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Vulkanismus am Nordpol: Feuer unterm Eis

Lava speiende Vulkane und Schwarze Raucher in der Nähe des Nordpols: Was die internationale Fachwelt über Jahrzehnte für unmöglich gehalten hat, bietet einen neuen Blick auf die geologischen Vorgänge in unserem Planeten – und bringt eine wahre Höllenküche ans Licht.
Auf einem eisbedeckten Meer sind zwei Eisbrecher zu sehen - links die "Polarstern", rechts die "U.S. Healy"
Gemeinsam auf Arktisexpedition: der deutsche Forschungeisbrecher »Polarstern« (vorne) und das amerikanische Küstenwachschiff »Healy«.

Im August 2023 betrachtete Vera Schlindwein auf dem Forschungseisbrecher »Polarstern« spektakuläre Bilder, die eine Kamera aus tausenden Metern Tiefe vom Grund des Arktischen Ozeans zu ihr hinaufschickte. »Überall flimmerte das Wasser, und an vielen Stellen qualmte es kräftig aus den Schloten. Schwarze Raucher!« Der Name – oft wird auch der englische Begriff »Black Smoker« verwendet – rührt von dem sehr heißen Wasser her, das aus den Schloten austritt und durch die gelösten Minerale meist schwarz gefärbt ist. »Im Aurorafeld konnten wir ein ganzes Netz bisher unbekannter, verhältnismäßig eng beieinanderliegender Black Smoker lokalisieren – und wer eine geografische Entität entdeckt, darf sie bezeichnen. Wir tauften die Raucher mit arktischen Namen: Polar Bear, Walross, Arctic Fox …«

Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven sowie der norwegischen GoNorth-Initiative war Schlindwein zum Aurorafeld aufgebrochen: einer Ansammlung von hydrothermalen Quellen und Schwarzen Rauchern, nördlich von Grönland auf etwa 82 Grad Nord, 6 Grad West. Das Team hatte einen Tiefseeroboter an Bord, ein Nereid Under Ice Vehicle (NUI), den ein zehnköpfiges amerikanisches Team bediente. »Damit konnten wir längere Zeit vor Ort untersuchen, wie die Gebilde der Black Smoker aussehen«, erklärt Vera Schlindwein, »das Schiff driftet ja mit dem Eis weiter und man braucht ein Gerät, das vor Ort bleibt.«

Es war die vorerst letzte Expedition zum Aurorafeld. Glücklich und doch ein bisschen unzufrieden resümiert die Leiterin der Abteilung Geophysik am AWI: »Wir haben insgesamt acht neue Smoker entdeckt, aber weil das Eis in diesem Jahr überraschend dick war, konnten wir den Vulkanismus entlang des Gakkelrückens nicht weiter untersuchen.«

Schwarze Raucher und Vulkane unter dem Eis des Arktischen Ozeans? Wobei Letztere womöglich glühende Lava speien, welche das Wasser aufheizt? Schwer vorstellbar. Selbst Fachleuten schien das noch kurz vor der Jahrtausendwende undenkbar. Doch dann rückten bahnbrechende Entdeckungen den Arktischen Ozean in ein neues Licht. »Als wir über den Gakkelrücken fuhren, brodelte es unter dem Eis, als würde die Erde aufbrechen«, erinnert sich Jonathan Snow, damals Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz und heute Professor an der Louisiana State University in Baton Rouge.

Der nach dem russischen Ozeanografen Jakow Gakkel (1901–1965) benannte unterseeische Gebirgszug ist mächtiger als die Alpen. Er erstreckt sich über eine Länge von 1800 Kilometern zwischen Nordgrönland und dem sibirischen Schelf; seine Gipfel ragen aus einer Tiefe von 5500 Metern hinauf bis 600 Meter unter dem Meeresspiegel. Schon lange wurde vermutet, dass sich im Gakkelrücken jener Spalt in der Erdkruste des Atlantischen Ozeans fortsetzt, der als mittelozeanischer Rücken bezeichnet wird. Aber das Gebirge blieb rätselhaft, auch weil die Arktis im Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion für die zivile Wissenschaft tabu war.

