Der Marshmallow-Test: Vorboten für ein gutes Leben
Wahrscheinlich haben Sie schon einmal vom »Marshmallow-Test« gehört: Ein Kind bekommt ein Marshmallow vorgesetzt und hat folgende Wahl: es gleich zu essen – oder 15 Minuten zu warten und dafür noch ein zweites zu bekommen. Eine klassische Studie des Psychologen Walter Mischel zeigte: Jene Kinder, die es schaffen, auf das zweite Marshmallow zu warten, haben als Erwachsene mehr Erfolg im Leben. Sie verfügen über einen höheren Bildungsabschluss, bessere Gesundheit und mehr soziale Kontakte.
Seit diesen frühen Experimenten in den 1960er und 1970er Jahren haben Forschende immer wieder festgestellt, dass sich der weitere Lebensverlauf schon im Kindergartenalter abzeichnet. Ausgestattet mit besseren sozialen und emotionalen Fertigkeiten, mit mehr Motivation und mehr Selbstkontrolle erreichen Kinder demnach mehr in Sachen Bildung und Beruf, und sie leben länger sowie gesünder.
Nun haben meine Kollegen und ich in einer neuen Studie eine weitere Verbindung zwischen dem Verhalten in der Kindheit und dem Erfolg im späteren Leben entdeckt. In der medizinischen Fachzeitschrift »JAMA Psychiatry« berichten wir, dass Kindergartenkinder, die laut Beobachtern unaufmerksam erschienen, im Alter von 33 bis 35 Jahren weniger verdienten. Diejenigen, die als »prosozial« beurteilt wurden – zum Beispiel als freundlich, hilfsbereit und rücksichtsvoll –, verfügten später über ein höheres Einkommen.
Die Fähigkeit eines Kindes, eine Belohnung auf später zu verschieben, mag für ein erfolgreiches Leben wichtig sein, doch Intelligenz und familiärer Hintergrund sind wichtiger
Unserer Studie zufolge zählen Aufmerksamkeitsprobleme zu jenen Faktoren, aus denen sich spätere Einkünfte am besten vorhersagen lassen. Die Ergebnisse zeigen außerdem, dass es möglich ist, allein mit einer einzigen Beurteilung schon im Kindergarten jene Kinder zu identifizieren, die später geringere Verdienstchancen haben. Das ist praktisch bedeutsam, denn so kann man womöglich rechtzeitig helfen, indem man die betreffenden Kinder weiter beobachtet, sie unterstützt oder an Präventionsprogrammen teilnehmen lässt und so ihre Chancen verbessert.
Was die Studie besonders macht, ist nicht nur das breite Spektrum an Verhaltensmerkmalen, das dabei erfasst wurde. Bei der Auswertung haben wir auch den IQ und den familiären Hintergrund der Kinder kontrolliert, darunter das Bildungsniveau und die Berufstätigkeit der Eltern. Das haben nicht alle bisherigen Untersuchungen getan. Die klassische Marshmallow-Studie etwa hat weder die Intelligenz noch den familiären Hintergrund berücksichtigt, obwohl beide bekanntlich zum späteren Erfolg beitragen. Kürzlich wurde das Experiment mit einer größeren und breiteren Stichprobe wiederholt (die Versuchspersonen aus der klassischen Studie stammten allesamt aus dem Kindergarten der Stanford University). Der Effekt fiel ungefähr halb so groß aus wie in der klassischen Studie, und er verschwand praktisch, nachdem die Forscher den IQ und den familiären Hintergrund der Kinder kontrollierten, also mit statischen Methoden herausrechneten. Mit anderen Worten: Die Fähigkeit eines Kindes, eine Belohnung auf später zu verschieben, mag für ein erfolgreiches Leben wichtig sein, doch Intelligenz und familiärer Hintergrund sind wichtiger.
Der Marshmallow-Test: Er funktioniert doch
2018 veröffentlichten US-Forscher im Fachmagazin »Psychological Science« eine Replikationsstudie: Sie bestätigte Walter Mischels Marshmallow-Experimente nur bedingt. Ein Team um Armin Falk von der Universität Bonn hat die neuen Daten noch einmal ausgewertet und widerspricht: Der Effekt sei lediglich etwas schwächer als in der Originalstudie. Außerdem fanden der Ökonom und seine Kollegen Unterschiede im Versuchsaufbau: Während Mischel die Kinder eine Viertelstunde auf das zweite Marshmallow warten ließ, waren es in der Wiederholungsstudie nur sieben Minuten. Das Fazit entsprach dem der Originalstudie: Vierjährige, die auf ihre Belohnung warteten, schneiden zehn Jahre später in einem Bildungstest besser ab als Kinder, die das Marshmallow sofort verspeisten.
