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Kryosphäre: Vorstoß in die Isolation

Lebt etwas unter dem Eispanzer der Antarktis? Gleich zwei Expeditionen bohren nun Seen unter den Gletschern des Südkontinents an - und müssen dabei auf extreme Sauberkeit achten.
Wostoksee

Seit Martin Siegert vor gut 12 Jahren mit der Erforschung von Eiswelten begann, spukt die vergessene Welt des Ellsworth-Sees in seinem Kopf herum. Jetzt endlich ist die Zeit für ihn gekommen, das mysteriöse Gewässer zu erkunden, das sich in einem steilen Fjord drei Kilometer unter dem antarktischen Eis erstreckt. Das ist der Höhepunkt meiner wissenschaftlichen Laufbahn", erzählt Siegert. "Natürlich bin ich aufgeregt."

Diese Woche packt der Gletscherforscher der University of Bristol seine Taschen für die lange Reise ans andere Ende der Welt. Sobald er die Rothera-Forschungsstation des British Antarctic Survey auf einer Insel an der Antarktischen Halbinsel erreicht hat, fliegt er zusammen mit seiner Crew weitere 1000 Kilometer auf das westantarktische Eisschild. Ab dem 5. Dezember beginnt dann die eigentliche Arbeit: die Bohrung senkrecht hinab durch das Eis in den unberührten See darunter. Die Forscher hoffen, dass sie in dessen düsteren Wassern Lebensformen finden, die seit Millionen von Jahren kein Licht gesehen haben. In den Seesedimenten am Grund bohrt das Team nach Hinweisen auf die bislang noch ungenügend verstandene Geschichte des westantarktischen Eisschilds: Diese sollen möglichst offenbaren, wie der mächtige Gletscher im Lauf der Zeit anschwoll und wieder verging.

Rund 380 subglaziale Seen wurden in der Antarktis bereits entdeckt und kartiert. Bislang konnte man ihnen aber überwiegend nur aus der Ferne mit Hilfe von Radar, Schwerkraftmessungen oder seismischen Untersuchungen auf den Leib rücken. Ihre Existenz verdanken die Seen – große wie kleine – geothermischer Hitze und Reibungswärme, die das Eis von unten antauen. Schwerkraft und Druck der Gletscher zwingen das Wasser zum Abfließen, das sich schließlich in Becken und Tälern des Südkontinents unter dem Eis sammelt.

Wostoksee | Künstlerische Darstellung einer Tauchmission der NASA in den Wostoksee

Läuft alles nach Plan, bildet der Ellsworth-See das zweite Gewässer, dessen Isolation auf diese Weise durchbrochen wird. Im Februar bohrte ein russisches Wissenschaflerteam mit dem Wostoksee den größten und tiefsten Wasserkörper der Antarktis an: Es vollendete damit ein Projekt, das vor mehr als 20 Jahren begann. Und eine dritte Expedition beginnt demnächst: Eine US-Bohrmannschaft begibt sich über die McMurdo-Station zum subglazialen Whillans-See – einem kleinen und schmalen Gewässer am Rand des Ross-Schelfeises.

Die Suche nach exotischem mikrobiellen Leben, das sich in oder unter diesen Seen gebildet haben könnte, ist für viele der aufregendste Teil dieser Forschung. Wissenschaftler haben bereits zahlreiche Mikroorganismen aus anderen Teilen der Welt katalogisiert, die ihre Energie aus Gesteinen oder Mineralien ziehen. Und nicht wenige Gelehrte schätzen, dass auch unter dem antarktischen Eisschild spezialisierte Mikroben existieren, die das Gleiche praktizieren.

Kein Ort ist unbelebt – oder?

Leben tummelt sich an den extremsten Orten – "von der tiefen Lithosphäre bis in die hohe Atmosphäre", erklärt David Pearce, ein Umweltmikrobiologe der BAS, der an der britischen Expedition teilnimmt. "Ich wäre total überrascht, wenn wir dort überhaupt keine Organismen fänden."

Die russischen Kollegen bemerkten Hinweise auf Hitze liebende Bakterien, die in der Umgebung des Wostoksees im Grundgestein leben. Diese Schlüsse ziehen sie aus DNA-Spuren in Sedimenten, die in akkretiertem Eis eingeschlossen wurden – Seewasser, das an der Basis des mächtigen Gletschers immer wieder anfriert.

Die oberen Lagen des Sees selbst scheinen jedoch frei von Leben zu sein, berichtete der Mikrobiologe Sergey Bulat vom Institut für Kernphysik in St. Petersburg auf dem 12. europäischen Arbeitstreffen für Astrobiologie in Stockholm letzten Monat. Keine einzige Mikrobe tauchte in den vorläufigen Untersuchungen des Seewassers auf, das an der Bohrausrüstung der Forscher festfror. Die Suchmannschaft kehrt in dieser Saison jedoch in ihr Untersuchungsgebiet zurück, um mehr Proben zu sammeln.