Aus dem Modell der Plattentektonik schlossen die Geophysiker, dass die Riftzone südlich des Nordpols ein sich sehr langsam spreizender ozeanischer Rücken ist und dass deshalb kein Magma nach oben dringen kann. Wie der Meeresboden aussieht, war unbekannt. 1991 überquerte dann der deutsche Forschungseisbrecher »Polarstern« den Gakkelrücken, und zum ersten Mal kartierte man dabei einen kleinen Abschnitt mit Hilfe von Schallwellen. Das erlaubte einen punktuellen Einblick in einen zirka 15 Kilometer breiten Streifen des Riftgrabens. Was sich darin abspielt, sollte sich geradezu als Höllenspektakel erweisen.

Gebirgslandschaft unter dem Meer | Das Aurorafeld liegt um den Gakkelrücken, einen untermeerischen Gebirgszug nördlich von Grönland. Der Gakkelrücken ist mächtiger als die Alpen und erstreckt sich über rund 1800 Kilometer; seine Gipfel ragen von 5500 Meter bis 600 Meter unter dem Meeresspiegel auf.

Vermutlich wussten die Strategen der amerikanischen und russischen Marine damals schon etwas mehr, doch deren Daten blieben geheim. Erst 1999 erschienen die ersten Veröffentlichungen über den Gakkelrücken. »Das war alles noch sehr vage. Vor allem wussten wir nicht, welche Prozesse dort stattfinden«, sagt Wilfried Jokat, der damals das geophysikalische Team des AWI leitete.

Ein Schwarm von Unterwasserbeben führt auf die richtige Spur

Im gleichen Jahr wurden die Wissenschaftler des Forschungsinstituts auf rund 300 starke Erdbeben bei 85 Grad nördlicher Breite und 85 Grad östlicher Länge aufmerksam. Sie deuteten diesen über acht Monate andauernden Bebenschwarm – einen der stärksten an mittelozeanischen Rücken weltweit – als Vorboten eines gewaltigen Vulkanausbruchs. Bisher waren die Forscher davon ausgegangen, dass explosiver Vulkanismus in Wassertiefen von ungefähr vier Kilometern nicht vorkommen kann, weil der Umgebungsdruck zu hoch ist.

  • Kurz erklärt: Schwarze Raucher und Unterwasser-Vulkanismus
  • Schwarzer Raucher

    Schwarze Raucher sind hydrothermale Quellen in der Tiefsee, bei denen aus hohen Schloten eine schwarze Flüssigkeit quillt. Bei dem vermeintlichen Rauch handelt es sich um Meerwasser, das durch Risse in den Meeresboden gesickert ist und dort durch unterirdische Magmareservoirs aufgeheizt wurde. Das heiße Fluid steigt wieder nach oben und löst dabei Minerale aus der Erdkruste. Beim Kontakt des 300 bis 400 Grad Celsius heißen Fluids mit dem kalten Meerwasser fallen die gelösten Minerale schlagartig als schwarze Partikel aus und lagern sich um die Quelle herum ab.

  • Mittelozeanischer Rücken

    Die mittelozeanischen Rücken sind riesige untermeerische Gebirgszüge, an denen tektonische Platten auseinanderdriften. Zwischen den Platten quillt Magma aus dem Erdinnern nach oben; beim Erkalten lagert es sich zu beiden Seiten der Spalte ab und bildet die kilometerhohen Rücken. Die mittelozeanischen Rücken sind aktive Erdbeben- und Vulkanzonen.

  • Spreizungszone

    Den Bereich, in dem sich zwei tektonische Platten voneinander wegbewegen und sich in der Folge der Meeresboden spreizt, bezeichnet man als Spreizungszone. Geschieht dies sehr langsam (wenige Millimeter pro Jahr), spricht man von einer ultralangsamen Spreizung.

Eine amerikanisch-deutsche Expedition steuerte den 85-Grad-Ost-Vulkan 2007 an. Die Woods Hole Oceanographic Institution hatte den schwedischen Eisbrecher »Oden« gechartert und erkundete mit einer speziell entwickelten Kamera den Meeresboden. »Wir sahen überall diffuse Abscheidungen«, erinnert sich Vera Schlindwein, die damals eine Gruppe von Nachwuchswissenschaftlern leitete, um aktive geologische Prozesse am Gakkelrücken zu erforschen. »Aber die Schlote von Schwarzen Rauchern konnten wir nicht finden. Auch die Eruption war inzwischen versiegt. Wir erkannten ausgedehnte Ascheschichten, wie sie für Landvulkane typisch sind, etwa den Vesuv, durch dessen Ausbruch im Jahr 79 das blühende Pompeji begraben wurde.« Zum ersten Mal sahen sie direkt die Folgen einer Vulkanexplosion in großen Wassertiefen. An vielen Stellen fand sich frische Lava, auf der sich eine orangegelbe Masse abgesetzt hatte: Bakterienmatten, die von den im warmen Wasser gelösten Mineralen lebten.