Laut einer weiteren einflussreichen Studie verfügen Kinder, die sich im Alter von drei bis elf Jahren besser im Griff haben, als junge Erwachsene über mehr Wohlstand, eine bessere Gesundheit und weniger Vorstrafen. Aber die Studie versäumte es, antisoziale Merkmale wie Aggressionen und Trotzverhalten zu berücksichtigen. Als eine Replikationsstudie das nachholte, fielen die Effekte deutlich schwächer aus. Bei solchen Studien zur Selbstkontrolle werden häufig mehrere Merkmale wie Aufmerksamkeit, Belohnungsaufschub und Gewissenhaftigkeit in einen Topf geworfen und zu einem einzigen Kennwert für die Selbstkontrolle kombiniert. Oft wurden die Merkmale sogar über mehrere Jahre hinweg erfasst. Das erschwert es, die wirksamen Faktoren zu identifizieren, die mit den Kriterien für ein erfolgreiches Leben assoziiert sind.
Das allerdings ist entscheidend, wenn man Maßnahmen entwickeln möchte, die »gute« Eigenschaften fördern und »schlechten« vorbeugen. Experimente zeigen: Wenn Programme an Schulen und in Familien die sozialen und emotionalen Fertigkeiten von Kindern trainieren, nimmt unaufmerksames und störendes Verhalten ab und prosoziales Verhalten zu.
Aufmerksamkeitsprobleme im Alter von sechs Jahren verrieten mehr über das künftige Einkommen als jedes andere Verhalten
Um den künftigen Erfolg verlässlicher vorherzusagen, könnte es helfen, sich auf konkretes Verhalten zu konzentrieren, das leicht zu beobachten und zu erfassen ist. In unserer neuen Studie analysierten meine Kollegen und ich Daten von knapp 3000 Kindern, deren Lebensweg über 30 Jahre verfolgt wurde, bis hin zu Steuererklärungen im Erwachsenenalter. Erstmals beobachtet wurden sie schon im Kindergarten: Wie unaufmerksam, hyperaktiv, aggressiv, trotzig, ängstlich und prosozial verhielten sie sich?
Das Ergebnis für Jungen wie für Mädchen: Aufmerksamkeitsprobleme im Alter von sechs Jahren verrieten mehr über das künftige Einkommen als jedes andere Verhalten. Bei den Jungen ließen außerdem aggressives und trotziges Verhalten auf einen niedrigeren Verdienst schließen, prosoziales Verhalten hingegen auf ein höheres Einkommen. Wir überprüften auch andere Merkmale wie Hyperaktivität und Ängstlichkeit, aber sie hingen nicht mit den späteren Einkünften zusammen.
Was mindert die Chancen?
Die Studie wirft die Frage auf, warum und auf welche Weise das Verhalten in der Kindheit und das spätere Einkommen zusammenhängen. Ein niedriges Bildungsniveau und antisoziales Verhalten könnten dabei eine besondere Rolle spielen. Aufmerksamkeitsstörungen gehen bekanntlich einher mit Ablehnung durch Gleichaltrige, Drogenmissbrauch und antisozialem Verhalten im Jugendalter. Das alles kann das Bildungsniveau und berufliche Chancen und somit auch die Einkünfte verringern.
Ebenso sind aggressives und trotziges Verhalten in der Kindheit verbunden mit Drogenabhängigkeit, antisozialen Verhaltensweisen und Vorstrafen, was die Bildungs- und Berufschancen sowie den Verdienst mindert. Der Zusammenhang zwischen prosozialem Verhalten bei Jungen und höheren Einkommen mag intuitiv nachvollziehbarer sein: Freundliche Kinder kommen typischerweise besser mit ihren Altersgenossen klar, zeigen als Jugendliche weniger Verhaltensauffälligkeiten und bringen bessere Leistungen in der Schule. Das wiederum bessert vermutlich die Berufschancen, die Beziehungen zu Kollegen und damit auch den Verdienst.
Als Nächstes gilt es herauszufinden, welche dieser Pfade den Zusammenhang zwischen Verhalten in der Kindheit und Einkünften im Erwachsenenalter am besten erklären, und diese dann in Interventionsprogrammen zu testen. Eine weitere wichtige Frage, mit der sich unsere Studie nicht beschäftigt hat: warum die Verhaltensweisen, die mit dem künftigen Verdienst zusammenhängen, sich bei Mann und Frau unterscheiden. Die Antwort darauf könnte entsprechende Maßnahmen nahelegen.
Die Fähigkeit, auf ein paar Marshmallows zu warten, vermag vielleicht nicht den späteren Erfolg im Leben vorherzusagen. Aber andere Merkmale scheinen dabei durchaus eine Rolle zu spielen. Mit Blick auf das spätere Einkommen ist es anscheinend besonders wichtig, dass Kinder aufmerksam sein können – und bei den Jungen noch dazu, dass sie sich freundlich verhalten. Es gibt viele gute Gründe dafür, diese Eigenschaften zu fördern.
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