Ökologie: Vorwärts zurück ins Kambrium
Überfischt, überhitzt, überdüngt - die Meere verändern sich gegenwärtig drastisch. Doch glibbrige Wesen scheinen davon zu profitieren: Quallenplagen häufen sich seit einigen Jahren.
Mit Entsetzen mussten irische Aquafarmer mitverfolgen, wie ihre Existenz innerhalb weniger Stunden vernichtet wurde: Ein Schwarm von Leuchtquallen (Pelagia noctiluca) – mehr als drei Quadratkilometer groß und über zehn Meter dick – zog 2007 an der Küste Irlands entlang und tötete über 100 000 Zuchtlachse. Ihre Besitzer mussten vom Boot aus hilflos mit ansehen, wie die Quallen ihre Fische stachen und tödlich lähmten. Riesige Teppiche aus Nomura-Quallen (Nemopilema nomurai) waberten 2003 durch das Gelbe Meer und verstopften die Netze von japanischen und chinesischen Fischern – die Tiere können jeweils bis zu zwei Meter Durchmesser erreichen und 200 Kilogramm wiegen. 2006 blockierten die gelatineartigen Wesen die Kühlwasserleitungen verschiedenster Kernkraftreaktoren rund um die Welt und behinderten dabei sogar den US-Flugzeugträger "Ronald Reagan".
Alles nur Zufall – oder doch ein Trend? Begünstigt das menschliche Handeln einen Siegszug der Quallen? Der australische Meeresbiologie Anthony Richardson vom CSIRO Marine and Atmospheric Research in Cleveland hat zumindest einige gute Argumente dafür gesammelt: "Überfischung, steigende Wassertemperaturen, Überdüngung und dadurch ausgelöster Sauerstoffmangel und der globale Schiffsverkehr fördern offensichtlich einige Quallenarten – bis hin zu Massenblüten auf Kosten anderer Lebewesen."
Keine Feinde, keine Konkurrenten
So entnimmt der Mensch den Meeren jährlich rund 100 Millionen Tonnen Fisch und anderes Getier, so dass viele Fangregionen mittlerweile völlig oder weit gehend erschöpft sind: ein gravierender Eingriff in die Nahrungsnetze. "Überfischung ist wohl der direkteste Weg, ein Ökosystem zu stören", bestätigt der Quallenfachmann Steven Haddock vom Monterey Bay Aquarium Research Institute: "Wenn Konkurrenten und Räuber verschwinden, beeinflussen die Quallen das Ökosystem selbst dann überproportional stärker, wenn sie sich nicht vermehren." Arten wie Sardinen und Sardellen beispielsweise fressen große Mengen Plankton, das auch viele Quallen als Nahrung nutzen.
Derartige Quallenblüten traten unter anderem im Gelben und Schwarzen Meer sowie im Benguela-Strom vor der namibischen Küste auf. "Dort wurden die Fanggründe bis zur völligen Erschöpfung ausgebeutet und brachen zusammen. Anschließend herrschten die Quallen – zumindest zeitweilig", so Richardson. Umgekehrt nützt es den Tieren auch, wenn ihre Feinde verschwinden: Viele Riff- und Grundfische fressen die Polypen – ein Fortpflanzungsstadium der Quallen – am Boden, Schwarmfische im Meer erbeuten die Larven und kleine Individuen und Meeresschildkröten wie die weltweit vom Aussterben bedrohte Lederschildkröte die großen Exemplare. Viele dieser Arten sind mittlerweile aber ebenfalls überfischt und fallen daher als kontrollierende Gegenspieler aus.
Zurück in die Vergangenheit
Doch nicht nur der Mangel an Konkurrenten verbessert die Nahrungsversorgung der Quallen: Sie profitieren auch von den reichlichen Nährstoffen, die vielerorts aus der Landwirtschaft, Kanalisation oder aus Abgasen ins Meer geschwemmt werden: Phosphate und Nitrate treiben dann das Algenwachstum an, das die Nesseltiere zusätzlich mit Nahrung versorgt. Sterben diese Massenblüten ab, entziehen sie den Gewässern reichlich Sauerstoff. Es können so genannte Todeszonen entstehen, aus denen sich Fische und andere Tiere zurückziehen müssen. Das gilt jedoch nicht für Quallen, schränkt Ulrich Sommer vom IFM-Geomar in Kiel ein: "Sie kommen meist mit niedrigeren Sauerstoffkonzentrationen zurecht als Fische." Seit 1960 hat sich die Zahl dieser sauerstoffarmen Todeszonen weltweit verdoppelt: noch ein Vorteil für die Quallen.
