahmeroutine befolgt hatten. Zwar benötigen gerade die ärmsten Länder der Welt PrEP am dringendsten – eine Zulassung in den USA würde den Markt für Truvada aber drastisch vergrößern; allein hier hat das Medikament im letzten Jahr 2,65 Milliarden US-Dollar eingespielt.

Die US-Gesundheitsbehörde würde auf unbekanntes Terrain vorstoßen, wenn sie zukünftig auch noch solche Themenkomplexe wie die Risikoenthemmung oder die Resistenzentwicklung berücksichtigen müsste. "Soll die FDA sich wirklich um Populationsentwicklungen und ähnliches kümmern?", fragt sich zum Beispiel Jur Strobos, der stellvertretende Leiter des HIV-Kooperationsforschungforums.

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Aus klinischen Studien lässt sich selten eine eindeutige Richtschnur ableiten. In einigen der erfolgreich verlaufenden Testreihen zeigte sich, dass Probanden während des Zeitraums, in dem sie die PrEP erhielten, sogar häufiger Kondome benutzten – was die Risikoenthemmungshypothese entkräftet. Und nur in seltenen Fällen entwickelten sich Resistenzen, die zudem die Behandlung der Patienten nie gefährdeten.

Aber: Die Wirklichkeit sieht anders aus als ein klinischer Test, in dem Probanden – streng kontrolliert und intensiv beraten – monatlich auf HIV untersucht werden. Bei PrEP "denkt man schnell einfach an eine Pille – dabei ist eigentlich allen klar, dass PrEP viel mehr bedeutet und viele Bereiche berührt", meint Mitchell Warren. Und wie würde man sicherstellen, dass die für das Programm unabdingbaren Tests und das Monitoring tatsächlich implementiert werden können? "Eine ganz wichtige Frage", findet der Leiter der AIDS Vaccine Advocacy Coalition in New York City.

Die US Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta, Georgia, empfehlen, die Patienten einmal auf HIV zu testen, bevor sie die erste Dosis Wirkstoffe überhaupt erhalten – und dann regelmäßig wieder in Zwei- bis Dreimonatsabständen. Außerdem könnte die FDA die Pharmafirmen auch verpflichten, eine Datenbank der behandelten Patienten zu pflegen und von Teilnehmern jeweils negative HIV-Tests einzufordern, bevor sie eine neue Medikamentendosis erhalten.

Schwer zu beantworten bleibt dann immer noch die Frage, wen man eigentlich in die PrEP-Behandlungsgruppe aufnehmen will. Die CDC hat gerade erst mitgeteilt, dass die Rate der Neuinfektionen in den US auf einem stabilen Niveau stagniert, unter jungen Männern, die Sex mit anderen Männern haben, dagegen steigt. Nachdem diese Gruppe aber schon jetzt alle verfügbaren Mittel zur Prävention außen vor lässt – wie groß sind wohl die Chancen des medizinischen Personals einer Studie, sie zur regelmäßigen täglichen Pilleneinahme zu bewegen?

In vielen unterentwickelten Ländern ist noch schwerer zu entscheiden, wer die Prophylaxe erhält und wer nicht – meist sind vor Ort ja nicht einmal genügend Gelder vorhanden, um die bereits mit HIV infizierten Menschen zu behandeln. Eine PrEP würde hier pro Patient und Jahr einige hundert US-Dollar kosten – in den Industrienationen wohl mehrere tausend. Aber selbst wenn die Behandlungskosten auf unter einen Dollar pro Tag sinken würden: Die Entwicklungsländern wären immer noch gezwungen zu entscheiden, ob zusätzliche Hilfe eher allen zukommen soll, die schon unter der Krankheit leiden, oder ob sie Gelder in die mögliche Verhütung neuer Infektionsfälle stecken. Myron Cohen, Arzt und Forscher an der University of North Carolina in Chapel Hill, weist darauf hin, dass sich etwa die Hälfte aller jungen Frauen in den Subsahara-Staaten Afrikas mit HIV infiziert, bevor sie 25 Jahre alt sind. "Das ist nicht hinnehmbar – diese Frauen könnte man sich durchaus als PrEP-Empfänger vorstellen", findet Cohen.

In Hochrisikoländern steigt das Kosten-Nutzen-Verhältnis der PrEP. Und dennoch: An einige ausgewählte Bevölkerungsgruppen Medikamente zu verteilen, dürfte sicher zur politischen Gratwanderung für finanziell schlechtgestellte Staaten werden. Denn "selbst wenn man sicher ist, dass der größtmögliche medizinische Gewinn nur dann zu erreichen ist, wenn man – zum Beispiel – Medizin an Sexarbeiterinnen verteilt: Die beschränkten Mittel zu Gunsten dieser Hochrisikogruppe abzuzweigen und sie anderen vorzuenthalten, die sie gerade dringend benötigen – das", fasst Cohen zusammen, "wird nur äußerst schwer zu vermitteln sein".

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