Strömungsdynamik: Vom Winde verweht
Was lässt sich nicht alles berechnen: vom zig Millionen entfernten Landeplatz auf dem Mars bis zum quantenmechanisch komplexen Zustand. Aber wehe, wildes Fahnengeflattere soll in eine Formel gepresst werden.
Da weht sie nun, die Flagge, der Stolz der Nation und das Symbol der Macht. Jedes Kind ist von solch einem Anblick fasziniert und selbst Staatsoberhäupter verneigen sich ehrfurchtsvoll. Je stärker sie dem Winde trotzt, desto imposanter fliegen die Fetzen. Nur: Warum flattert sie überhaupt und steht nicht ruhig in der Luft – selbst bei konstant kräftiger Brise von vorn?
Viele haben sich darüber bereits den Kopf zerbrochen. Theorien wurden ersonnen von Kármán, Helmholtz, Kelvin, Theodorsen und vielen anderen. Formeln wurden aufgestellt, Terme integriert oder differenziert, Wurzeln gezogen und idealisierte Grenzwerte angenommen. Zum Schluss glaubte man, das Flattern von Fahnen und Tüchern im Wind – sowie entsprechende Wellenbewegungen flexibler Materialien in Flüssigkeiten – gehe zurück auf eine Kombination von so genannten Kármán'schen Wirbeln und Kelvin-Helmholtz-Instabilitäten.
Kármán'sche Wirbelstraßen entstehen beispielsweise hinter zylinderförmigen Gegenständen, die von Flüssigkeiten oder Gasen umströmt werden. An gegenüberliegenden Abrisskanten lösen sich auf der einen Seite des Hindernisses linksdrehende, auf der anderen Seite gegenläufig rechtsdrehende Wirbel ab.
Beeindruckende Wirbel dieser Art finden sich in der Atmosphäre. Sie bilden sich hinter Bergen oder im Lee von Inseln. Die Wirbel können dabei durchaus einige Kilometer Durchmesser erzielen und sich über Hunderte von Kilometern hinziehen. Gefährlich sind derartige bodennahe Windschleppen, die von den Tragflächen landender oder startender Flugzeuge ausgehen. Damit nachfolgende Maschinen nicht in diese Turbulenzen geraten, halten sie daher jeweils deutlichen Sicherheitsabstand.
Die Kelvin-Helmholtz-Instabilität beschreibt dagegen das Verwirbeln zweier paralleler Flüssigkeits- oder Gasströmungen entgegengesetzter Richtung. An der labilen Grenzschicht entstehen auch ohne Hindernis Turbulenzen, da auf die dort befindlichen Flüssigkeits- oder Gasmoleküle extreme, entgegengesetzt gerichtete Kräfte wirken. Auch dieser Effekt trägt – wie die Kármánschen Wirbelstraßen – zur Wolkenbildung und zum Wettergeschehen auf der Erde bei.
"Alles Quatsch!", meinen Médéric Argentina und Lakshminarayanan Mahadevan von der Harvard-Universität. Die Frequenzen der sich von einer wehenden Fahne ablösenden Kármán'schen Wirbel seien vollkommen andere als die Flattergeräusche vermuten lassen, und die Kelvin-Helmholtz-Instabilitäten gehen von ganz anderen Grundvoraussetzungen aus.
Bei der Berechnung des flatterhaften Verhaltens von Fahnen boten die beiden Harvard-Forscher alles auf, was die Strömungslehre und Mechanik flexibler Stoffe an Formeln zu bieten hat: Euler'sche Bewegungsgleichungen, Navier-Stokes-Gleichungen, Youngs Elastizitätsmodul, Reynolds-Zahl und wie sie alle heißen. Das Resultat: Eine komplizierte Formel, die nicht weniger komplex ineinander verschachtelte funktionale Bestandteile enthält. Diese unterliegen wiederum unterschiedlichen Randbedingungen wie der Windgeschwindigkeit, der Steifheit des Stoffes, aus dem die Fahne besteht, deren Länge, Breite und Dicke und vielen mehr. Die Harvard-Wissenschaftler lösten die Gleichung daher selbst ausschließlich numerisch.
Mit anderen Worten: Die Berechnung zeigt zwar sehr schön, dass man auch dieses Problem mathematisch einigermaßen elegant in den Griff bekommt. Sie ist aber vollkommen ungeeignet, um seinem Sohn oder seiner Tochter zu erklären, warum eine Fahne so schön im Winde flattert. Es bleibt also, sich ergriffen an dem Anblick zu erfreuen.
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