Das wärmere Wasser beschleunigt bei vielen Quallenarten die Vermehrung und das Wachstum der Larven. Zudem können sich Wärme liebende Spezies weiter ausbreiten – darunter zum Beispiel die giftige Seewespe (Chironex fleckeri), vor der sich badende Australier fürchten: In den Nesseln steckt ein starkes Nervengift, das Herz und Atmung lähmen kann und innerhalb weniger Minuten zum Tod führt, wenn keine Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Sie dringt mittlerweile an der australischen Ostküste weiter nach Süden vor und könnte dort bald vor beliebten Badestränden auftreten. In der Nord- und Ostsee tauchen ebenfalls zunehmend Arten auf, die ursprünglich weiter südlich heimisch waren.
Auch Quallen leiden
Gegenwärtig steigen aber nicht nur die Temperaturen in den Meeren, es sinkt auch ihr pH-Wert, da sich große Mengen des von der Menschheit in die Atmosphäre entlassenen Kohlendioxids im Wasser löst und dort Kohlensäure bildet. "Die wenigsten Quallenarten sind in der Lage, zunehmend saure Bedingungen abzupuffern. Ihr Leben wird dadurch also keineswegs erleichtert", weist Steven Haddock auf ein wachsendes Problem für viele Meeresorganismen hin. In den letzten Jahrzehnten nahm der pH-Wert im Ozean weltweit um durchschnittlich 0,11 Einheiten ab – das entspricht einer Zunahme des Säuregehalts um ein knappes Drittel und setzt viele Organismen unter starken Stress.
Der kalifornische Meeresbiologe bezweifelt ohnehin, dass sich die Erde auf dem Weg zu einem Planeten der Quallen befindet: "Seit Millionen von Jahren durchleben die Quallen Auf- und Abschwünge – sie sind also natürlicher Teil ihrer Lebenszyklen." Dies zeige sich etwa im Mittelmeer, wo historische Daten belegen, dass es bereits vor mehr als 100 Jahren Massenauftreten der Nesseltiere gab. Das Phänomen trat also nicht erst in den letzten Jahren auf. Und vor Perus Küste nimmt gegenwärtig die Biomasse der Tiere ebenfalls ab, obwohl dort weiterhin stark gefischt werde, so Haddock.
Große Erkenntnislücken
Mit dem Ende der Sowjetunion begann jedoch auch der Abstieg der Rippenqualle: Der Zusammenbruch der sozialistischen Landwirtschaft und Fischerei reduzierte den Düngerverbrauch an Land und damit ebenso den Eintrag ins Meer beziehungsweise verschaffte den Fischbeständen eine Atempause. Mehr noch machte der Qualle aber eine weitere exotische Art zu schaffen: die Melonenqualle Beroe ovata frisst bevorzugt Rippenquallen – und hält sie seitdem im Zaum, so dass sich das Ökosystem gegenwärtig erholt.
Wohin die Reise der Quallen also zukünftig tatsächlich geht – zurück ins Kambrium, wie Anthony Richardson befürchtet, oder einfach weiterhin nur in Zyklen auf und ab, wie sein Kollege Steven Haddock annimmt –, ist also noch völlig offen. Das Problem: "Es laufen kaum Langzeitstudien über Quallen. Wir wissen daher noch viel zu wenig über die Tiere", fasst Victoria Hobson von der Swansea University zusammen. Bis genügend Daten vorhanden sind, könnte es allerdings selbst den Quallen schlecht gehen, befürchtet Haddock: "Umweltverschmutzung, Klimawandel und Versauerung schaden vielen Lebewesen im Ozean, darunter auch vielen Nesseltieren. Wir beeinflussen die Gesundheit der Meere am stärksten – nicht die Quallen."
2008 listete ein Bericht der US-amerikanischen National Science Foundation unter dem Titel "Quallen außer Kontrolle" Zwischenfälle mit den massenhaft auftretenden Glibbertieren von Norwegens Fjorden bis zu Thailands Badeorten auf. Und 2010 begannen sich Kabeljaufischer an der Ostsee zu sorgen, weil plötzlich die als notorischer Fischfeind bekannte Rippenqualle Mnemiopsis leidyi häufiger in ihrem Fangrevier auftauchte – die aus nordamerikanischen Gewässern eingeschleppte Art hatte in den 1980er Jahren das Ökosystem des Schwarzen Meeres dominiert und dort die Erholung der übernutzten Fischbestände viele Jahre lang unterdrückt.