Der Ellsworth-See könnte für Mikrobenjäger ohnehin das lohnendere Ziel sein, denn sein Ökosystem bietet Leben weniger Möglichkeiten, sich zu verstecken. Mit einer Länge von zwölf Kilometern, einer Breite von maximal drei Kilometern und einer maximalen Tiefe von etwa 150 Metern ist er eher eine Pfütze verglichen mit dem Wostoksee. Dieser ist mit einer Länge von 250 und einer Breite von 50 Kilometern eines der größten Binnengewässer der Erde. Ellsworth sitzt perfekt in einem subglazialen Tal in der Nähe der kontinentalen Wasserscheide, wo die darüberliegenden Gletscher am langsamsten strömen. Mit minus 30 Grad Celsius ist das Eis an dieser Stelle zudem doppelt so "warm" wie jenes auf dem Wostokplateau in der Ostantarktis. Außerdem ist es einen Kilometer dünner.

Selbst wenn sich Ellsworth und Whillans als steril erweisen sollten, könnten ihre Untersuchungen andeuten, welche Bedingungen die Entwicklung oder Existenz von Leben auf der Erde und an anderen Orten des Sonnensystems womöglich unterdrücken. Siegert meint, dass es bereits ein "phänomenales Ergebnis" darstellen würde, wenn die Seen tatsächlich völlig unbelebt wären – denn sie bieten eigentlich alles, was Mikroben benötigten: flüssiges Wasser und Nährstoffe. Und ihre Wassertemperaturen liegen nur wenige Grad unter null.

Das britische Team möchte seine Forschungszone in einer einzigen, dreitägigen Bohrung erreichen. Es setzt dazu auf einen Bohrer, der mit Hilfe eines auf 90 Grad Celsius erhitzten Hochdruckwasserstrahls ein Loch ins Eis fräst. Sobald der Zugang fertiggestellt ist, haben die Forscher 24 Stunden Zeit, eine Wasserprobe und einen Sedimentbohrkern empor zu holen, bevor ihr Loch wieder zufriert.

Extrem saubere Vorbereitung

Penibel haben die Wissenschaftler darauf geachtet, dass ihr Werkzeug den See nicht mit Mikroben von oben kontaminiert: Letztes Jahr haben die Vertragsstaaten der Antarktiskonvention es abgesegnet. Siegert schätzt, dass die Bohrung rund 60 000 Liter Wasser verbrauchen wird, das die Forscher vor Ort aus dem Schnee schmelzen. Das Wasser passiert anschließend ein fünffaches Filtersystem und wird am Ende mit UV-Licht bestrahlt, um es zu sterilisieren. "Unsere Bohrflüssigkeit ist am Ende sauberer als das Wasser, das natürlicherweise am Gletscherboden schmilzt und in den See fließt.", sagt Siegert. Den fünf Meter langen Titanprobenbehälter, den die Wissenschaftler an einer Leine in das Gewässer abseilen, setzten Kollegen in einem Reinluftraum in Southampton zusammen: Er wird erst direkt im Bohrloch aus seiner sterilisierten Verpackung geholt und soll in verschiedenen Wassertiefen Proben sammeln.

Die wichtigste Herausforderung werde es sein, die Beprobung in dem nur sehr kurzen Zeitfenster durchzuziehen, so Siegert. Sollte jedoch etwas schiefgehen, so stünde dem Team genügend Treibstoff zur Verfügung, um das Loch nochmals zu öffnen, indem es noch mehr heißes Wasser hineinpumpt. Ginge der Probenbehälter unterwegs verloren oder bliebe er stecken, so könnten die Forscher ein zweites Loch bohren und Ersatzinstrumente einsetzen. Vielleicht machen sie dies ohnehin, um noch mehr Material zu gewinnen, was die wissenschaftlichen Resultate auf eine noch bessere Basis hieven würde, sagt Siegert.

Sollte der Ellsworth-See tatsächlich Leben beherbergen, könnte es sogar schon bis Jahresende identifiziert werden. Ohnehin habe die Erforschung der versteckten Seen der Antarktis erst begonnen, meint John Priscu, ein Glaziologe an der Montana State University in Bozeman, der den Vorstoß zum Whillans-See leitet. Man benötige mehr als die Daten von nur drei Standorten, betont er. Erst dann könnten Wissenschaftler verstehen, wie die verborgenen Gewässer mit dem Eis darüber interagieren, etwa wie sie dessen Bewegung beeinflussen. Weitere Arbeiten eröffneten zudem womöglich, wie der Ausfluss der Seen und Flüsse mit ihren Mineralen die Chemie und die biologische Produktivität des Südozeans beeinflussen.

"Noch vor relativ kurzer Zeit dachten viele Menschen, die Antarktis sei einfach nur ein riesiger Eisblock. Mittlerweile haben wir aber große Fortschritte gemacht", sagt Priscu. "Mich freut es zu sehen, wie begeistert unsere Arbeit aufgenommen wird. Aber ich fürchte, wir wissen immer noch weniger über die antarktische Umwelt unter dem Eis als über manche Plätze auf dem Mars."

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