Lebensquellen | Die chemische Umgebung der Schwarzen Raucher begünstigt eine mikrobielle Lebenswelt, die ohne Sauerstoff auskommt. Oft bilden sich organische Matten. Die hellen Punkte sind vermutlich kleine Krebstierchen.

Mit der AMORE-Expedition (Arctic Mid-Ocean Ridge Expedition) versuchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 2001 erstmals, einen Teil des Gakkelrückens systematisch zu erkunden. Das Eis lag locker, so dass die »Polarstern« und der amerikanische Eisbrecher »Healy« die unterseeischen Flanken des Grabens parallel untersuchen konnten. Die Crew kartierte den westlichen Teil des Rückens komplett über etwa 1000 Kilometer. Dabei entdeckte sie vor allem im Tal des Rifts viele kleine Vulkankegel. Bedauerlicherweise kann man einen Vulkan unter Wasser nicht so einfach fotografieren, wie es an Land vom Flugzeug aus möglich ist. Im Ozean sind die Forscher daher auf das Fächerecholot angewiesen: Es tastet mit Schallimpulsen den Meeresboden ab; die Signale werden reflektiert, an Bord wieder empfangen und aus der Laufzeit errechnet ein Computer die Höhenunterschiede des Untergrunds.

Ein erster handfester Beweis

Weil die Geologen nun die Gestalt des Meeresbodens kannten, konnten sie so genannte Dredschen hinter dem Schiff über ihn hinwegziehen. Das sind Kettensäcke oder Stahlkübel mit starken, angeschweißten Zähnen. Zwölf Tonnen Gestein sammelten sie auf diese Weise ein und hievten sie an Bord. »Jedes Mal, wenn der Schurf an Deck ausgekippt wurde, knisterte die Luft vor Erwartung. Die halbe Crew versammelte sich an Deck. Ich traute meinen Augen kaum«, sagt Snow: »Basalt! Noch nicht verwittert, konnte nicht sehr alt sein, echter Basalt.« Basalt ist erstarrtes Magma – der Beweis, dass am jeweiligen Fundort ein Vulkan vor nicht allzu langer Zeit aktiv war oder noch aktiv ist. Für die Forschung waren die kalten Steine Gold wert.

Denn vorhergesagt worden war ein Gesteinstyp, der aus dem oberen Erdmantel stammt: Peridotite, die allein durch tektonische Bewegungen in den Meeresboden aufsteigen. »Alles kalt und starr. Ergussgesteine? Da braucht ihr gar nicht erst hinzufahren«, hatten daher etliche Koryphäen postuliert. »Aber als wir dann dort waren, war das Gegenteil der Fall«, sagt Jokat, »wir haben überwiegend Basalte zu Tage gefördert.« In einem Schurf fanden sich Gesteine von einem frischen Schwefelschlot. »Wir gingen von einem hydrothermal toten Rücken aus, aber jedes Mal, wenn wir unsere Messinstrumente aus dem Meer zogen, gab es Hinweise auf hydrothermale Aktivitäten«, ergänzt Jonathan Snow. Sie nannten das Gebiet, in dem vermutlich massive, »dampfende« Schlote vorkommen sollten, Aurorafeld.

Arktischer Name | Einer der acht neu entdeckten Schwarzen Raucher im Aurorafeld heißt »Polar Bear«.

2014 brach wieder eine Expedition dorthin auf. Die Biologin Antje Boetius, seit 2017 Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, wollte die an extreme Bedingungen angepasste Fauna untersuchen – »Inseln chemosynthetischen Lebens der Tiefsee, deren Ökosystem bisher kaum verstanden ist«, wie sie sagt. Vielleicht sind an diesen Quellen in der Erdfrühgeschichte die ersten organischen Substanzen entstanden. Vor Ort ließ die Crew einen Tiefseekameraschlitten zum Meeresboden hinab. Vera Schlindwein, die wieder Teil der Expedition war, ist heute immer noch beeindruckt von den damaligen Aufnahmen: »Zahlreiche tiefe Spalten waren zu sehen, in denen vermutlich warmes Wasser hochströmte. Und am letzten Tag der Expedition konnten wir zum ersten Mal einen aktiven Schwarzen Raucher filmen.«

