Australopithecus: Vormenschen lebten eine Million Jahre früher als angenommen
Seit mehrere Karsthöhlen nordwestlich der südafrikanischen Metropole Johannesburg 1999 zum »Welterbe der Menschheit« erklärt wurden, wirbt diese Region gerne mit dem Begriff »Cradle of Humankind« – »Wiege der Menschheit«. Der Grund: In dem gerade einmal 25 000 Hektar großen Gebiet fanden sich in 15 Höhlen sehr viele Fossilien von Vor- und Frühmenschen. Mit Australopithecus, Paranthropus und Homo lebten dort vor gut zwei Millionen Jahren praktisch gleichzeitig drei unterschiedliche Homininengattungen. Fast ein Drittel aller bekannten Funde von Vormenschen kommen aus dieser vergleichsweise kleinen Region, die ungefähr zwölfmal so groß ist wie der Frankfurter Flughafen.
Allerdings gibt es ein Problem. Die Knochen und Schädel von Australopithecus-Exemplaren passen nicht so recht ins klassische Bild der Menschheitsgeschichte. Demnach hat sich die Gattung Homo und damit auch der anatomisch moderne Mensch aus den Australopithecinen entwickelt. In der Wiege der Menschheit sollte Australopithecus also deutlich vor seinen Nachkommen gelebt haben. Wie nun eine neue Datierung ergab, war aber offenbar genau das der Fall, erklären Darryl Granger von der Purdue University im US-Bundesstaat Indiana und sein Team in der Fachzeitschrift »PNAS«.
Die Arbeitsgruppe hat die Funde aus jener Sterkfontein-Höhle untersucht, die den Mengenrekord für Australopithecus-Fossilien an einem einzigen Ort hält. Im Detail sahen sich die fünf Forscher und eine Forscherin die Schicht an, in der die meisten Vormenschenrelikte ans Licht kamen. Traditionell lautet die Datierung der Fundschicht auf Grund von Sinterablagerungen 2,1 bis 2,6 Millionen Jahre. Die Funde sollten daher dasselbe Alter haben. Dies war jedenfalls bisher die Annahme. Darryl Granger und sein Team wollten es aber genauer wissen und analysierten nun das Brekziengestein, in dem die Fossilien eingebettet waren.
Datierung mit Hilfe des radioaktiven Zerfalls
Auf Geröll, das an der Oberfläche liegt, schlagen immer wieder Partikel mit sehr hoher Energie aus der Strahlung ein, die ständig aus dem Weltraum auf die Erdatmosphäre prasselt. Dabei entstehen laufend natürliche radioaktive Isotope wie Aluminium-26 und Beryllium-10. »Liegt das Gestein später zum Beispiel in einer Höhle unter der Erde, kommt viel weniger kosmische Strahlung dort an und es bilden sich weniger dieser Isotope«, erklärt der Archäologe und Datierungsspezialist Daniel Richter von der Universität Mainz, der an der Studie in »PNAS« nicht beteiligt war. Dann beginnt die radioaktive Uhr zu ticken: Beryllium-10 und Aluminium-26 zerfallen im Lauf von Jahrmillionen sehr gleichmäßig zu Bor-10 und Magnesium-26. Aus der Isotopenmenge berechneten nun Granger und sein Team, wann die Brekzien um die Fossilien tatsächlich unter die Erde gelangten: Ihres Erachtens war das Gestein bereits seit 3,4 bis 3,7 Millionen Jahren nicht mehr unter freiem Himmel gelegen – und damit eine gute Million Jahre länger als bisher angenommen.
»Da die Überreste toter Organismen an der Oberfläche rasch zersetzt werden, sollten die Australopithecus-Fossilien in der Sterkfontein-Höhle etwa zur gleichen Zeit wie die datierten Bestandteile der Brekzie abgelagert worden sein«, erklärt Richter. Die Vormenschen sollten also vor etwa 3,5 Millionen Jahren gelebt haben.
Ein Altersunterschied von einer Million Jahren!
Woher aber rührt der riesige Unterschied von rund einer Million Jahre zwischen alter und neuer Datierung? Warum stellte sich der Sinter als so viel jünger heraus im Vergleich zur Brekzie, in der die Australopithecus-Überreste steckten? Ein Blick in die Entstehungsgeschichte der Fossilien in der Sterkfontein-Höhle gibt einen wichtigen Hinweis: Dort stürzte vor Jahrmillionen Geröll zusammen mit den Überresten der Vormenschen durch ein Loch bis tief hinunter in die Höhle. Durch solche Karsthöhlen fließt oft Wasser, aus dem sich Kalk abscheidet und Sinterschichten bildet. Solche Ablagerungen können sich durchaus erst lange nach dem Sturz der Fossilien gebildet haben. Für eine späte Entstehung der Sinterschichten haben Darryl Granger und sein Team nun Indizien gesammelt. »Leider sind einige Details in dieser Argumentationskette in der Studie nicht ausführlich genug dargestellt«, kritisiert Daniel Richter. »Allerdings ändert das nichts an der Grundaussage, nach der die Fossilien dort zirka 3,5 Millionen Jahre alt sein sollten«, fährt der Archäologe fort.
Demnach haben die Australopithecinen etwa eine Million Jahre vor den ersten Frühmenschen der Art Homo erectus in dieser Gegend gelebt. Sie können also durchaus zu den Vorfahren der Gattung Homo gehören. Die Bezeichnung »Wiege der Menschheit« für das kleine Gebiet in der Nähe von Johannesburg dürfte dennoch irreführend sein. Schließlich existierten jene Vormenschen der Art Australopithecus africanus etwa zur gleichen Zeit wie Gattungsgenossen, die im Afar-Dreieck des heutigen Äthiopien beheimatet waren. Dort ausgegrabene Fossilien, zu denen auch die berühmte Lucy zählt, werden zu einer anderen Linie gerechnet: Australopithecus afarensis, die ebenfalls Vorfahren der Gattung Homo gewesen sein könnte.
»Erbgutanalysen haben für jüngere Zeit gezeigt, dass Neandertaler, Denisovamenschen und frühe moderne Menschen gemeinsame Nachkommen hatten, deren Spuren auch im Erbgut heute lebender Menschen noch nachweisbar sind.« Daniel Richter weist damit auf Studien der vergangenen Jahre hin. »Da liegt die Überlegung nicht fern, dass Ähnliches auch bei den Australopithecus-Linien passiert ist«, sagt der Archäologe. Dann aber hätte die Wiege der Menschheit nicht nur in einer kleinen Region im heutigen Südafrika gestanden. Vielmehr könnten weite Teile des Kontinents diesen Titel für sich beanspruchen.
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