Alles nur Zufall – oder doch ein Trend? Begünstigt das menschliche Handeln einen Siegszug der Quallen? Der australische Meeresbiologie Anthony Richardson vom CSIRO Marine and Atmospheric Research in Cleveland hat zumindest einige gute Argumente dafür gesammelt: "Überfischung, steigende Wassertemperaturen, Überdüngung und dadurch ausgelöster Sauerstoffmangel und der globale Schiffsverkehr fördern offensichtlich einige Quallenarten – bis hin zu Massenblüten auf Kosten anderer Lebewesen."
Keine Feinde, keine Konkurrenten
So entnimmt der Mensch den Meeren jährlich rund 100 Millionen Tonnen Fisch und anderes Getier, so dass viele Fangregionen mittlerweile völlig oder weit gehend erschöpft sind: ein gravierender Eingriff in die Nahrungsnetze. "Überfischung ist wohl der direkteste Weg, ein Ökosystem zu stören", bestätigt der Quallenfachmann Steven Haddock vom Monterey Bay Aquarium Research Institute: "Wenn Konkurrenten und Räuber verschwinden, beeinflussen die Quallen das Ökosystem selbst dann überproportional stärker, wenn sie sich nicht vermehren." Arten wie Sardinen und Sardellen beispielsweise fressen große Mengen Plankton, das auch viele Quallen als Nahrung nutzen.
Fallen diese Fische aus, weil sie übermäßig ausgebeutet wurden, können die Nesseltiere in die entstehenden Lücken stoßen und die plötzliche Ressourcenfülle für sich nutzen. "Wir wissen bislang wenig über Quallen – außer dass sie sich rapide vermehren können, wenn sie genügend Nahrung vorfinden", sagt Cornelia Jaspers vom dänischen Nationalen Institut für aquatische Ressourcen (DTU Aqua) in Lyngby, die die Art Mnemiopsis leidyi erforscht.
Derartige Quallenblüten traten unter anderem im Gelben und Schwarzen Meer sowie im Benguela-Strom vor der namibischen Küste auf. "Dort wurden die Fanggründe bis zur völligen Erschöpfung ausgebeutet und brachen zusammen. Anschließend herrschten die Quallen – zumindest zeitweilig", so Richardson. Umgekehrt nützt es den Tieren auch, wenn ihre Feinde verschwinden: Viele Riff- und Grundfische fressen die Polypen – ein Fortpflanzungsstadium der Quallen – am Boden, Schwarmfische im Meer erbeuten die Larven und kleine Individuen und Meeresschildkröten wie die weltweit vom Aussterben bedrohte Lederschildkröte die großen Exemplare. Viele dieser Arten sind mittlerweile aber ebenfalls überfischt und fallen daher als kontrollierende Gegenspieler aus.
Zurück in die Vergangenheit
Doch nicht nur der Mangel an Konkurrenten verbessert die Nahrungsversorgung der Quallen: Sie profitieren auch von den reichlichen Nährstoffen, die vielerorts aus der Landwirtschaft, Kanalisation oder aus Abgasen ins Meer geschwemmt werden: Phosphate und Nitrate treiben dann das Algenwachstum an, das die Nesseltiere zusätzlich mit Nahrung versorgt. Sterben diese Massenblüten ab, entziehen sie den Gewässern reichlich Sauerstoff. Es können so genannte Todeszonen entstehen, aus denen sich Fische und andere Tiere zurückziehen müssen. Das gilt jedoch nicht für Quallen, schränkt Ulrich Sommer vom IFM-Geomar in Kiel ein: "Sie kommen meist mit niedrigeren Sauerstoffkonzentrationen zurecht als Fische." Seit 1960 hat sich die Zahl dieser sauerstoffarmen Todeszonen weltweit verdoppelt: noch ein Vorteil für die Quallen.
Im schlimmsten Fall dominieren die Nesseltiere dann das Ökosystem für lange Zeit. "Viele Quallenarten fressen selbst Fischeier und -larven oder sogar kleine Fische. Überfischte Fanggebiete können sich dann nur sehr langsam – oder vielleicht sogar überhaupt nicht – erholen", meint Sommer. Die sich neu etablierenden Nahrungsnetze erinnern seinen Kollegen Richardson an das Kambrium, als in den warmen und nährstoffreichen Meeren Zyanobakterien und Flagellaten – begeißelte Einzeller – das Plankton dominierten und Quallen die Spitzenräuber stellten. "Wir befinden uns auf dem Weg zurück in die Vergangenheit", befürchtet der Forscher auch im Hinblick auf die sich aufheizenden Ozeane.