Eine besondere Kuriosität findet sich am östlichen Ende des Gakkelrückens. Hier ist das Rift mit einer bis zu drei Kilometer mächtigen Sedimentschicht bedeckt. Und dennoch tut sich ein von Vulkankegeln umgebenes riesiges Loch auf, das Gakkeltief: 5310 Meter bis zum Meeresboden. Das Gebiet wurde 2008 vermessen und kartiert. Die Bodenproben konnten erst zehn Jahre später datiert werden, weil es zuvor für die relativ jungen Basalte keine entsprechende Technik gab. John O’Connor von der Universität Amsterdam, die jetzt über die passende Apparatur verfügt, hat für das Gestein am Gakkeltief ein Alter von etwa drei Millionen Jahren ermittelt. Die Basalte aus dem westlichen Teil sind zwischen sieben und drei Millionen Jahre alt. Mit diesen Datierungen war erwiesen, dass sich der Gakkelrücken tatsächlich nur zwischen 6 und 14 Millimeter pro Jahr aufspreizt.

Basalt | bezeugt einstige vulkanische Ausbrüche am jeweiligen Ort. Eric Hellebrand (links) und Expeditionsleiter Wilfried Jokat begutachteten 2001 einen Schurf vom Meeresboden.

»Wir wollen klären, warum und wie die hydrothermale Zirkulation funktioniert. An einem sich extrem langsam spreizenden Rücken hat man ihr Vorkommen für unmöglich gehalten«, sagt Vera Schlindwein. »Das sind Orte, an denen der größte Austausch von Energie und Materie zwischen dem Ozean und der Lithosphäre stattfindet. Es kommt darauf an zu erkennen: Wie tief sind die Bruchzonen? Wo sind die Wärmequellen? Kann das Wasser bis in den oberen Erdmantel vordringen und dessen Minerale lösen? Wie entsteht neuer Meeresboden, letztlich Erdkruste, auf der alles Leben existiert?«

Vermessungen geben neue Rätsel auf

Für diese Dynamik braucht es, was Geowissenschaftler Wegsamkeiten nennen. Damit bezeichnen sie die Gänge im Gestein; im Prinzip sind es die Bruchzonen, in denen die hydrothermalen Flüssigkeiten hoch- und niederzirkulieren. Sie sind seismisch aktiv, lösen also kleine Erdbeben aus, die es zu lokalisieren gilt, um die Wege sichtbar zu machen. Deshalb setzte bereits das Team der AMORE-Expedition 2001 zu Testzwecken Seismometer auf driftenden Eisschollen aus. Sie registrierten Knallgeräusche, die sich wie Schüsse anhören. Seit 2014 hat Vera Schlindwein mit ihrem Team den Einsatz von Ozeanbodenseismometern vorangetrieben. Sie werden am Meeresgrund verankert und können Beben genau aufzeichnen.

Bei der neuesten Expedition im August 2023 grenzte die Crew der »Polarstern« mit Hilfe dieser Technik im »Lena-Trog« – einer weiteren ultralangsamen Spreizungszone, die an den Gakkelrücken angrenzt – das voraussichtliche Gebiet eines Schwarzen Rauchers ein. Wenige Tage später wurden die norwegischen Kollegen auf dem Forschungsschiff »Lena« an einem als »Lucky B« bekannten unterseeischen Rücken fündig. Mit einem großen, leistungsstarken ferngesteuerten Gerät (Remotely Operated Vehicle, ROV), das sonst für industrielle Zwecke eingesetzt wird, ergriffen sie eine große Steinlast und klassifizierten den Fund an Bord. Das Highlight für die Fachleute: Sie fanden dort Pyrit (Schwefelkies, FeS2), einen deutlichen Hinweis auf stark schwefelhaltige Quellen, die über lange Zeiträume Lagerstätten des Minerals bilden.

Ab in die Tiefsee | Die Crew des Forschungseisbrechers »Polarstern« lässt 2023 den Tauchroboter NUI (Nereid Under Ice Vehicle) zu Wasser. Er wird Bilder vom arktischen Meeresboden liefern.

