News: Vorausschauendes Sprachzentrum
Damit ist jedoch keineswegs eine schicksalhafte Deutung irgendwelcher Symbole gemeint, sondern vielmehr das Assoziationsvermögen, das uns warnt: "Wenn dieses Glas auf den Boden fällt, dann geht es kaputt." Oder das Lücken in Bildern oder der Umgangssprache unbewusst ausgleicht, so dass wir den Sinn der Information rekonstruieren können, ohne sie vollständig erhalten zu haben.
"Dass die beiden Bewusstseinsleistungen, Sprachverarbeitung und zukunftsgerichtetes Abstraktionsvermögen, räumlich assoziiert sind, wirft ein vollkommen neues Licht auf die Sprachevolution," resümieren die Forscher um Amanda Bischoff-Grethe. Aus der Perspektive der Informationsverarbeitung ist Sprache nur ein Reiz von vielen, die diese Region aktivieren. Aus evolutionärer Sicht könnte in dem assoziativen Vermögen dieses Areals die Wurzel der Sprachentwicklung liegen. Das heißt, die Entdeckung deutet darauf hin, dass unsere Fähigkeit zur Sprache von der Anlage abstammt , bestimmte Geschehen unbewusst vorherzusehen.
Das Forscherteam stieß auf diesen Zusammenhang, als es untersuchte, welche Hirnareale aktiviert werden, wenn die Probanden bestimmen sollen, welches das nächste Ereignis in einer Sequenzabfolge sein wird. Die Hirnaktivität wurde mittels Magnetresonanz Tomographie aufgezeichnet, während die Versuchspersonen sinnvolle und sinnlose Bildsequenzen betrachteten.
Das Wernicke'schen Sprachzentrum ist ein sensorisches Sprachzentrum und liegt zwischen den Brodmann-Arealen an den Seiten des Gehirns. Bei Rechtshändern sitzt es in der Regel in der linken, bei über der Hälfte aller Linkshänder in der rechten ersten Scheitelwindung der Großhirnrinde. Seit der ersten Beschreibung – 1874 durch den deutschen Neurologen Carl Wernicke – galt die Region als das Zentrum für die Verarbeitung sowohl gesprochener als auch geschriebener Sprache. Patienten, denen diese Region durch einen Unfall zerstört wurde, sind nicht mehr in der Lage, verständlich zu sprechen oder die Sprache anderer zu verstehen.
Die aktuelle Arbeit der Wissenschaftler weist darauf hin, dass die Fähigkeit Sprache zu erkennen darin verwurzelt ist, wie wir Dingen einen Sinn geben; nämlich indem wir sie in einen systematischen Gesamtkontext einbetten. Dessen Einzel-Elemente müssen nicht zwingend aus Worten oder Phrasen bestehen. Auch visuelle Reize können durch das vorausblickend-assoziative Zentrum verarbeitet werden. Sprachliche Informationen sind nach Ansicht der Forscher sogar recht einfach in einen assoziativen Kontext zu stellen, da sie nach normierten grammatikalischen und syntaktischen Regeln formuliert werden.
Möglicherweise führen diese Ergebnisse zu einem besseren Verständnis und zu neuen Möglichkeiten bei der Behandlung der Lernschwäche Dyslexia. Menschen, die daran leiden, haben Schwierigkeiten beim Lesen, weil sie Worte verdrehen oder einzelne Buchstaben vertauschen. Häufig gehen mit den Störungen auch Schwierigkeiten beim Rechnen, Schreiben und Verstehen gesprochener Sprache einher. Nach Ansicht der Forscher gibt es Hinweise darauf, dass Dyslexia eng mit dem Vermögen in Zusammenhang steht, Dinge in eine zeitliche Reihenfolge zu bringen.
Siehe auch
- Spektrum Ticker vom 9.6.1999
Wenn einem Hören und Lesen vergeht
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich) - Spektrum Ticker vom 26.4.1999
Umzug im Gehirn
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich) - Spektrum Ticker vom 11.5.1998
Musik erweitert den Horizont - Spektrum Ticker vom 4.3.1998
Warum das Lesen so schwer fällt
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich)
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