Das wärmere Wasser beschleunigt bei vielen Quallenarten die Vermehrung und das Wachstum der Larven. Zudem können sich Wärme liebende Spezies weiter ausbreiten – darunter zum Beispiel die giftige Seewespe (Chironex fleckeri), vor der sich badende Australier fürchten: In den Nesseln steckt ein starkes Nervengift, das Herz und Atmung lähmen kann und innerhalb weniger Minuten zum Tod führt, wenn keine Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Sie dringt mittlerweile an der australischen Ostküste weiter nach Süden vor und könnte dort bald vor beliebten Badestränden auftreten. In der Nord- und Ostsee tauchen ebenfalls zunehmend Arten auf, die ursprünglich weiter südlich heimisch waren.
Auch Quallen leiden
Gegenwärtig steigen aber nicht nur die Temperaturen in den Meeren, es sinkt auch ihr pH-Wert, da sich große Mengen des von der Menschheit in die Atmosphäre entlassenen Kohlendioxids im Wasser löst und dort Kohlensäure bildet. "Die wenigsten Quallenarten sind in der Lage, zunehmend saure Bedingungen abzupuffern. Ihr Leben wird dadurch also keineswegs erleichtert", weist Steven Haddock auf ein wachsendes Problem für viele Meeresorganismen hin. In den letzten Jahrzehnten nahm der pH-Wert im Ozean weltweit um durchschnittlich 0,11 Einheiten ab – das entspricht einer Zunahme des Säuregehalts um ein knappes Drittel und setzt viele Organismen unter starken Stress.
Der kalifornische Meeresbiologe bezweifelt ohnehin, dass sich die Erde auf dem Weg zu einem Planeten der Quallen befindet: "Seit Millionen von Jahren durchleben die Quallen Auf- und Abschwünge – sie sind also natürlicher Teil ihrer Lebenszyklen." Dies zeige sich etwa im Mittelmeer, wo historische Daten belegen, dass es bereits vor mehr als 100 Jahren Massenauftreten der Nesseltiere gab. Das Phänomen trat also nicht erst in den letzten Jahren auf. Und vor Perus Küste nimmt gegenwärtig die Biomasse der Tiere ebenfalls ab, obwohl dort weiterhin stark gefischt werde, so Haddock.
Wie schnell sich eine vorteilhafte Situation für die Organismen auch wieder ändern kann, zeigt das Schwarze Meer, wo von der zwischenzeitlichen Dominanz der Rippenqualle Mnemiopsis leidyi heute wenig übrig geblieben ist. Die Art gelangte wahrscheinlich im Ballastwasser von Schiffen aus amerikanischen Gewässern nach Südosteuropa und fand dort optimale Bedingungen vor: Im überdüngten Meer blühten massenhaft Algen, während die industrielle Fischerei die Bestände der von ihr genutzten Arten vollständig ruinierte. Stattdessen dominierte Mnemiopsis leidyi, die 1989 auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs teilweise mit 240 Individuen pro Kubikmeter Wasser nachgewiesen wurde.
Große Erkenntnislücken
Mit dem Ende der Sowjetunion begann jedoch auch der Abstieg der Rippenqualle: Der Zusammenbruch der sozialistischen Landwirtschaft und Fischerei reduzierte den Düngerverbrauch an Land und damit ebenso den Eintrag ins Meer beziehungsweise verschaffte den Fischbeständen eine Atempause. Mehr noch machte der Qualle aber eine weitere exotische Art zu schaffen: die Melonenqualle Beroe ovata frisst bevorzugt Rippenquallen – und hält sie seitdem im Zaum, so dass sich das Ökosystem gegenwärtig erholt.
Wohin die Reise der Quallen also zukünftig tatsächlich geht – zurück ins Kambrium, wie Anthony Richardson befürchtet, oder einfach weiterhin nur in Zyklen auf und ab, wie sein Kollege Steven Haddock annimmt –, ist also noch völlig offen. Das Problem: "Es laufen kaum Langzeitstudien über Quallen. Wir wissen daher noch viel zu wenig über die Tiere", fasst Victoria Hobson von der Swansea University zusammen. Bis genügend Daten vorhanden sind, könnte es allerdings selbst den Quallen schlecht gehen, befürchtet Haddock: "Umweltverschmutzung, Klimawandel und Versauerung schaden vielen Lebewesen im Ozean, darunter auch vielen Nesseltieren. Wir beeinflussen die Gesundheit der Meere am stärksten – nicht die Quallen."
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