Das Netz von Seismometern war schon ein Jahr zuvor verankert worden, um möglichst viele Erdbeben aufzuzeichnen. Es bedurfte einiger Geduld und Mühe, die Ozeanbodenseismometer unter der fast komplett mit Eis bedeckten Arktischen See wieder unbeschadet an die Oberfläche zu bringen. Die Daten von drei Feldern mit Schwarzen Rauchern zeigen, dass diese Areale unterschiedlich aufgebaut sind: Während der Schlot von Lokis Schloss am Knipovichrücken direkt auf der Vulkankette qualmt, so befindet sich der Auftriebsherd im Jøtul-Hydrothermalfeld nahe Spitzbergen seitlich, und der Raucher sitzt auf einer geologischen Störung, also einem Riss. Das Aurorafeld wiederum liegt auf einem basaltischen Hügel, die eigentliche Rückenachse dagegen vermutlich außerhalb. »Wir haben nun einen umfangreichen Datensatz und hoffen, durch die Auswertung auch die Wärmequellen zu finden, die jene Zirkulation antreiben«, erklärt Vera Schlindwein.

Wegsamkeiten | Mit Ozeanbodenseismometern und weiteren Messinstrumenten erforschen Fachleute des AWI die Aktivität Schwarzer Raucher im Aurorafeld im Arktischen Ozean. Ziel ist es, die Vorgänge am Meeresgrund besser zu verstehen.

Was bedeutet das alles? Die Proben vom Meeresboden bezeugen einerseits, dass bei sich langsam spreizenden Rücken dieselben Mechanismen aktiv sind wie bei schneller arbeitenden Rückensystemen. Andererseits unterscheiden sich die Stoffflüsse stark zwischen den Systemtypen. Das war völlig neu. Offenbar entscheidet nicht allein die Spreizungsgeschwindigkeit über das Maß vulkanischer Aktivität, sondern auch die chemische Zusammensetzung und die Temperatur der Gesteine im oberen Erdmantel.

Tektonische Plattenverschiebungen ohne Erdbeben

An solchen Spaltzonen wie dem Gakkelrücken, die sich nur sehr gemächlich auftun, dringt das Wasser an geologischen Störungen einige Kilometer tief bis in Gesteine des oberen Erdmantels ein. Dabei bildet sich ein serpentinhaltiges Gestein, das wie Schmierseife wirkt. Dadurch verschieben sich die tektonischen Platten, ohne zu ruckeln – während derselbe Vorgang in anderen Regionen starke Erdbeben auslöst. Dennoch gibt es auch bei geringen Spreizungsraten ein »Förderband«, auf dem Magma aus größeren Tiefen aufsteigt, die entstehenden Lücken füllt und neuen Ozeanboden bildet. Das verursacht ebenfalls – meist kleinere – Erdbeben, die mit hochempfindlichen Ozeanbodenseismometern registriert werden können. Aber dieses Förderband setzt manchmal aus, weil temperaturbedingt nicht genug Schmelze nach oben gelangt.

»Doch wir konnten nachweisen, dass an ultralangsamen Spreizungsrücken durch die Zirkulation des Wassers bis zum oberen Teil des Erdmantels Wärme und zum Beispiel Methan in Dimensionen freigesetzt wird, die wir an den verhältnismäßig kalten Rücken nicht erwartet hatten«, erzählt Vera Schlindwein.

Zentimetergenau | Der Greifer des Roboters entnimmt Fluidproben aus heißen Quellen.

Auch die ozeanische Kruste, welche die Kontinentalplatten von Nordamerika und Eurasien auseinandertreibt, gibt es zwar am Gakkelrücken, sie entspricht aber nicht den bisherigen Vorstellungen. In den magmatischen Regionen des östlichen Teils ist sie zwischen fünf und sechs Kilometer dick, im nicht magmatischen, zentralen Segment hingegen misst sie weniger als drei Kilometer. Die Fachwelt ging bisher von einer gleichmäßigen, ungefähr sieben Kilometer dicken Erdkruste aus.

»Die Aurorafeld-Expeditionen zeigen, dass sich nicht allzu weit vom Nordpol entfernt ein chemischer Hexenkessel befindet, von dessen Existenz wir bisher keine Ahnung hatten«, resümiert Wilfried Jokat. »Seltsam ist dabei, dass in bestimmten Zentren verstärkt Magma aus dem Boden quillt, während in anderen Gebieten die Meeresnymphen schlafen. Die globalen Modelle über den Mechanismus mittelozeanischer Rücken lassen sich nicht so einfach auf sich ultralangsam spreizende Rücken anwenden.«

Längst sind noch nicht alle Abläufe verstanden, die unseren Planeten prägen. Der mit dieser Grundlagenforschung verbundene Aufwand ist unabdingbar, um zu erkennen, wie die auf den ersten Blick so starr erscheinende Hülle der Erde aufgebaut ist und wie sie sich verändert.

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